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TEILDOKUMENT:


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Hans-Jochen Brauns
Modernisierungsbedarf im Spannungsfeld von Staat und Freier Wohlfahrtspflege


1. Vorbemerkungen

Bevor ich zum eigentlichen Thema komme, erlaube ich mir vier kurze Vorbemerkungen, um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen.

Erstens: Trotz meiner akademischen Titel spreche ich hier nicht als Wissenschaftler, sondern aus der Erfahrung als Geschäftsführer eines Wohlfahrtsverbandes. Ich berichte über Schlußfolgerungen aus meiner praktischen Erfahrung und Beobachtung; erwarten Sie also keine wissenschaftliche Analyse von mir.

Zweitens: Ich spreche hier für mich, vertrete also nicht die Verbandsmeinung - weder des Landesverbandes Berlin, noch des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes insgesamt. Das erlaubt mir auch einige Freiheiten, die ich als Vertreter des Verbandes nicht hätte.

Drittens: Damit Sie meine überwiegend kritischen Bemerkungen richtig einordnen: Das Thema der Veranstaltung bezieht sich auf Modernisierungsbedarf allgemein. In meinem Referat beschränke ich mich auf den Modernisierungsbedarf im Verhältnis Staat/Wohlfahrtsverbände. Das zwingt aus meiner Sicht zu einigen grundsätzlichen und auch kritischen Bemerkungen gegenüber den Wohlfahrtsverbänden. Ganz allgemein: Sie müßten offensiver und eher vorwärtsgewandt mit einigen Problemen umgehen, mit denen sie zu tun haben. Ich lege aber Wert auf die Feststellung, daß ich, ähnlich wie Rudolf Scharping das eben auch ausgeführt hat, Wohlfahrtsverbände jetzt und auch in Zukunft für notwendig halte.

Viertens: Ich beschränke mich auf den Modernisierungsbedarf der Wohlfahrtsverbände und des Staates in ihrem Verhältnis zueinander. Ich rede also z.B. nicht über Modernisierungsbedarf, der sich ausschließlich im Bereich der Wohlfahrtsverbände darstellt. Ich gehe davon aus, daß das heute in anderem Zusammenhang angesprochen wird.

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2. Vorgehen

Ich mache einleitend einige kurze Bemerkungen zur Größe der Wohlfahrtsverbände und zu ihren Rollen, mache dann Anmerkungen zu einigen gesellschaftlichen Entwicklungen, Trends und dem damit verbundenen Funktionswandel in der Sozialpolitik, um mich dann intensiver mit dem Modernisierungsbedarf zu beschäftigen - und zwar am Beispiel Subsidiaritätsprinzip. Planungsverantwortung, Finanzierungsinstrumente und Rechtsstrukturen.

Es macht mir Spaß, dies kurz und knapp zu machen. Die Darstellung wird dadurch etwas holzschnittartiger; das reizt hoffentlich zu Diskussionen.

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3. Zur Größe der Wohlfahrtsverbände

Ich wiederhole einiges, was Rudolf Scharping eben schon gesagt hat: Nach dem Jahresbericht der Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtspflege beschäftigten Wohlfahrtsverbände im Jahre 1993 in mehr als 60.000 selbständigen Unternehmen und Betrieben fast 1,2 Mio. vollbeschäftigte Mitarbeiter/-innen mit einer Lohnsumme von 47 Mrd. DM. Addiert man die Sachkosten dazu, kommt man auf einen Gesamtumsatz von ca. 60 Mrd. DM im Jahre 1993. Trotz der viel diskutierten Streichungen und Kürzungen im Sozialbereich dürfte die Summe bis heute gestiegen sein. Nicht enthalten in diesen Zahlen sind Investitionen, die in nicht unerheblichem Umfange auch im Wohlfahrtsbereich getätigt werden. Insgesamt dürften damit die Wohlfahrtsverbände mit ihren Dienstleistungen irgendwo zwischen 6% und 8% des Sozialbudgets erwirtschaften, das im Jahre 1993 insgesamt etwa 1.000 Mrd. DM betrug.

In vielen Bereichen sind Wohlfahrtsverbände gewichtige Anbieter von Dienstleistungen. Nach den Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege sind Wohlfahrtsverbände Träger von ca. der Hälfte aller Seniorenheime in der Bundesrepublik; 80% der Behindertenheime, fast 70% der Jugendhilfeeinrichtungen und 40% der allgemeinen Krankenhäuser werden von Wohlfahrtsverbänden getragen. Das heißt, Wohlfahrtsverbände sind unverzichtbar. Wesentliche soziale, gesundheit-

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liehe Dienstleistungen werden von freien Trägern und Wohlfahrtsverbänden angeboten.

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4. Zur Rolle von Wohlfahrtsverbänden

Wohlfahrtsverbände spielen verschiedene, und - darauf lege ich Wert - teilweise sich widersprechende Rollen innerhalb der Sozial-, Jugend- und Gesundheitspolitik.

Zunächst, und das ist ihre wichtige und auch traditionelle Funktion, sind sie Anwalt für diejenigen Bevölkerungsgruppen und Personen, die ihre Interessen und Belange nicht angemessen vertreten können und die von sozialen und/oder gesundheitlichen Risiken und Problemen betroffen sind. In deren Interesse bemühen sie sich, Gesellschaft, Öffentlichkeit, Politik auf soziale Probleme aufmerksam zu machen und auf Abhilfe zu dringen. Sie wirken auf die Gesetzgebung ein und organisieren Unterstützung in unterschiedlichster Art und Weise.

Teilweise im Widerspruch zu dieser Funktion, aber teilweise auch in Übereinstimmung damit sind Wohlfahrtsverbände Träger sozialer Dienste und Einrichtungen. Einige Größenordnungen habe ich eben benannt. Sie handeln hier in eigenem Auftrag, sie handeln aber auch aufgrund gesetzlicher Leistungsansprüche von Betroffenen, und teilweise sind ihnen diese Aufgaben auch staatlicherseits übertragen.

Wohlfahrtsverbände, insbesondere in ihrer Funktion als Spitzenverbände, haben Ordnungsfunktionen. Sie bündeln und koordinieren divergierende Interessen. Sie haben gegenüber Trägern und Diensten teilweise Aufsichtsfunktionen; so wirken sie an staatlichen Aufgaben wie der Heimaufsicht oder der Anerkennung von freien Trägern in der Jugendhilfe mit. Im Zusammenhang mit neueren Entwicklungen, wie z.B. durch das Pflegeversicherungsgesetz, werden sie in die Gewährleistung und Sicherung der Qualität mit eingebunden.

Ein sehr wesentlicher weiterer Aspekt ist die Demokratiefunktion; Wohlfahrtsverbände spielen gerade in der Organisation ehrenamtlichen, bürgerschaftlichen Engagements eine gewichtige Rolle. In ihnen engagieren sich Betroffene und sozialpolitisch interessierte Personen; sie motivieren Bür-

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gerinnen und Bürger, sich für soziale Fragen zu interessieren und konkrete Hilfe anzubieten. Nach einer, zugegebenermaßen unzuverlässigen, Schätzung der Wohlfahrtsverbände sind ca. 1,5 Mio. ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei ihnen tätig.

Zwei weitere Funktionen reiße ich zum Schluß nur kurz an - ich habe sie schon erwähnt: Wohlfahrtsverbände sind einer der größten Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland, allerdings sind sie sich dieser Rolle sehr häufig nicht bewußt. Das gleiche betrifft ihre ökonomische Bedeutung: Sowohl als Unternehmen wie auch als Investoren spielen sie volkswirtschaftlich eine bedeutsame Rolle. Auch dies wird von den Wohlfahrtsverbänden, von der Öffentlichkeit und auch von anderen Partnern nicht ausreichend wahrgenommen und gewürdigt. Ich komme nachher noch einmal in anderem Zusammenhang auf diese Funktionen zurück.

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5. Zur gesellschaftlichen Entwicklung und zum Funktionswandel in der Sozialpolitik

Auf dem Hintergrund von gesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegszeit haben sich Funktionen in der Sozialpolitik zunächst allmählich und in den letzten Jahren rapide verändert. Rudolf Scharping hat auf die Säkularisierungstendenzen, die Lockerung von traditionellen Bindungen, die auch für die Wohlfahrtsverbände Bedeutung haben, hingewiesen. Ich will das hier nicht vertiefen, ich möchte drei andere Punkte kurz ansprechen.

  1. Das kontinuierliche wirtschaftliche Wachstum und der daraus folgende Wohlstand haben in Verbindung mit einer immer komplexer werdenden Gesellschaft zu einer Differenzierung der Bedürfnisse geführt, dem auch Wohlfahrtsverbände und soziale Dienste Rechnung tragen müssen.

    Beispiel Altenhilfe: Wir bieten immer noch zu viele Dienstleistungen an, die sich an der älteren Generation und ihren Bedürfnissen nach existentieller Absicherung, Versorgung, Betreuung orientieren und merken nicht, daß die junge ältere Generation ganz andere Bedürfnisse hat und differenzierte Leistungen haben will. Wir kommen dem nicht nach.

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    Es ließen sich andere Beispiele, z.B. aus der Jugendhilfe, finden. Wohlfahrtsverbände als wichtige Dienstleister müssen sich selbst mit diesen Entwicklungen beschäftigen und dürfen das nicht anderen überlassen, damit sie in ihrer Unternehmensphilosophie und in ihrer Tätigkeit diese Entwicklungen auch begreifen.

  2. Neue gesellschaftliche Entwicklungen und Probleme erfordern andere gesellschaftspolitische Strategien. Der Sozialpolitik wie auch den Trägern sozialer Dienste und Einrichtungen muß bewußt sein, daß Probleme von heute nicht mit Strategien von gestern zu bekämpfen sind. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die ganze Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. ABM (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) und andere Maßnahmen im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes waren sinnvolle Strategien bei einer Arbeitslosigkeit auf vergleichsweise geringem Niveau. Das Arbeitsförderungsgesetz mit seinen Instrumenten ist aber völlig ungeeignet, um Massenarbeitslosigkeit, wie sie beispielsweise in den neuen Bundesländern vorherrscht, zu begegnen. Wir verwenden aber aus Hilflosigkeit und weil uns nichts Neues eingefallen ist, diese Strategien, obwohl wir sehr häufig wissen, daß sie nicht passen.

  3. Das Kostenübel personenbezogener Dienste, wie ich das bezeichnen will, erzeugt Kostendruck. In sozialen personenbezogenen Diensten schlagen Personalkosten unmittelbar durch; dagegen werden in der Industrie und anderen wirtschaftlichen Bereichen Personalkostensteigerungen zumindest teilweise durch Produktivitätssteigerungen aufgefangen. Das geschieht im Bereich sozialer Dienstleistungen bisher kaum, so daß Tarifsteigerungen sich direkt in den Kosten niederschlagen. Hier liegt ein Feld, dem Staat, Wohlfahrtsverbände, Wissenschaft stärkere Aufmerksamkeit widmen sollten. Insbesondere sollten Organisationsstrukturen und deren produktivitätssteigernde oder -dämpfende Aspekte kritisch überprüft werden.

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6. Zum Modernisierungsbedarf im Verhältnis zwischen Staat und Wohlfahrtspflege

6.1 Subsidiaritätsprinzip

Ihnen ist das Subsidiaritätsprinzip geläufig - Sie können es im Zweifel vorwärts und rückwärts deklinieren: also Vorrang vor staatlichen Trä-

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gern, partnerschaftliches Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und, wenn auch nicht konkret ausformuliert, Förderungspflicht des Staates gegenüber freien Trägern und Wohlfahrtsverbänden. Dieses bisher weitgehend unangefochtene Prinzip prägt bis heute das Verhältnis zwischen Staat und Freien Wohlfahrtsverbänden.

Die konkrete Ausformung führt allerdings, und ich gebrauche hier einen Begriff aus der Therapie, zu einem symbiotischen Verhältnis zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden. Man ist voneinander abhängig, man fühlt sich voneinander abhängig, man klammert aneinander, und man entwickelt nicht seine eigenen Prioritäten und Strategien. Darin liegt meines Erachtens ein zentrales Problem, das die bisherige Praxis des Subsidiaritätsprinzips bewahrt und stärkt.

Konkret: Wohlfahrtsverbände sind aufgrund dieser engen Wechselbeziehung in dem symbiotischen Verhältnis viel zu staatsorientiert. Sie übernehmen staatliche Denkmuster, Strukturen und Orientierungen. Sie denken und handeln wie staatliche Instanzen, sind und fühlen sich teilweise wie ausgelagerte Teile des Staates, obwohl in öffentlichen Reden wir immer Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und dergleichen hochhalten. Wir haben öffentlich-rechtliche Mentalitäten entwickelt, wir kungeln mit staatlichen Vertretern in Hinterstuben, scheuen manchmal das Licht der Öffentlichkeit und begründen und rechtfertigen das mit dem Subsidiaritätsprinzip. Die Praxis des Subsidiaritätsprinzips führt zu Intransparenzen und unklaren Verantwortungsstrukturen und wenn's dann irgendwann schief geht, versucht man sich wechselseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben - aufgrund der unklaren Verhältnisse ist das auch möglich.

Wir müssen uns darauf besinnen, und das sage ich primär in Richtung freier Wohlfahrtspflege, was die tragenden Gründe, die Rechtfertigung für das Subsidiaritätsprinzip waren und auch heute sein sollten: Das Subsidiaritätsprinzip hat solange seinen Sinn, als ihm soziales bürgerschaftliches Engagement, freiwillige Leistung in Gestalt ehrenamtlicher Tätigkeit oder von Spenden entsprechen. Auch dort, wo freie Wohlfahrtspflege zur Betreuung, Versorgung, Unterstützung sozial schwacher Bevölkerungsteile experimentell Leistungen entwickelt, aufbaut, anbietet, ist Subsidiarität am Platze. Subsidiarität hat keine Rechtfertigung mehr, wo es sich um ausfinanzierte, gesetzlich abgesicherte Dienste und Leistungen handelt, also dort, wo kaum Differenzen bestehen zu gewerblichen Anbietern.

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Meines Erachtens muß eine Rückbesinnung auf tragende Grundlagen des Subsidiaritätsprinzipes erfolgen; es muß neu definiert werden. Um keine Mißverständnisse entstehen zu lassen: Ich rede nicht der Streichung von § 10 (2) Bundessozialhilfegesetz (BSHG) im Rahmen der BSHG-Novelle das Wort, weil das aus taktisch durchsichtigen Überlegungen heraus angedacht ist. Das für mich notwendige Durchdenken des Subsidiaritätsprinzips war hierfür nicht Grundlage und Voraussetzung.

6.2 Zur Planungsverantwortung von Staat und Freien Wohlfahrtsverbänden

Üblich ist, daß - das Pflegeversicherungsgesetz mit seinen Ausführungsgesetzen der Länder ist ein gutes Beispiel dafür - "Vater Staat" plant; Wohlfahrtsverbände übernehmen dann die Ausführungsverantwortung. Das war vielleicht verständlich, gerechtfertigt und erträglich zu Zeiten, als soziale Dienstleistungen durch Wohlfahrtsverbände eher marginale Bedeutung hatten, die Wohlfahrtsverbände nicht in dem Umfange Verantwortung für Adressaten ihrer Leistungen, für ihre Leistungen selbst und auch für ihre Mitarbeiter getragen haben, wie sie es heute tun. Es ist für mich ein Widerspruch und undenkbar, daß ein Unternehmen „Freie Wohlfahrtspflege", das in der wirtschaftlichen Größenordnung etwa einem Unternehmen wie Daimler Benz entspricht, sich den „Luxus leistet", ohne eigene Planungs- und Entwicklungskapazitäten in die Zukunft zu arbeiten und voll darauf vertraut, daß andere für die Wohlfahrtspflege richtig planen und entwickeln. Das ähnelt einem Blindflug im Nebel, wo zwar Piloten in der Kanzel sitzen und sich einreden, sie wüßten, wohin sie fliegen, während sie aber tatsächlich nicht wissen, ob und wo sie landen.

Ich halte das für unverantwortlich. Diese Situation erfordert ein Umdenken sowohl auf seiten des Staates, was die Beteiligung an Planung angeht. Es erfordert selbstbewußtes Umstrukturieren innerhalb der Freien Wohlfahrtspflege. Ich weiß um die Schwierigkeiten, Kapazitäten für Planung und Entwicklung zu schaffen und freizusetzen. Aber ich habe bisher - das sage ich auch selbstkritisch - noch nicht intensive Bemühungen bemerkt, etwas in dieser Richtung zu tun.

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In dem Zusammenhang mache ich eine Bemerkung, die sich primär an die staatlichen Wissenschaftsverwaltungen, aber dann auch an die Hochschulen wendet. Ich finde es einen Widerspruch, daß profitbezogenes Wirtschaften praktisch an jeder Hochschule der Bundesrepublik Deutschland intensiv „beforscht" wird und daß Mitarbeiter für Tätigkeiten in diesem Bereich ausgebildet werden. Meines Wissens gibt es keine Hochschule in der Bundesrepublik Deutschland, die institutionell abgesichert im vergleichbaren Umfange Non-profit-Organisationen Aufmerksamkeit widmet. Angesichts der volkswirtschaftlichen Bedeutung von Non-profit-Organisationen ist das inakzeptabel, und - das sage ich in Richtung Kollegen Olk - ich finde es bedauerlich, daß die ostdeutschen Hochschulen nicht die Chance genutzt haben, hier etwas Neues an die Stelle zu setzen, was in Westdeutschland angesichts festgefügter Strukturen nur schwer möglich ist.

6.3 Finanzierungsinstrumente

Stationär erbrachte Dienstleistungen von Wohlfahrtsverbänden werden in der Regel über Entgelte oder Pflegesätze finanziert. Durch Gesetzesänderungen ist das Selbstkostendeckungsprinzip im Krankenhausbereich und auch im BSHG-Bereich ersetzt worden durch Entgelte und Preise. Ich finde dies trotz des Gejammers vieler Wohlfahrtsverbände gut. Es war längst überfällig, weil vor allem auch das Selbstkostendeckungsprinzip - ich sag's sehr vorsichtig - unwirtschaftliches Verhalten nicht immer negativ sanktionierte; im Gegenteil: Es bestrafte wirtschaftlich arbeitende Organisationen eher. Allerdings, das räume ich auch ein, ist das Verhandeln von Preisen und Entgelten mit kameralistisch denkenden Beamten nicht immer einfach. Ich empfinde es überdies als Treppenwitz der Geschichte, daß ein Bundesministerium von Beamten Buchführungsverordnungen erarbeiten läßt. Beamte sind nicht gerade prädestiniert, die Grundzüge der Buchführung und des Rechnungswesens in Betrieben zu organisieren.

Mir sind aus dem Wirtschaftsbereich derartige Tendenzen unbekannt: Ich kenne keine Buchführungsverordnung für die Daimler-Benz Aerospace AG (Dasa) oder andere subventionierte Unternehmen.

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Ambulante und manchmal auch teilstationäre soziale Dienstleistungen sowie Investitionen werden im Gegensatz zum stationären Bereich bis heute überwiegend durch Zuwendungen finanziert. Inzwischen dürfte etwa ein Viertel der von den Wohlfahrtsverbänden erbrachten Leistungen auf diesem Finanzierungsinstrument beruhen. Ich halte Zuwendungen zur Finanzierung von Daueraufgaben für denkbar ungeeignet. Sie verleihen keine Planungssicherheit gerade bei Daueraufgaben, die Wohlfahrtsverbände häufig übernehmen. Sie zwingen Wohlfahrtsverbände zum Schummeln. Ich sage das ganz ausdrücklich und auch öffentlich - ich unterschreibe jährlich etwa 30 Zuwendungsbescheide und versichere bei Projekten, die schon seit Jahrzehnten innerhalb unseres Verbandes laufen, daß das Projekt bis zur Zustellung des Zuwendungsbescheides nicht begonnen worden ist. Ich verpflichte mich, die allgemeinen und besonderen Nebenbestimmungen des Zuwendungsrechts zu beachten, die ich gar nicht kenne, auch nicht kennen will, weil ich dann nämlich einen großen Apparat aufbauen müßte, um das zu kontrollieren, was ich gegenüber dem Zuwendungsgeber versichere - doch der finanziert mir dies natürlich nicht. Deshalb hoffe und bete ich, daß alles gut geht.

Doch all dies ist ganz eindeutig eine Risikoverlagerung des Staates auf die Freien Wohlfahrtsverbände, die sie trotz der Möglichkeit, auch mal kategorisch nein zu sagen, über Jahrzehnte zugelassen haben. Genauso haben sie zugelassen, daß jedes „Räuspern" von Rechnungshöfen sofort in ergänzende Bestimmungen in die Zuwendungsregelungen übernommen worden ist. Das Netz der Zuwendungsregelungen ist immer filigraner geworden.

Ich vermisse von seiten der Wohlfahrtsverbände genauso wie von staatlicher Seite die Bereitschaft, über neue Finanzierungsinstrumente zur Absicherung von Dauerleistungen, zum Beispiel über Leistungsverträge, zu diskutieren. Ich vermisse in dem Zusammenhang auch die Bereitschaft und den Druck, dieses filigrane Netz von Zuwendungsbestimmungen auf die tatsächlich notwendigen Regelungen zu beschränken.

Um kein Mißverständnis entstehen zu lassen: Ich halte es politisch und rechtlich für notwendig, daß der Zuwendungsgeber und die Rechnungshöfe die Verwendung der Mittel kontrollieren. Aber das, was an Kontrolle gegenwärtig über die Verwendungsnachweise läuft, ist ein ungeheurer administrativer Aufwand, der in keiner Weise eine effektive Kontrolle der Mittelverwendung zuläßt.

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Ein weiteres problematisches Ergebnis des Zuwendungsrechts beruht auf dem sogenannten Besserstellungsverbot. Dieses Besserstellungsverbot und seine konkrete administrative Umsetzung zwingen uns Wohlfahrtsverbände zu einer Angleichung an Arbeitsverhältnisse und Organisationsstrukturen des öffentlichen Dienstes. So nimmt es dann auch nicht Wunder, daß Wohlfahrtsverbände sich nicht nur ähnlich organisieren, sondern sich häufig auch ähnlich bürokratisch und unbeweglich verhalten wie der öffentliche Dienst. Statt Bundes-Angestellten-Tarifvertrag (BAT) über die Arbeitsrichtlinien in Mitgliedsorganisationen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (AVR) zu übernehmen, sollten wir die Arbeitsverhältnisse unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst gestalten; wir sollten sie durch eigenständige Tarifverträge regeln statt nur BAT abkupfern. Der BAT ist auf einen Arbeitgeber mit schier unerschöpflichen Finanzierungsquellen zugeschnitten - die Freie Wohlfahrtspflege verfügt nicht über solche Quellen.

6.4 Rechts- und Organisationsstrukturen

Meines Erachtens ist eine Modernisierung auch im Bereich der Rechtsstrukturen erforderlich. Damit meine ich teilweise gesetzliche Regelungen, aber auch teilweise innerverbandliches Recht, z.B. Satzungsregelungen. Wohlfahrtsverbände sind in der Regel Vereine, sind als gemeinnützig anerkannt und arbeiten mit ehrenamtlichen Vorständen. Das mag in der Vergangenheit, als Organisation und Bündelung ehrenamtlichen oder bürgerschaftlichen Engagements im Vordergrund stand, richtig gewesen sein. Für diese Bereiche sind diese Rechts- und Organisationsstrukturen auch in Zukunft meines Erachtens weiterhin richtig. Aber ich halte es für fahrlässig und falsch, große Betriebe mit teilweise dreistelligen Millionenumsätzen in Vereinsform zu organisieren und von einem in der Regel überforderten ehrenamtlichen Vorstand führen zu lassen. Die Führung solcher Betriebe erfordert ein so hohes Maß an Professionalität, daß nicht monatlich tagende Ehrenamtler das bewältigen können. Entgegen der formalen Struktur haben die Professionellen eigentlich das Sagen. Dies führt dann zu instabilen Strukturen, weil rein rechtlich die Verantwortung beim ehrenamtlichen Vorstand liegt. Die Wohlfahrtspflege muß intensiv über

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Rechts- und Organisationsstrukturen nachdenken, die der finanziellen, der personellen und der Dienstleistungsverantwortung entsprechen.

Überdacht werden muß auch die Gemeinnützigkeit bei vielen Aktivitäten der Wohlfahrtsverbände. Wohlfahrtsverbände müssen kritisch das hinterfragen, was sich im Gemeinnützigkeitsrecht sowohl auf der Gesetzgebungsebene wie auch in der konkreten Praxis der Finanzämter an detaillierten Regelungen entwickelt hat. Ich halte es angesichts der beschriebenen Verantwortung, die wir für Dienstleistungen und Mitarbeiter tragen, nicht für hinnehmbar, daß Finanzämter mir vorschreiben, ob ich Überschüsse erwirtschaften darf und wieviel Überschüsse ich auch ansammeln kann.

Letztlich führen Zuwendungsrecht - mit der Schwierigkeit, überhaupt Rücklagen zu bilden - und Gemeinnützigkeit zu einer Situation, in der Verbände nicht hinreichend absehbare Risiken und zukünftige Investitionen absichern können. Ich habe es als ärgerlich und eigentlich unmöglich angesehen, daß ein Betrieb „Freie Wohlfahrtspflege" im Zuge der Wiedervereinigung nicht über hinreichende eigene Ressourcen verfügte, um selbständig Strukturen aufzubauen. Vielmehr war er darauf angewiesen, von staatlicher Seite die Mittel einzufordern und durchzusetzen, um in den neuen Bundesländern eigene Strukturen aufzubauen. Das widerspricht meines Erachtens einem wohlverstandenen Subsidiaritätsprinzip ebenso wie dem Erfordernis, selbständig arbeiten und handeln zu können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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