FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




Jan P. Beckmann
Der gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod aus der Sicht der Philosophie




I.

Ein altes Sprichwort sagt: „Was der Mensch ist, wird offenbar, wenn es ans Sterben geht." Sterben ist die äußerste Weise menschlichen Existierens. In ihr kommt letztendlich zum Ausdruck, was es heißt, ein Mensch zu sein, Würde und Autonomie zu besitzen und einen Lebensentwurf zu vollenden. Das Sprichwort enthält insoweit gleichermaßen Anspruch und Kritik: den Anspruch, daß der Mensch auch und gerade im Sterben er selbst sein und bleiben möchte und die Kritik, ihm könnte eben dies versagt sein. So zu sterben, wie man gelebt hat, in Würde und Autonomie, ist der Wunsch eines jeden.

Die Erfüllung dieses Wunsches ist nicht ohne den Beistand der Gesellschaft denkbar. Nicht nur bei seiner Geburt bedarf der Mensch der Hilfe anderer, er ist auch auf seinem letzten Gang auf Begleitung angewiesen. Anspruch und Kritik des genannten Sprichwortes lassen sich insoweit auf die Gesellschaft als ganze ausdehnen: Was die Gesellschaft ist, wird offenbar, wenn man sich ihren Umgang mit den Sterbenden ansieht. Was bedeutet es für das Selbstverständnis einer Gesellschaft, wenn Menschen in noch jugendlichem Alter (z.B. Aids-Kranke) sozial isoliert oder mitten im Leben (z.B. unheilbar an Krebs Erkrankte) in mitmenschlicher Sprachlosigkeit oder im Alter in völliger Vereinsamung sterben? Wie reagiert die Gesellschaft auf die Tatsache, daß 80% der Sterbenden ihre letzten Tage und Wochen in Kliniken oder Altersheimen verbringen, obwohl neun von zehn Menschen nach Möglichkeit in ihrer gewohnten Umgebung sterben möchten? Das kritische Potential dieser und ähnlicher Fragen ist kaum zu übersehen. Und dennoch überläßt die Gesellschaft als ganze den Umgang mit den Sterbenden einer kleinen Gruppe von Idealisten, welche sich in Krankenhäusern, Altenheimen, Hospizen und Selbsthilfegruppen in selbstloser Weise um Sterbende kümmern und dabei gelegentlich ebenfalls gesellschaftlicher Isolation ausgesetzt werden.

Die Gründe für das gebrochene Verhältnis der Gesellschaft zu den Sterbenden sind vermutlich komplexer Natur und zu einem großen Teil noch nicht hinreichend erforscht. Diesbezüglich stehen für Soziologen, Psychologen, Mediziner, Pflegewissenschaftler, Theologen und speziell für Thanatologen grundlegende Forschungsaufgaben an. Es geht um die Erarbeitung einer Neuen Kultur des Sterbens und des Todes. Auch die Philosophie muß hierzu im Rahmen ihrer Kompetenz einen Beitrag leisten. Sie tut dies traditionell auf eine dreifache Weise: durch Realitätsvergewisserung, durch Selbstvergewisserung und durch Sollensvergewisserung. Konkret: Die Philosophen untersuchen die Frage, was der Mensch ist und was Sterben und Tod sind, sie analysieren das Selbstverhältnis des Menschen, der von seiner Sterblichkeit weiß und dennoch oder gerade deswegen seinen eigenen Lebensentwurf verwirklichen möchte, und sie erforschen die ethischen Verpflichtungen, welche jedermann gegen sich selbst und gegenüber den anderen zu erfüllen hat. Die Philosophen tun dies u.a. durch a) Begriffsklärungen, b) Problemanalysen und c) das Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten. Hierfür seien im Blick auf das Thema dieser Tagung einige Beispiele genannt.

II.



Begriffserklärungen

Nicht von ungefähr ist das Krankenhaus heute einer der zahlenmäßig wichtigsten Orte des Sterbens. Krankenhäuser sind Einrichtungen, die, der Name sagt es, den Kranken und deren Heilung gewidmet sind. Doch ist Sterben eine Krankheit? Für Krankheiten gibt es in der Regel Mittel und Wege der Heilung: dort, wo es sie noch nicht gibt, wird danach gesucht. Für den Sterbenden aber gibt es weder Mittel für eine „Heilung" noch besteht irgendeine vernünftige Aussicht, danach zu suchen. Zwar läßt sich mit den heutigen Möglichkeiten der Intensivmedizin der Prozeß des Sterbens verlängern, doch steht am Ende nicht die Heilung, wie im Falle der Krankheit, noch wenigstens die Stabilisierung eines akzeptierbaren Lebens, wie im Falle chronischer Erkrankungen. Am Ende steht vielmehr der Tod, dessen Eintreten zwar hinausgeschoben, nicht aber abgewendet werden kann.

Verleitet die fehlende Differenzierung zwischen Sterben und Krankheit nachgerade zu dem Versuch, auch bei infauster Prognose „Heilungs-"bemühungen fortzusetzen, weil alles andere wie eine „Kapitulation" von Medizin und Wissenschaft aussehen könnte? Andererseits: Akzeptiert man die Unterscheidung zwischen Sterben und Krankheit, besteht dann die Gefahr, daß die Ärzte im Falle infauster Prognose sich zurückziehen, weil, im Sinne ihres eigentlichen Tuns, der Heilung nämlich, sich nichts mehr ausrichten läßt? Dabei steht außer Frage, daß der Sterbende auch und hinsichtlich der Schmerzbehandlung in besonderer Weise des Arztes bedarf. Man sieht: Eine Klärung der Begriffe ist hilfreich, wenn nicht notwendig, und dasselbe gilt für das Nachdenken über die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Klärungsbedürftig ist vor allem die Frage: Kann man das Sterben aus dem Begriffsfeld von Krankheit im engeren Sinne ausgrenzen, um den Sterbenden von einer sinnlosen und vielfach qualvollen Verlängerung seines Sterbens zu bewahren, und gleichzeitig begründen, daß der Sterbende auch weiterhin der ärztlichen Hilfe teilhaftig wird, deren er für ein humanes Sterben unbedingt bedarf?

Das zuletzt Gesagte oder vielmehr Erfragte hat mit einem weiteren Begriff zu tun, der auf dieser Tagung immer wieder genannt wird: mit dem Begriff der Sterbebegleitung. Es ist sicher kein Zufall, daß der humanitär angemessene Umgang mit Sterbenden als „Begleitung" bezeichnet wird. Einen Menschen begleiten heißt nicht, ihm vorschreiben, wohin der Weg geht, sondern ganz im Gegenteil: Die Semantik des Ausdrucks „begleiten" erfordert nachgerade, daß der Begleiter den Begleiteten fragt, wohin der Weg gehen soll. Jemanden im Sterben begleiten heißt, tun, was der Sterbende möchte, soweit dies in den Kräften des Begleiters steht. So wird man etwa die Antwort auf die Fragen, ob man dem Sterbenden die Hand hält oder ein Gebet spricht oder ähnliches tut, nicht von der eigenen emotionalen, religiösen oder anderweitigen Überzeugung abhängig machen, sondern einzig vom Wunsch und Willen des Sterbenden.

Problemanalysen

Sind Sterben und Tod Verdrängungsphänomene? Vieles spricht heute eher dafür, daß es sich in unserer Gesellschaft um Diskursverweigerungsphänomene handelt. Jedermann weiß von seinem Tod und auch die Gesellschaft als ganze sieht sich täglich mit Sterben und Tod konfrontiert. Und doch wird nicht darüber gesprochen, gibt es kaum Dialoge, weder zwischen einzelnen Menschen noch innerhalb der Gesellschaft als ganzer. Inwieweit dieses Diskursverweigerungsphänomen mit einem irrationalen Vertrauen auf die Möglichkeiten von Technik und Wissenschaft zu tun hat, bleibt zu untersuchen.

Ein weiteres analysebedürftiges Problem ist die Frage nach der Einheit des Menschen. Noch immer spielt die neuzeitliche Konzeption des Menschen als einer Zusammensetzung aus Körper und Geist, wie sie wesentlich durch den Cartesianismus geprägt worden ist, eine wichtige Rolle. Wissenschaftsgeschichtlich ist dieses Körper-Geist-Modell von enormer Bedeutung für die Entwicklung der Medizin gewesen. Denn erst die Konzeption der Trennung von Körper und Geist hat es möglich gemacht, den Menschen qua Körperwesen dem Konzept naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen, den Körper als eine Art „Maschinenmodell" zu begreifen, den man „reparieren" und dessen „Teile" man gegebenenfalls „austauschen" kann, ohne den Menschen als „ganzen" in Frage zu stellen. Dabei sind über die Jahrhunderte hinweg Erkenntnisse gewonnen worden, die von großer Bedeutung und kaum verzichtbarer Hilfe für nachfolgende Generationen geworden sind.

Inzwischen aber mehren sich die Anzeichen dafür, daß dieses Modell vom Menschen sich immer weniger eignet, den enormen Entwicklungen in Bereichen wie denjenigen der Intensiv-, vor allem aber der Transplantationsmedizin, im Sinne einer Bewahrung des Humanum gerecht zu werden. Wie auch immer diesbezüglich im einzelnen die Lösungen aussehen werden: man wird nicht umhinkommen, die cartesische Konzeption von der Einheit des Menschen, die genau besehen eine Zweiheit von Körper und Geist ist, kritisch zu überdenken und möglicherweise in Richtung auf eine neue Sicht hin zu entwickeln, die des Menschen Geist in der Phänomenalität seines Leibes und seinen Leib in der Intentionalität seines Geistes sieht, und so seine Einheit als eine unauflösbare begreift. Erst so lassen sich Fragen wie die nach der intensivmedizinischen Verlängerungsmöglichkeit zuendegehenden Lebens oder der Transplantation von Organen unter Bewahrung der Humanität angehen.

Konsequenzen und Handlungsmöglichkeiten

Neben Begriffklärungen und Problemanalysen obliegt der Philosophie die Reflexion der ethischen Prinzipien, welche menschliches Dasein im allgemeinen und den Prozeß des Sterbens im besonderen betreffen. Es sind dies allen voran die Prinzipien der Menschenwürde und der Autonomie der Person. Beide gebieten, daß nicht das technisch Mögliche, sondern das dem Menschen Gemäße zu tun ist. Hospitalisierung, Medikalisierung und Prozeduralisierung von Sterben und Tod sind diesen Prinzipien absolut unterzuordnen. Eine Gesellschaft, die der Gefahr der Nichtbeachtung der Würde des Sterbenden und der Möglichkeit seines prämortalen Autonomieverlustes teilnahmslos zusieht, widerspricht sich selbst. Sie suspendiert im Augenblick des Sterbens genau dasjenige, dessen sie zu ihrer eigenen Existenz und Legitimation immer schon bedarf: der Respektierung der Würde und des Rechtes der Selbstbestimmung eines jeden einzelnen. Nicht die Anerkennung dieser Grundprinzipien menschlichen Daseins ist heute das Problem, sondern ihre Verwirklichung. Diesbezüglich seien abschließend vier Forderungen erlaubt:

  1. Es bedarf einer größeren Verbreitung des Wissens um Sterben und Tod, um der Sprach- und Hilflosigkeit vieler und der Gesellschaft insgesamt wirksam zu begegnen. Einer Verstärkung der Thanatologie als inter-, ja überdisziplinärer Wissenschaft von Sterben und Tod wäre eine, die Entwicklung einer speziellen Thanatopädagogik eine weitere Konsequenz. Es sind gerade die jungen Menschen am ehesten offen für einen solchen Dialog.
  2. Nicht nur in bezug auf die Medizin im allgemeinen, sondern speziell im Hinblick auf Sterben und Tod bedarf es der weiteren Entwicklung und Diskussion einer Medizinischen Ethik. Dieselbe ist keine Sonderethik und bezieht sich auch nicht etwa nur auf Mediziner. Medizinische Ethik ist vielmehr eingebettet in die ethische Reflexion der den Menschen betreffenden Prinzipien überhaupt. Ihre Kenntnis und die Fähigkeit zur ethischen Reflexion betrifft daher gleichermaßen Mediziner, Pflegekräfte und Patienten und damit jedermann.
  3. Zur Wahrung des Wunsches und des Willens des Sterbenden bedarf es einer stärkeren rechtlichen Verankerung seiner autonomen Verfügungen (sogenannte „Patiententestamente"). Es kann nicht angehen, daß Gesellschaft und Gesetzgeber Verfügungen, welche der einzelne in gesunden Zeiten und nach reiflichen Überlegungen festgelegt hat, zwar moralisch anerkennen, ihnen aber keinen gesetzlich exakt festgelegten Status geben. Eine solche rechtliche Festlegung ist nicht zuletzt auch zum Schutze der Ärzte und Pflegekräfte erforderlich.
  4. Die Zusammenarbeit zwischen Klinik und Hausarzt bedarf der Intensivierung, um den Sterbenden, wenn irgend möglich, den Verbleib in ihrer gewohnten Umgebung bei gleichzeitiger voller medizinischer, insbesondere palliativer Betreuung zu sichern.

Die hier genannten Forderungen beruhen weder auf der Annahme, daß Sterben und Tod zum Gegenstand bis ins einzelne gehender institutioneller Regelungen gemacht werden könnten und sollten; dafür sind die individuellen Vorstellungen und Wünsche in einer säkularisierten und pluralistischen Gesellschaft zu unterschiedlich. Noch beruhen die genannten Forderungen auf der Annahme, daß ihre Erfüllung als solche bereits eine neue Kultur von Sterben und Tod herbeiführen würde. Eine solche Kultur muß vielmehr von den einzelnen und der Gesellschaft als ganzer geschaffen werden. Es gilt, die institutionellen und strukturellen Bedingungen hierfür zu verbessern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

Previous Page TOC Next Page