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Thomas Kunczik
Die Herausforderung nimmt weiter zu - Die Entwicklung bis zum Jahr 2030


Vor der großen gesellschaftspolitischen Herausforderung, die die Alzheimersche Erkrankung stellt, bin ich sehr froh, daß sich die Friedrich-Ebert-Stiftung dieses Themas angenommen hat. Eine Frage, die sich mir dabei immer wieder stellt: Warum wird diese Krankheit nicht wahrgenommen, sondern eher verdrängt? Vielleicht funktioniert der Verdrängungsmechanismus deshalb so ausgezeichnet, weil bei dieser Krankheit jener Teil des Menschen betroffen ist, über den sich unsere Männergesellschaft identifiziert - der Kopf. Obwohl es sicher einen Vortrag Wert wäre, ist es nicht meine Aufgabe weiter darüber zu spekulieren. Stattdessen will ich Ihnen Zahlen präsentieren die zeigen, daß wir uns diese Verdrängung bald nicht mehr leisten können.

Die Verdoppelung der Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren zwingt uns dazu, uns mit dem Materialverschleiß des Körpers, der Alterung, und den krankhaften Verschleißerscheinungen, den Alterserkrankungen, auseinanderzusetzen. Ein Blick in die Medizingeschichte zeigt, daß es zu Beginn dieses Jahrhunderts Akuterkrankungen, wie Infektionskrankheiten, waren, die es zu behandeln galt. Zum Ende des Jahrhunderts muß die Medizin jetzt lernen, sich immer mehr mit chronischen Erkrankungen, wie etwa den Alterserkrankungen, auseinanderzusetzen.

In Deutschland gibt es immer mehr alte Menschen. Schon heute ist die Gesundheitsfürsorge und Altenpflege eine schwere Bürde für das Sozialsystem, deren Last sich aller Voraussicht nach noch wesentlich steigern wird.

Bereits ein geringes Nachlassen der Hirnleistung kann für die Betroffenen und ihre Umwelt zu großen Problemen im täglichen Leben führen. Insbesondere für den Pflegebereich ergeben sich erhebliche Belastungen.

Demente Patienten stellen den Hauptteil der schwer Pflegebedürftigen dar. Die zahlenmäßige Entwicklung dieser Erkrankung ist deshalb ein guter Indikator für die zukünftige finanzielle Belastung unseres Gesundheitssystems.

Zunächst ist eine Begriffsbestimmung notwendig, da im allgemeinen Sprachgebrauch oft jede krankhafte Reduktion der Hirnleistung fälschlich als Alzheimersche Erkrankung bezeichnet wird. Demenzen lassen sich in zwei große Hauptgruppen unterteilen. Es handelt sich zum einen um die primären Formen, d.h. jene dementiellen Erkrankungen, deren Ursachen unklar sind. Hier ist die Alzheimer Erkrankung mit etwa 50% und die vaskuläre, gefäßbedingte Demenz, mit ungefähr 40% aller Erkrankungen beteiligt.

Etwa 10% aller Demenzkranken leiden an den sogenannten sekundären Demenzen. Das sind Erkrankungen, die aufgrund anderer medizinischer Ereignisse, z.B. niedriger Blutdruck und Stoffwechselerkrankungen, entstehen können und die, wenn sie erkannt werden, relativ einfach und gut zu behandeln sind.

Das Institut für Gesundheits-System-Forschung, Kiel, hat in einer Studie Daten über die Anzahl von Patienten mit Hirnleistungsstörungen im Alter (HLSA) ermittelt und diese mit einer Prognose über die zahlenmäßige Entwicklung in den nächsten zwei Jahrzehnten verbunden.

Basis dieser Studie ist die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland in den Grenzen nach dem 03.10.1990. Ausgehend von rund 78.1 Millionen Deutschen im Jahr 1990 ist mit einem Rückgang auf 76.9 Millionen im Jahr 2010 zu rechnen. Dies ist vor allem auf einen verringerten Anteil der unter 65jährigen zurückzuführen. Der Anteil älterer Bürger (über 65 Jahre) steigt von 11.7 Millionen im Jahr 1990 auf 15.1 Millionen im Jahr 2010.

Die Schätzung der HLSA-Patientenzahlen erfolgt anhand der Prävalenzangaben des vierten Familienberichtes.

Danach ist von 1990 bis 2010 eine Zunahme der HLSA-Patienten um rund 25% von 1.1 bis 1.4 Millionen auf 1.3 bis 1.7 Millionen Patienten im Jahr 2010 zu erwarten (vgl. Tab. 1 und Abb. 1).

Tabelle 1:
Zusammengefaßte Schätzung der Anzahl von HLSA-Patienten in Gesamtdeutschland bis zum Jahr 2030 (in Tausend)

Anhand von Modellrechnungen wurde untersucht, welche Unterschiede im Kostengefüge für Pflege von HLSA-Patienten ab 1995 erwartet werden können, wenn eine wissenschaftlich empfohlene Kombinationstherapie angewandt wird.

Die Rechnungen unterscheiden fünf verschiedene Therapie-Situationen und deren Auswirkungen auf die Pflegekosten:
• 1. Keine Therapie,
• 2. Derzeitige Therapie,
• 3. Neues Therapiekonzept bei leichten HLSA-Fällen,
• 4. Neues Therapiekonzept bei mittelschweren HLSA-Fällen,
• 5. Neues Therapiekonzept bei schweren HLSA-Fällen.
Bei dem neuen Therapiekonzept handelt es sich um eine frühzeitig einsetzende ganzheitliche Therapie, deren Bestandteile erfolgreich durchgeführt werden (ABCD-Modell)

Abbildung 1:
Verteilung der altersdementen Patienten nach Versorgungsbereichen (mittlere Schätzung)


Dabei werden kombiniert angewendet:
• A) Arzneimittel mit einer vierstufigen Testphase,
• B) Bewegungstherapie,
• C) Cerebrales Jogging (Gehirntraining),
• D) Diät.

Bei diesem Therapieschema wird eine engmaschige Therapiekontrolle unterstellt. Weiterbehandelt werden nur solche Patienten, bei denen nach einer einjährigen Testphase ein Ansprechen auf die Therapie beobachtet wird.

Die Modellrechnung betrachtet die Therapieeffekte als eine Veränderung der Verteilung der HLSA-Patienten in den verschiedenen Versorgungsstufen. Die Rechnungen gehen dabei von einer Ansprechrate der Therapie von etwa 30% aus. Die Therapieeffekte werden je nach Schweregrad der Erkrankung mit Besserungen zwischen 5% bis 35% angenommen.

Zwei Arten von Therapieeffekten auf das Kostengefüge können unterschieden werden.

Erstens ist eine Verlagerung von Patienten in andere Versorgungsbereiche vorstellbar. Nach diesen Modellvorstellungen könnte eine wirksame Therapie insbesondere zu Entlastungen im Akut- und im Sonderkrankenhausbereich führen (vgl. Abb. 2). Die Patienten könnten unter dem Einfluß der Therapie vermehrt zum Beispiel durch Angehörige versorgt werden. Es wird also eine Verlagerung von pflegeintensiven Einrichtungen zu Versorgungsformen mit geringerer Leistung unterstellt ("Verschiebungsmodell").

Bei der Verteilung der HLSA-Patienten auf verschiedene Versorgungseinrichtungen wurden vier Bereiche berücksichtigt:
• Zu Hause lebende und durch Angehörige und das soziale Umfeld gepflegte Patienten,
• Zu Hause lebende und durch ambulante Pflegedienste mitbetreute Patienten,
• In Einrichtungen der stationären Altenhilfe lebende Patienten,
• In Sonderkrankenhäusern gepflegte Patienten.

Zweitens ist eine therapiebedingte Reduktion der Leistungsintensität innerhalb der einzelnen Versorgungsbereiche möglich. So unterstellt die Modellrechnung, daß Pflegepersonal oder Angehörige, bezogen auf den Einzelfall, weniger Zeit für die Pflege aufwenden müssen, so daß sich z.B. die Zahl der Einsätze oder die Einsatzzeiten ambulanter Pflegedienste verringern ("Reduktionsmodell").

Da beide Effekte gleichzeitig auftreten können, werden sie zum "Verschiebungs- und Reduktionsmodell" verknüpft.

Die modellhaft berechneten Kosten für die Versorgung von 1.1 bis 1.8 Millionen HLSA-Patienten in den Jahren 1990 bis 2010 betragen zwischen 32.1 und 55.4 Milliarden DM jährlich (vgl. Abb. 3). Die Differenz zwischen den Kosten für die Versorgung von HLSA-Patienten mit Therapie (derzeitige beziehungsweise zukünftige Therapie) gegenüber einer fiktiven Situation ohne Therapie steigt deutlich ab dem Jahr 2000 an, nachdem im Jahr 1995 unter Modellannahme eine wirksamere Kombinationstherapie gegenüber der derzeitigen Therapiesituation eingeführt worden ist. Die Einsparungen, bezogen auf die Pflegekosten ohne Therapie, würden fast 5% betragen. In absoluten Zahlen ausgedrückt zeigt sich damit ein Einsparpotential zwischen 1.6 bis 2.75 Milliarden DM pro Jahr für Hirnleistungsstörungen im Alter.

Abbildung 2:
Verschiebungs- und Reduktionsmodell zur Beschreibung möglicher Wirkungen therapeutischer Maßnahmen auf die Versorgung altersdementer Patienten



Abbildung 3.:
Gesamtkostenentwicklung für Versorgung von HLSA-Patienten mit/ohne Therapie bis zum Jahr 2010 in der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen vom 3.10.1990


Die Studie hat das Verdienst, daß sie erstmals für Deutschland Zahlen für die Kosten und zukünftige Entwicklung von Demenzen ermittelt hat. Mit der Studie sind jedoch eine ganze Reihe weiterer Fragen aufgeworfen worden, die ich kurz beleuchten will.

Keine Studie kann berechnen, wie sich die durch eine Therapie bedingte Zunahme der Lebensqualität für die Patienten und ihre Betreuer auswirkt. Gerade die Lebensumstände der betreuenden Angehörigen sind von großer Bedeutung. Es ist bekannt, daß viele von ihnen nach einer jahrelangen aufopfernden Pflege selbst der Unterstützung bedürfen und nicht selten zu Pflegefällen werden.

In den Alten- und Pflegeheimen nimmt der Anteil von Patienten mit Hirnleistungsstörungen zu. Die meisten Pflegekräfte sind auf Grund der Personalsituation jedoch nicht in der Lage, eine ausreichende und damit auch sie befriedigende Versorgung durchzuführen. Selbst geringfügige Verbesserungen auf Grund einer Behandlung helfen die Arbeitssituation zu erleichtern.

Die Bundesrepublik Deutschland steht vor gravierenden Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, die Zahlen des Instituts für Gesundheits-System-Forschung Kiel (IGSF) reichen bis ins Jahr 2010. Im Jahr 1990 lebten in der Bundesrepublik Deutschland rund 80 Millionen Menschen, diese Zahl wird über die nächsten 20 Jahre fast konstant bleiben. Jedoch wird sich der Anteil der über 60jährigen von etwa 20% auf 26% erhöhen.

Bis zum Jahr 2030 wird sich dann allerdings eine wirklich dramatische Veränderung in der Bevölkerungsstruktur in Deutschland vollziehen. Die Gesamtbevölkerung wird um ungefähr 10 Millionen abnehmen; gleichzeitig wird es aber zu einer weiteren Zunahme der Menschen jenseits des 60. Lebensjahres kommen.

Absolut betrachtet lebten 1990 ca. 16 Millionen Menschen, die älter als 60 Jahre waren in unserem Land. Im Jahr 2010 werden es 20.5 Millionen, und im Jahre 2030 ungefähr 24.5 Millionen sein. Bezogen auf das Jahr 1990 leben dann rund 50% mehr ältere Menschen in Deutschland.

Rechnet man auf der Basis der Bevölkerungsschätzung des Statistischen Bundesamtes die in der Studie des IGSF ermittelten Zahlen über die Anzahl der Demenzkranken weiter hoch, so ergibt sich bis 2030 folgende Entwicklung:

Tabelle 2:
Enticklung des Anteils der über 60jährigen an der Gesamtbevölkerung


Insgesamt ist dann mit 1.7 bis 2.2 Millionen Demenzkranken zu rechnen. Dabei handelt es sich um eine Zunahme von knapp 60% im Vergleich zu 1990. Diese Zunahme der Demenzen ist dabei höher als die Zunahme der Älteren insgesamt, da immer mehr Menschen immer älter werden.

Gleichzeitig werden aber immer weniger jüngere Menschen immer mehr ältere zu versorgen haben.

Tabelle 3:
Entwicklung des Verhältnisses der 20- bis 60jährigen zu den über 60jährigen



Betrachtet man die weiteren Indikatoren der sozialen Veränderungen in unserem Land, so ist es fraglich, ob auch in den kommenden Jahren ein Anteil von 80% häuslicher Pflege durch Angehörige erreichbar ist.

So hat sich im Verlauf der letzten 70 Jahre die Haushaltsgröße fast halbiert. Lebten 1925 durchschnittlich noch vier Personen in einer Familie so sind es 1991 nur noch 2.2 Personen.



Immer mehr ältere Mitbürger leben in 1- oder 2-Personenhaushalten. Es steht zu befürchten, daß die meisten von ihnen im Fall einer Erkrankung professionelle Pflege und/oder einen Heimplatz benötigen. 1992 lebten 3.7 Millionen über 70jährige allein im eigenen Haushalt, davon rund 3.2 Millionen Frauen.


Tabelle 5:
Einpersonen-Haushalte in Deutschland

(Personen 70 Jahre und älter, in Tausend)



Zusammenfassung

• Bislang wurde die Dimension des Problemkreises Demenzen nicht gesehen; dies ist nicht länger zu verantworten.

• Aus ethischen, gesellschaftlichen aber auch ökonomischen Gründen gilt es schon alle bislang zur Verfügung stehenden diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten zu nutzen.

• Bis zum Jahr 2030 wird es aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer dramatische Veränderung in der Bevölkerungsstruktur kommen. Immer weniger jüngere Menschen werden immer mehr ältere zu versorgen haben.

• Im Jahr 2030 ist mit einer Zunahme von knapp 60% im Vergleich zu 1990 d.h. mit ca. 1.7 bis 2.2 Millionen Demenzkranken zu rechnen.


Tabelle 6:
Häufigkeit der Demenz in verschiedenen Altersgruppen



Unser Leben währet siebenzig Jahre,
und wenn es hoch kommt,
so sind es achtzig Jahre,
und wenn es köstlich gewesen ist,
so ist es Mühe und Arbeit gewesen;
denn es fähret schnell dahin,
als flögen wir davon.
Lehre uns bedenken,
dass wir sterben müssen,
auf dass wir klug werden.

- Psalm 90 -


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999

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