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Ulrich Wiegand
Statement zur Gesprächsrunde: Modernisierungsbedarf und Innovationsfähigkeit des dualen Systems der beruflichen Bildung - Das duale System der Berufsausbildung - zwischen Bestandspflege und Modernisierungsbedarf


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1. Einleitung

Über die Stärken und Schwächen des dualen Systems der Berufsausbildung ist in den letzten Jahren vieles geschrieben und noch mehr gesagt worden. Häufig wurde wenig sachlich, so manches Mal gezielt Wahrheit und Tatsachen außer acht lassend und durchaus nicht immer von der notwendigen fachlichen Kompetenz getragen, berichtet. Daß es nach wie vor zu einem der wichtigsten Standortfaktoren Deutschlands gehört, darauf konnte man sich zumeist noch einigen. Im übrigen gehört es aber zum guten Ton vieler Propheten, im eigenen Lande weiter an den bereits seit Jahren bekannten Untergangsszenarien zu arbeiten. Weitergeholfen haben solche Visionen der besonderen Art selten. Echte Systemalternativen sind derzeit nicht erkennbar.

Die Stärken des dualen Systems der Berufsausbildung in Betrieb und Berufsschule liegen auf der Hand:

  1. Garantie eines nationalen Mindeststandards durch bundesweit gültige Ausbildungsordnungen;

  2. Lebens- und Praxisnähe durch Lernen am Arbeitsplatz an modernen Anlagen und Maschinen, d.h. unmittelbare Berufsfähigkeit und Basis für lebenslanges Lernen;

  3. überregionale berufliche Mobilität durch anerkannte Ausbildungsberufe;

  4. hohe Transparenz über die Qualifikationen;

  5. hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Berufsabschlüsse;

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  1. geringe Jugendarbeitslosigkeit, insbesondere im Vergleich zu anderen europäischen Staaten;

  2. hohes Maß an Selbstverantwortung, d.h. insbesondere einzelbetriebliche Finanzierung durch die Wirtschaft;

  3. relativ friktionsloser Übergang vom Ausbildungs- ins Beschäftigungssystem;

  4. die paritätische Beteiligung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern (Konsensprinzip, sozialer Dialog).

Als Schwächen des dualen Systems werden häufig genannt:

  • fehlende Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung,
  • in Teilbereichen mangelnde Transparenz,
  • zum Teil langwierige Abstimmung neuer Ordnungsmittel,
  • zu lange Ausbildungsdauer.

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2. Derzeitige Entwicklungen

Aktuell wirft man dem dualen System der Berufsausbildung insbesondere vor, es sei nicht in der Lage, auf die Entwicklungen des Ausbildungsstellenmarktes zu reagieren.

Hierzu ist zunächst grundsätzlich festzuhalten: Die Jahre seit 1992 waren gekennzeichnet von der schärfsten Rezession der Nachkriegszeit. Der Tiefpunkt ist überwunden, es geht wieder aufwärts. Um den mit der Rezession einhergehenden Herausforderungen gewachsen zu sein, leiteten viele Betriebe in den alten Bundesländern einen teils drastischen Umstrukturierungsprozeß ein. Auch die Ausbildungskapazitäten wurden zurückgefahren. Dies war schmerzhaft, aber notwendig und sinnvoll. In den neuen Ländern sind - nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft - neue Ausbildungsplatzkapazitäten erst in einem langjährigen Prozeß entstanden. Mit voranschreitendem Wachstum mittelständischer Unternehmen wird das Ausbildungsstellenangebot weiter wachsen.

Wie sieht die tatsächliche Lage aus?

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2.1 Statistik

Im abgelaufenen Jahr wurden insgesamt 572.774 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen, d.h. 0,8% mehr als zum vergleichbaren Vorjahreszeitpunkt. Davon entfielen auf

  • - IHK:

262.787

(+1,6%)

  • - Handwerk:

219.628

(+2,1%)

  • - Freie Berufe:

58.256

(-1,4%)

  • - Öffentlicher Dienst:

14.180

(-23,1%)

  • - Sonstige:

4.969

(+6,5%)

In den alten Bundesländern wurden insgesamt 450.128, in den neuen Bundesländern 122.646 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen.

Fazit:

In den alten Ländern hat die Zahl der Ausbildungsverträge erstmals seit Mitte der achtziger Jahre nicht weiter abgenommen. In den neuen Ländern ist es nach einem eher schwachen Zuwachs im letzten Jahr wieder zu einer kräftigen Aufwärtsentwicklung bei den betrieblichen Verträgen (rund 11%) gekommen. In den alten Bundesländern ist das Vorjahresergebnis wieder erreicht worden, in den neuen Bundesländern wurden knapp 4,1% mehr neue Ausbildungsverträge abgeschlossen.

Bei insgesamt rund 573.000 neuen Ausbildungsverträgen sowie rund 50.000 offenen Stellen (davon 5.000 außerbetriebliche Plätze der Gemeinschaftsinitiative Ost) und rund 25.000 noch nicht vermittelten Bewerbern ist die Ausbildungsplatzbilanz insgesamt ausgeglichen.

Knapp 600.000 Nachfragern standen 623.000 angebotene und verfügbare Ausbildungsplätze gegenüber, d.h., es bestand nach wie vor ein, wenn auch geringer, Stellenüberhang, trotz geburtenstarker Jahrgänge.

2.2 Struktur der Ausbildungsbetriebe

  • In kleinen Betrieben bis zu 49 Beschäftigten werden 50% aller Lehrlinge ausgebildet.

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  • In Mittelbetrieben von 50 bis 99 Beschäftigten: 35%.

  • In Großbetrieben ab 1.000 Beschäftigte: 15%.

2.3 Künftige Entwicklungen

Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen wird bei gleichbleibendem Bildungsverhalten auch in den nächsten Jahren steigen:

  • 1996 werden in Deutschland mindestens 620.000 neue Ausbildungsplatzangebote erforderlich, davon rund 140.000 in den neuen Bundesländern.

  • Es ist davon auszugehen, daß die Nachfrage bis ins Jahr 2006 in jährlichen Schritten von 1 bis 2% auf rund 705.000 Jugendliche anwächst.

  • Erst danach wird sie wieder abnehmen. Im Jahr 2010 wird die Nachfrage bei etwa 640.000 liegen.

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3. Notwendige Aktivitäten

Die Wirtschaft hat angesichts der zu erwartenden Steigerung der Nachfrage nach Lehrstellen sich als Ziel gesetzt, das Angebot an Ausbildungsstellen entscheidend zu verbessern, um auch künftig - wie im abgelaufenen Jahr - den Jugendlichen eine ausreichende Zahl von Lehrstellen anbieten zu können. Hierzu ist es notwendig, daß die Rahmenbedingungen für Ausbildung deutlich verbessert werden,

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Deutsche Industrie- und Handelstag sowie der Zentralverband des Deutschen Handwerks haben deshalb im Januar 1996 ein Bündnis für Ausbildung vorgeschlagen.

Aufgefordert sind neben der Wirtschaft selbst auch Bund, Länder und Gewerkschaften, schnell die notwendigen Schritte einzuleiten.

Was ist notwendig?

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3.1 Wirtschaft

Die Wirtschaft wird

  • die Fortführung der Lehrstellenaktion Plus unterstützen. Kammern und Verbände werden weiterhin bei ihren Mitgliedsbetrieben für Ausbildungsplätze werben;

  • den Einsatz von Lehrstellenwerbern/Ausbildungsberatern/Ausbildungsplatzentwicklern zur Erschließung neuer Ausbildungsplatzkapazitäten verstärken;

  • die Nutzung der Ausbildung im Verbund verstärken, um vermehrt Nichtausbildungsbetriebe ohne Ausbildungsberechtigung einzubeziehen;

  • den mittelfristigen Fachkräftebedarf überprüfen und die offensive Förderung der eigenen Ausbildung der Unternehmen unterstützen;

  • die Ausbildungskosten durch vermehrte Ausbildung am Arbeitsplatz senken;

  • die Eintragungs- und Prüfungsgebühren durch die zuständigen Stellen (Kammern) überprüfen und senken sowie diese für die nächsten Jahre festschreiben;

  • das Bewußtsein vom Nutzen der Ausbildung stärken (Minimierung der Personalbeschaffungskosten, Vermeidung von erhöhten Lohnkosten, Einsparung von Einarbeitungskosten usw.).

3.2 An die Gewerkschaften gerichtet:

  • Abkehr vom politischen Junktim zwischen Ausbildung und Übernahme in Beschäftigung. Das Prinzip, Ausbildung geht vor Übernahme, muß weiterhin Geltung behalten;

  • Schaffung von Ausbildungsberufen für eher praktisch-technisch orientierte Jugendliche unterhalb der Ausbildungsdauer von drei Jahren;

  • Bereitschaft zur weiteren Beschleunigung des Verfahrens zur Erarbeitung neuer Ausbildungsberufe;

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  • Verzicht auf eine gesetzliche Fondslösung oder sonstige Umverteilungsverfahren zur Finanzierung der Berufsausbildung.

3.3 An die Bundesregierung gerichtet:

  • Rasche Umsetzung der Aktion Neue Berufe, damit 1996 und 1997 neue Ausbildungsberufe in zukunftsorientierten Beschäftigungsfeldern inkraftgesetzt werden können;

  • Unterstützung bei der Schaffung von Ausbildungsberufen für eher praktisch-technisch orientierte Jugendliche unterhalb einer Ausbildungsdauer von drei Jahren und Erlaß in Abstimmung mit den Sozialpartnern;

  • Schnelle Inkraftsetzung der Ausbildereignungsverordnung (AEVO) Ausnahmeregelung (in Ausnahmefällen die Zuerkennung der berufs- und arbeitspädagogischen Eignung durch die Kammern auch ohne Prüfung zu ermöglichen, besonders wichtig für neue Betriebe);

  • Begrenzung der Anrechnungspflicht des schulischen Berufsgrundbildungsjahres auf sechs Monate;

  • Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes (§9 Abs. 4): Wegfall der Freistellung vor und nach dem Berufsschulunterricht für über 18jährige Auszubildende;

  • Förderung von Existenzgründungen auch zur Schaffung neuer Ausbildungsplätze (z.B. durch das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz);

  • angemessene Förderung der Maßnahmen zur überbetrieblichen Unterweisung.

3.4 An die Bundesländer gerichtet:

  • Zunahme der Ausbildungskapazitäten im Öffentlichen Dienst, vor allem bei Ländern, Landkreisen, Kommunen sicherstellen;

  • Mobilitätsprogramme für Ausbildungsplatzbewerber schaffen;

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  • die Dauer der betrieblichen Ausbildung erhöhen, deshalb das Zeitbudget nicht vermehren (grundsätzlich maximal 12 Wochenstunden Berufsschulunterricht);

  • bessere Organisation des Berufsschulunterrichtes (Beispiel Niedersachsen: Erstes Ausbildungsjahr zwei Berufsschultage; in der Fachstufe ein Berufsschultag jeweils mit neun Stunden Unterricht);

  • Erhöhung der Stundenzahl im Blockunterricht auf mindestens 30 Stunden pro Woche;

  • Ausbildungsreife der Abgänger aus allgemeinbildenden Schulen verbessern.

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4. Zusätzliche Maßnahmen

Ausbildungsmittel zügig weiterentwickeln. Hierzu gehört:

  1. Die zeitnahe Novellierung bestehender Ausbildungsordnungen (z.B. Versicherungskaufmann). Im vergangenen Jahr konnten sieben modernisierte Ausbildungsordnungen inkraftgesetzt werden. Zum 1. August 1996 werden weitere 15 modernisierte Ausbildungsordnungen hinzukommen. Derzeit wird bei rund 70 bestehenden Berufen an der Modernisierung gearbeitet. Damit werden die Ausbildungsinhalte für ca. 460.000 Auszubildende auf den neuesten Stand gebracht.

  2. Schaffung von Ausbildungsangeboten in neuen zukunftsorientierten Bereichen.

    • Zu nennen sind hier:

    • Umweltschutz,

    • Freizeit, Touristik,

    • Verkehr,

    • Sicherheit,

    • Gesundheit/Pflege,

    • Recycling,

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    • Medien,

    • Datenverarbeitung/Elektro/Information und Kommunikation,

    • Dienstleistungen im weiteren Sinne.

    Derzeit liegen Vorschläge der Wirtschaft für rund 30 neue Ausbildungsberufe vor. Zu nennen sind hier beispielsweise:

    • Kaufmann für EDV-Systemtechnik,

    • Fachmann für Systemgastronomie,

    • Möbelservicetechniker,

    • Fertigungsmonteur,

    • Recyclingfachkraft,

    • Elektroanlagenmonteur,

    • Sicherheitsfachmann,

    • Tagungskaufmann.

    Schließlich sind sich Bund und Sozialpartner darüber einig, daß es einen neuen Ausbildungsberuf im Bereich (ambulante) Pflege geben soll. Hierzu laufen derzeit die Beratungen zwischen den Beteiligten.

  1. Der Abbau von Hemmnissen bei der Neuordnung von Ausbildungsberufen. Nach dem ersten wichtigen Schritt einer gemeinsamen Vereinbarung von Bund und Sozialpartnern zur Verkürzung des Neuordnungsverfahrens (2 Jahre) müssen weitere notwendige Schritte überprüft werden. Hierzu gehört insbesondere der Instanzenweg bei der Neuordnung.

  2. Die Optimierung der Leistungsfähigkeit des dualen Partners Berufsschule. Hierzu haben Wirtschaft und Berufsschulverbände im Oktober dieses Jahres entsprechende Vorschläge vorgelegt. Im Kern zielen sie auf eine bessere Lernortkooperation, Lehrerfortbildung im Betrieb, eine bessere sachliche Ausstattung der Berufsschulen, eine Modernisierung der Berufsschullehrerausbildung z.B. durch neue Methoden ab.

  3. Darauf hinwirken, daß sich das Berufswahlverhalten der Jugendlichen stärker an den Gegebenheiten des Marktes orientiert, d.h. eine Steigerung der regionalen sowie der beruflichen Mobilität.

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  1. Die Novellierung des Kriterienkatalogs für die Anerkennung und Beibehaltung von Ausbildungsberufen.

  2. Die einzelbetriebliche Form der Finanzierung der Berufsausbildung muß beibehalten werden. Eine Umlagefinanzierung würde insbesondere

    • erhebliche Mehrkosten verursachen,

    • den Verwaltungsaufwand wesentlich erhöhen,

    • die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe senken,

    • zur Berufslenkung führen,

    • die Qualität der Ausbildung absenken,

    • die Zahl und Qualität der Bewerber nicht verändern,

    • keinesfalls zu mehr „Gerechtigkeit" für nicht ausbildende Betriebe führen.

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5. Fazit

Es wird in den nächsten Jahren vermehrter Anstrengungen aller bedürfen, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Voraussetzung ist, daß es gelingt, die Rahmenbedingungen für Ausbildung weiter zu verbessern und von überzogenen Erwartungen und Forderungen, wie etwa von einem Finanzumbau des dualen Systems, Abschied zu nehmen. Wir werden das Ziel durch viele kleine Schritte erreichen können, aber nur, wenn wir angesichts vieler selbsternannter Experten den bisherigen Grundkonsens über die Strukturen und Aufgabenverteilungen im dualen System aufrechterhalten können. Hierin liegt die zentrale Herausforderung der nächsten Jahre.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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