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TEILDOKUMENT:

Arbeitsgruppe 2:
Partizipation von Migranten(-organisationen) an kommunalen Entscheidungsprozessen


[Seite der Druckausg.: 93 ]


José S. Otero
Vorschläge zu einer zeit- und aufgabengemäßen Bearbeitung des „Ausländerproblems"


(A) Grenzen und Defizite der bisherigen Formen der kommunalpolitischen Bearbeitung des „Ausländerproblems"

  1. Obwohl die sozialstrukturellen Ursachen des „Ausländerproblems" von den einzelnen Kommunen nicht beeinflußbar sind, sind die Ausländerbeiräte bisher die einzige Möglichkeit der politischen Partizipation, die die Aufnahmegesellschaft den Zugewanderten einräumt.

  2. Obwohl die Bundesrepublik längst eine Einwanderungsgesellschaft geworden ist, in der die Zugewanderten die sogenannte „Statuspassage" längst vollzogen haben, verweigert ihnen die Aufnahmegesellschaft die Ausübung der vollständigen politischen Rechte, solange sie die erwartete „Identitätspassage" nicht vollziehen. Die Ausländerbeiräte werden zum Teil als eine Art politisches Prüffeld für die Demokratiefähigkeit der Migranten angesehen.

  3. Die spezifische Aufgabe der Kommunen im Rahmen der sozialstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik besteht zwar darin, die Lebensverhältnisse der Bevölkerung durch die Gestaltung der sozialen Infrastruktur qualitativ zu beeinflussen (mit dem Verweis auf das Gleichheitspostulat oder auf den gesellschaftlichen Nutzen). Dabei gehören jedoch weder die „Ausländerarbeit" noch die „Ausländerpolitik" zu den eindeutig definierten Aufgaben der Kommune. Somit täuschen die Kommunen mit ihren Ausländerbeiräten vor, ein Problem zu bearbeiten, für das sie im Grunde nicht zuständig sind und demzufolge sie dafür auch keine Mittel verfügbar haben. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß auf kommunaler Ebene Handlungsspielräume für alternative und innovative Ansätze und Institutionalisierungsformen gegeben sind.

  4. Spezifische Programme und Maßnahmen zugunsten der „Ausländer" werden mit den Defiziten und Problemen dieser Bevölkerungsgruppe und weniger mit deren struktureller Benachteiligung begründet. Die

    [Seite der Druckausg.: 94 ]

    meisten Benachteiligungen, von denen die „Ausländer" betroffen sind (z.B. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, soziokulturelle Barrieren etc.), sind jedoch nicht ausländerspezifischer Natur, sondern sie sind auch bei vielen anderen benachteiligten Bevölkerungsgruppen vorhanden. Aus diesem Grund ist eine besondere Berücksichtigung der Belange der „Ausländer" nur möglich im Rahmen einer Politik, die auf die allgemeine Integration der sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen abzielt. Dabei müssen die Kommunen Leistungen für „Ausländer" gegenüber der einheimischen Bevölkerung in besonderer Weise legitimieren, denn nur zu dieser (aufgrund des den „Ausländern" bisher verweigerten Wahlrechts) stehen sie in einem Legitimationsverhältnis.

  5. Da die Kommunen keine ausdrückliche Zuständigkeit für die Belange der „Ausländer" haben (sollten), ist die Bearbeitung der Probleme und Defizite der „Ausländer" den Wohlfahrtsverbänden und anderen privaten Trägern übertragen worden, welche mittels korporativistischer Konsensbildungsprozesse eher ihre jeweiligen Verbandsinteressen als die der ihnen anvertrauten Klienten verfolgen. Dies führt dazu, daß die „Ausländerproblematik" unterhalb der Politikebene verhandelt wird, wodurch Planungen und Maßnahmen der kommunalen Verwaltung bzw. der Wohlfahrtsverbände inhaltlicher Kritik weitgehend entzogen werden.

  6. Die Sozialpädagogisierung der „Ausländerfrage" und die Übertragung ihrer Betreuung auf die privaten Träger der Wohlfahrtspflege hatten zur Folge, daß eine Integrationspolitik „von unten" unter aktiver Beteiligung der Migrant/innen und ihrer Organisationen vermieden worden ist, wodurch die „Ausländerfrage" entpolitisiert und die Lösung der mit der Anwerbung und dem längeren Verbleib der außerhalb der Landesgrenze angeworbenen Arbeitskräfte zusammenhängenden Probleme politisch einflußlosen Gremien (z.B. den Ausländerbeiräten) übertragen worden ist. Die Folge davon ist eine chronische Unterversorgung des nichtdeutschen Teils der Bevölkerung.

[Seite der Druckausg.: 95 ]

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(B) Vorschläge und Empfehlungen zu einer zeit- und aufgabengemäßen Bearbeitung des „Ausländerproblems"

  1. Die Migrant/innenorganisationen sollten gefördert und anerkannt werden, da sie dazu prädestiniert sind, u.a. die „Defizite" der Migrant/innen zu politisieren, d.h. diese auf ihre sozioökonomischen Hintergründe zurückzuführen. Das durch die Maastrichter Beschlüsse möglich gewordene kommunale Wahlrecht für EU-Bürger/innen eröffnet diesen die Möglichkeit, auch in Zeiten knapper finanzieller Ressourcen und des Abbaus sozialer Leistungen ihr Recht auf eine angemessene Berücksichtigung bei der Zuteilung öffentlicher Mittel politisch leichter einzuklagen.

  2. Migrations- und Integrationspolitik ist eine der zentralen Aufgaben im Kontext der Sicherung der sozialen Kohäsion einer Einwanderungsgesellschaft. Demzufolge sind im Rahmen einer solchen Politik spezifische Maßnahmen und Programme zugunsten von Migrant/innen - auch in Zeiten knapper Ressourcen - innenpolitisch unerläßlich.

  3. Die bisherigen Abstimmungs- und Konsensbildungsprozesse in korporativistisch strukturierten Gremien bezüglich der Bearbeitung der Folgen der Zuwanderung sowie der Kompetenzen und Zuständigkeiten der bisherigen Akteure (zu deren Hauptrepräsentanten die öffentliche Verwaltung und die Wohlfahrtsverbände zählten) sollten unter Federführung der öffentlichen Hand mit aktiver Beteiligung von Migrantenvertreter/innen fortgeführt und optimiert werden. Die Problembereiche Wohnen, Ruhestand, Freizeit und Weiterbildung (teilweise auch Schule und berufliche Bildung) fallen nach wie vor unter die unmittelbare Zuständigkeit der Kommunen. Erforderlich ist die eindeutige und explizite Berücksichtigung der migrantenspezifischen Bedürfnisse z.B. im Rahmen der kommunalen Sozialplanung, die im Sinne von lebensweltorientierter und sozialräumlich wirkender Konzepte strukturiert sein sollte. Dabei sind die Koordination der einzelnen Instanzen und Maßnahmen, die frühzeitige Abstimmung von Zielpräferenzen und Prioritäten unter Einflußnahme von Beteiligten und Betroffenen, die Erhöhung der Kooperationsbereitschaft sowie der Selbstregulierungskompetenz der Betroffenen unabdingbar.

    [Seite der Druckausg.: 96 ]

  4. Die Miteinbeziehung der Migrant/innen in die Gestaltung der Kommunalpolitik ist unumgänglich, weil nur dadurch die Überwindung der bisherigen Fragmentierung der Integrationspolitik und der damit zusammenhängenden selektiven Wahrnehmung der Probleme und Lebenslage der Migrant/innen erreicht werden kann.

  5. Die breite Öffentlichkeit muß in angemessener Weise auf die während der vergangenen Jahrzehnte erfolgte Zuwanderung sowie auf ihre Folgen und Herausforderungen hingewiesen werden. Ferner muß darauf hingewirkt werden, daß die einheimische Bevölkerung die Notwendigkeit weiterer Zuwanderungskontingente einsieht und die Integration der Neubürger/innen als eine gemeinsame Aufgabe von In- und Ausländern betrachtet. Um dies zu erreichen, müssen u.a. Alternativen zu den bestehenden kommunalen Institutionalisierungsformen entwickelt werden (z.B. durch die Umwandlung der Ausländerbeiräte in kommunale Ausschüsse für multikulturelle Angelegenheiten und die dazugehörige personelle und infrastrukturelle Ausstattung).

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Literatur

Bommes, Michael: Interessenvertretung durch Einfluß: Ausländervertretungen in Niedersachsen, Osnabrück 1991.

Filsinger, Dieter: Ausländer im kommunalen Kontext: Eine empirische Fallstudie zur Bearbeitung des „Ausländerproblems", Berlin 1992.

Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Ausländerbeiräte in Nordrhein-Westfalen: Situationsanalyse und Perspektiven für ihre zukünftige Arbeit, 1994.

Sánchez Otero, José: Die Kommune als Interaktions- und Handlungsfeld für sprachliche und ethnische Minderheiten: Design und Ergebnisse eines Handlungsforschungsprojekts mit Immigrant/innen. Als Manuskript bei der AEF, Mainzer Straße 172, 53179 Bonn beziehbar.

Schmid-Eckhard, Marianne: Politische Partizipation von Ausländern. Problem: Ausländerbeiräte, Weinheim und Basel 1985.

Verband der Initiativen in der Ausländerarbeit: Ausländer-Beiräte: Gedanken, Thesen, Stellungnahmen. Pro & Contra zum Thema „Ausländerbeiräte", Bonn 1991.

Unter den Publikationen, welche die Philosophie und die Praxis der bisherigen Ausländerpolitik sowie ihrer institutionellen Bearbeitung kritisch reflektiert haben, seien die folgenden genannt:

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Anagnostidis, Homer: Gewerkschaften und Ausländerbeschäftigung, in Klee, Ernst: Gastarbeiter: Analysen und Berichte, und darin die Artikel von Klee selbst: Beschwichtigen und Betreuen. Zielsetzung und Terminologie der caritativen Verbände und Gastarbeiter als Subproletariat, Frankfurt 1972.

Puskeppeleit, Jürgen/ Dietrich Thränhardt: Vom betreuten Ausländer zum gleichberechtigten Bürger, Freiburg/B. 1990.

Thränhardt, Dietrich: Ausländer im Dickicht der Verbände - Ein Beispiel verbandsgerechter Klientenselektion und korporatistischer Politikformulierung, und Surkemper, Klaus-Peter: Deutsche Gewerkschaften und ausländische Arbeitnehmer, beide in: Hamburger, Franz et al.: Sozialarbeit und Ausländerpolitik, Neuwied und Darmstadt 1983.


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