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TEILDOKUMENT:
Neil MacDonald:
Einleitung Kanada sieht sich wie die Bundesrepublik einem massiven und schnell wachsenden Ausmaß des Leidens gegenüber, das seine Ursache in chronischen Erkrankungen hat. Das Überaltern der Bevölkerung führt zu einer Zunahme an Patienten, die sich im fortgeschrittenen Stadium von Krebs, AIDS, Herz- und Atemwegserkrankungen und anderen chronischen Leiden befinden. Die Krebsziffern in Kanada beispielsweise steigen weiter und haben in den letzten 10 Jahren um über 30% zugenommen. Etwa die Hälfte der erwachsenen Krebspatienten erliegt dieser Krankheit. Die Aufgliederung der Krebsarten in Kanada entspricht in etwa der der Bundesrepublik. Zwei Charakteristika treten besonders hervor:
In kanadischen Palliativbetreuungsprogrammen leiden zwischen 80% und 95% der Patienten an Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Andere Patienten haben in der Regel AIDS oder degenerative Nervenkrankheiten (am weitesten verbreitet ist amyotrophische Lateralsklerose). Einige Spezialprogramme für die häusliche Betreuung und die Betreuung chronisch Kranker auf Stationen stehen in den Großstädten Kanadas ausschließlich AIDS-Patienten zur Verfügung. Wie jedoch die ideale Form der Abstimmung der Palliativbetreuung für kanadische AIDS- und Krebspatienten aussehen soll, muß noch näher bestimmt werden. Die Erkrankungsrate der HIV-Infizierten in Kanada ist in den vergangenen Jahren konstant geblieben (Anhang 1). Gelegentlich nehmen unsere Palliativbetreuungsprogramme auch Patienten mit Nierenleiden im Endstadium auf, die die Dialyse abgelehnt haben, oder andere mit Herz- und Kreislaufkrankheiten in ihren letzten Lebenstagen. Ältere Menschen mit fortgeschrittenen degenerativen Krankheiten wie Alzheimer oder multiplem Gehirnschlagsyndrom werden jedoch nur sehr selten aufgenommen. Teilweise hat diese Unterscheidung mit der ungewissen Lebenserwartung dieser Patienten zu tun. Der Großteil der kanadischen stationären Palliativbetreuungsprogramme dient Patientengruppen mit schwer behandelbaren, komplexen Symptomen und einer relativ kurzen Lebenserwartung (z.B. Patienten mit fortgeschrittenem Krebs).
Das kanadische Gesundheitssystem
Kanada ist ein Bundesstaat mit 10 Provinzen und drei Territorien (in den nördlichen Landesteilen gelegen) und hat ein umfassendes staatliches Gesundheitssystem. Die Regierung tritt als Versicherungsträger auf. Den Ärzten ist es nicht gestattet, ihren Patienten versicherte Leistungen in Rechnung zu stellen, sondern sie reichen ihre Abrechnung (auf Leistungsbasis) bei den Provinzregierungen ein, die dann die Ärzte bezahlen. Bei einigen Programmen sind die Ärzte (ganz oder teilweise) besoldet bzw. erhalten eine Vergütung auf Stundenbasis. Letztere Methode kommt häufig bei Palliativbetreuungsprogrammen zur Anwendung. Sämtliche Kosten eines Krankenhausaufenthaltes von akut Kranken werden von der öffentlichen Hand getragen. Gelegentlich wird ein Einzelzimmerzuschlag in geringer Höhe erhoben. Auch die Ausgaben für stationär verabreichte Medikamente trägt die öffentliche Hand vollständig. Das gleiche gilt unter bestimmten Voraussetzungen für die medikamentöse Behandlung ambulanter Patienten (z.B. Krebschemotherapie in den meisten Provinzen und die medikamentöse Behandlung von Patienten über 65 Jahre). Aufgrund der Rezession in der kanadischen Wirtschaft während der letzten Jahre wird für viele Programme, die bisher voll von der öffentlichen Hand getragen wurden, zunehmend ein Beitrag des Patienten erwartet. Stationäre Palliativdienste werden durch öffentliche Gelder finanziert, wie auch die mit ihnen verbundenen Beratungsleistungen sowie größtenteils ambulanten Palliativdiensten. Dennoch sind die meisten Palliativdienste auf private Spenden angewiesen, die die Kosten mehr oder weniger auffangen. Ein Beispiel: Während Ärzte und Pflegepersonal aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden, muß man häufig für die anderen Mitglieder des Palliativteams wie Musiktherapeuten und Koordinatoren für die ehrenamtlichen Mitarbeiter, auf private Spenden zurückgreifen. Weitere Teammitglieder wie Sozialarbeiter, Psychologen, Seelsorger und Physiotherapeuten teilt man sich mit anderen Krankenhausdiensten. Dennoch ist bei einem umfangreichen Programm, das engagierte Angehörige dieser Berufsgruppen benötigt, oft der Einsatz privater Mittel erforderlich. Die öffentlichen Gelder stammen aus dem allgemeinen Staatshaushalt oder, wie in einigen Provinzen der Fall, aus einer gesonderten Gesundheitsabgabe. Für die Gesundheitsversorgung sind die Provinzen zuständig, wobei die Programme von den jeweiligen Gesundheitsministerien der Provinzen verwaltet werden. Der Bundesregierung obliegt die Gesamtkoordination, und sie beteiligt sich am Gesundheitssystem der Provinzen mit einem Zuschuß aus Bundessteuern. Ist die Bundesregierung der Ansicht, daß ein Provinzprogramm zu weit von der Linie des kanadischen Gesundheitsmodells abweicht, kann sie durch Einstellung des Zuschusses ihre Lenkungsaufgabe wahrnehmen.
Geschichte der Palliativbetreuung in Kanada
Ähnlich wie in anderen englischsprachigen Ländern wurde auch die kanadische Palliativbetreuung durch die kreative Arbeit von Dame Cicely Saunders stark beeinflußt. Im Gegensatz zu anderen Ländern nahmen jedoch die ersten kanadischen Palliativdienste in Universitätskliniken ihren Anfang. Dr. Balfour Mount, ein Urologe und Onkologe, zeigte 1974 die Notwendigkeit eines Palliativdienstes im Royal Victoria Hospital in Montreal (ein großes Lehrkrankenhaus der McGill University) auf. Zu dieser Zeit fand er große Unterstützung beim Vorsitzenden der Chirurgischen Abteilung und beim Dekan der Medizinischen Fakultät sowie bei anderen Krankenhaus- und Universitätsverwaltungen. Im selben Jahr eröffnete Dr. Paul Henteleff eine hervorragende stationäre Palliativeinheit im St. Boniface Hospital in Winnipeg (ein großes Lehrkrankenhaus der University of Manitoba). Da die ersten Programme von hoch angesehenen Ärzten mit entsprechender akademischer Qualifikation eingeführt wurden, hat die kanadische Palliativbetreuung von Anfang an Verbindungen zu Universitäten. Obwohl nicht überall aufgenommen (die Palliativmedizin muß an vielen kanadischen Schulen noch um akademische Anerkennung kämpfen), hat die anfängliche Arbeit von Dr. Mount und Dr. Henteleff doch entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der kanadischen Palliativbetreuung ausgeübt. Interessanterweise hat selbst die Bezeichnung palliative care" ihren Ursprung in Kanada. Dr. Mount prägte den Terminus im Jahre 1975, als ihm von franko-kanadischen Kollegen mitgeteilt wurde, daß der gängigere Ausdruck hospice care" zur Bezeichnung von Programmen, die sich mit der Betreuung Sterbender befaßten, bei französischsprachigen Kollegen nicht sehr gut aufgenommen würde. In der Übersetzung suggerierte der Begriff eher ein passives Programm, das nicht im Einklang stand mit der positiven Botschaft und dem aktiven Betreuungsmodell, das Dr. Mount einführen wollte. Seit ihren Anfängen ist die kanadische Palliativbetreuung durch ein aktives Management-Modell gekennzeichnet; ein Modell, bei dem der Tätigkeitsschwerpunkt verlagert wurde: weg von den Versuchen, das Leben des Patienten zu verlängern oder ihn zu heilen und hin zu engagierten Ansätzen, die psychosozialen und körperlichen Probleme anzugehen, die mit dem Sterben verbunden sind.
Kanadische Palliativdienste 1994
Ein Verzeichnis der Palliativdienste wurde 1994 vom Kanadischen Palliativbetreuungsverband (Canadian Palliative Care Association) aufgestellt. [Persönliche Mitteilung. Dr. Ina Cummings.] Durch Kontaktaufnahme zu den Palliativbetreuungsverbänden der Provinzen und Territorien sollten alle Programme der kanadischen Provinzen erfaßt werden. Die Befragungsergebnisse sind ungenau, da einige antwortende Stellen manche Definitionen möglicherweise falsch ausgelegt haben. Zahlreiche Programme bieten nur begrenzte Leistungen wie Beratung in der Trauerzeit, oder sie fungieren als beratende Gremien auf Gemeindeebene, die keine klinische Betreuung anbieten. Dennoch belegt die in den letzten Jahren gestiegen Gesamtzahl der Programme die Zunahme und das wachsende Interesse an Palliativbetreuung in Kanada. Kanadische Palliativdienste 1994
Organisationen Der Kanadische Palliativbetreuungsverband (Canadian Palliative Care Association) ist Koordinator der Verbandsaktivitäten auf Provinz- und Territorienebene. Zu den Mitgliedern der Provinzverbände gehören Angehörige verschiedener Gesundheitsberufe, Ehrenamtliche und Einzelpersonen, die die Anbieter von Pflegeleistungen vertreten. Kürzlich wurde der Verein Kanadischer Palliativmediziner (Canadian Society of Palliative Care Physicians) gegründet (1994). Die Zielsetzungen des Vereins sind in Anhang 2 aufgeführt. Für die unmittelbare Zukunft wird erwartet, daß weitere Berufsvereine und -verbände auf dem Gebiet der Palliativbetreuung ins Leben gerufen werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden auch ihre Aktivitäten wie die des Vereins Kanadischer Palliativmediziner vom Kanadischen Palliativbetreuungsverband koordiniert.
Ausbildung im Bereich der Palliativbetreuung
Die Palliativbetreuung in Kanada hatte ihren Anfang in zwei Universitätskliniken. Eine Betrachtung der Lehrpläne für die Palliativbetreuung an medizinischen Hochschulen Kanadas ergibt ein stark unterschiedlich ausgeprägtes Interesse der Fakultäten an dieser Fachrichtung. Alle Hochschulen Kanadas sehen Zeit für die Lehre im Bereich der Palliativbetreuung vor. Die Lehrpläne der McGill University (Montreal) weisen mehr als 20 Stunden Vollunterricht auf, während man an der University of Calgary neun Stunden für den formellen Unterricht über Schmerzformen und Schmerzkontrolle vorsieht. Sieben Hochschulen verfügen über eine oder mehrere Planstellen in der Palliativbetreuung; die University of Ottawa beschäftigt sechs Akademiker vollamtlich. Die University of Alberta ist beispielhaft in der Ausarbeitung eines akademischen Programms, das als Grundlage für die Palliativbetreuung in der Gemeinschaft dient. Im Gegensatz dazu steht eine Reihe von kanadischen Hochschulen, die bis dato kein substantielles Palliativprogramm entwickelt haben. Das Kanadische Ausbildungsgremium in der Palliativbetreuung (Canadian Palliative Care Education Group), das aus Vertretern der 16 medizinischen Hoch¬schulen besteht, führt in regelmäßigen Abständen Erhebungen über die Ausbildung in der Palliativbetreuung durch. Die Erhebung von 1996 weist einen fortgesetzten Trend zu zusätzlichen Ausbildungsstunden und zur Anerkennung der Palliativbetreuung durch die Fakultäten aus. Derzeit verfügen die 16 Hochschulen über drei Lehrstühle für Palliativbetreuung, drei Abteilungen und ein Forschungsinstitut. 1989 wurde das Ausbildungsgremium auf Initiative des Dekans der Medizinischen Fakultät der McGill University gegründet, der die anderen Dekane aufforderte, Vertreter zu benennen. Das Gremium veröffentlichte 1990 den Kanadischen Lehrplan für die Palliativbetreuung (ins Deutsche übersetzt von Frau Dr. Elisabeth Albrecht und ihren Kollegen). 1996 überarbeitete das Ausbildungsgremium den Lehrplan; 1997 wird ein auf Fallbeispielen basierendes Handbuch herausgegeben, das die Lehrziele verdeutlicht. Die meisten medizinischen Hochschulen Nordamerikas gehen derzeit auf einen fallbezogenen klinischen Unterricht über. Es wird erwartet, daß das neue Handbuch die Lehre in der Palliativbetreuung an unseren Hochschulen weiter verbessern wird. Drei Pharmaunternehmen gewährten Zuschüsse, die es ermöglichen, das Handbuch während zwei aufeinander folgender Jahre kostenlos an die Medizinstudenten aller kanadischen Hochschulen zu verteilen. Mit diesen Ansätzen versuchen wir, ein Korrektiv für das anscheinend allgegenwärtige Ungleichgewicht in der ärztlichen Ausbildung zu finden. In allen Ländern, in denen Untersuchungen durchgeführt wurden, stellte sich heraus, daß ärztliche Fertigkeiten in einem wichtigen Bereich der Palliativbetreuung, nämlich in der Schmerzkontrolle, Unzulänglichkeiten aufweisen. Darüber hinaus haben die Untersuchungen ergeben, daß in der Gesellschaft viele Abblockmechanismen vorhanden sind, die die Ärzte davon abhalten, die Prinzipien der Schmerzkontrolle und Palliativbetreuung anzuwenden. Einige Hemmnisse, wie etwa Bestimmungen, die verhindern, daß Patienten effektive Analgetika erhalten, ließen sich bei entsprechend gutem Willen leicht aus der Welt schaffen. Andere, wie die negative Einstellung der Gesellschaft zur Anwendung von Opiaten und übertriebene Bedenken von Ärzten wie Patienten, sie einzusetzen, weisen auf die Notwendigkeit verstärkter Aufklärungsarbeit bezüglich der Palliativbetreuung hin. In allen Ländern sind Bemühungen im Gang, die Betreuung in stationären Einrichtungen einzuschränken und sie in die häusliche Umgebung zu ver¬lagern. Diese Bemühungen müssen begleitet werden von der Einführung verbesserter Ausbildungsprogramme in der häuslichen Betreuung für Krankenschwestern und Ärzte, aber auch für die Patienten und deren Familien, die jetzt eine größere Verantwortung in der Pflege übernommen haben. Man kann davon ausgehen, daß der Versuch, Patienten mit fortgeschrittener chronischer Erkrankung statt stationär wieder zu Hause zu betreuen, mißlingt, wird er nicht von einer verstärkten Weiterbildung in Palliativbetreuung begleitet. Viele medizinische Hochschulen und Fakultäten stehen vor dem Dilemma, in ihren Programmen einen Ausgleich zu finden zwischen der Fülle neuer medizinischer Erkenntnisse, verbunden mit einer verstärkten Bewertung sozialer Fragen, und eines ganzheitlichen Ansatzes in der Betreuung. Die natürliche Reaktion einiger Verantwortlicher für die Mediziner-Ausbildung angesichts dieses Dilemmas ist die Begrenzung neuer Lehrgebiete mit dem Argument, die Lehrpläne seinen ohnehin schon zum Bersten voll. Einige Verantwortliche haben so auf die Aufnahme der Palliativbetreuung an ihren medizinischen Hochschulen reagiert. Führende Repräsentanten aus Medizin und Regierung haben eingesehen und dies ist von entscheidender Bedeutung , daß die Prinzipien der Palliativbetreuung keine Empfehlungen irgendeiner Lobby darstellen, sondern zu den Grundlagen einer modernen Medizinerausbildung gehören. Die meisten aufgeklärten Leiter medizinischer Fakultäten würden den folgenden wichtigen Zielvorstellungen bei der Ausbildung in den Gesundheitsberufen zustimmen:
Falls unsere medizinischen Ausbildungsstätten diese allgemeinen Bildungsziele tatsächlich ernst nehmen, erreichen sie diese Ziele besser, wenn sie einsehen, daß Palliativbetreuungsprogramme nützliche Lehrmodelle sein können, die diese Prinzipien verdeutlichen. Die Palliativbetreuung verdient es, in Lehrprogramme aufgenommen zu werden, und zwar nicht als konkurrierendes Element, sondern als anschauliches Beispiel. Ausbildungsmaterial Im englischsprachigen Schrifttum mangelt es nicht an Ausbildungsmaterial zur Palliativbetreuung. Erstklassige Artikel und Monographien gibt es in Hülle und Fülle, und es erscheinen fünf Fachzeitschriften zum Thema Palliativbetreuung mit internationaler Leserschaft. 1990 hat das Kanadische Ausbildungsgremium in der Palliativbetreuung seinen ersten Lehrplan zur Palliativbetreuung für Ärzte herausgegeben. Danach wurden in anderen Ländern weitere Curricula veröffentlicht. Der Internationale Verband der Onkologiekrankenschwestern (International Oncology Nurses Association) verabschiedete 1989 einen Lehrplan für Krankenschwestern in der Palliativbetreuung. Mittlerweile sind etliche Filme und CD-ROMs erhältlich, die sich mit Problemen der Schmerzkontrolle und Palliativbetreuung befassen. Der Großteil des Lehrmaterials erscheint in englischer Sprache. Jedes Land sollte die besten englischsprachigen Unterlagen auswählen und seine eigenen Texte, Filme, Computerprogramme und weiteres Ausbildungsmaterial erstellen. Wie müßte man in der Bundesrepublik am besten vorgehen, um die Palliativbetreuungsprinzipien in der Medizinerausbildung einzuführen? Obwohl sich die Ausbildungssysteme von Land zu Land unterscheiden, ist es möglich, sich auf eine Reihe einfacher, konsensfähiger Ziele zu einigen und dann festzustellen, welche organisatorischen Maßnahmen zur Einführung des offenkundig Notwendigen und offenkundig Möglichen zutreffen. In allen Ländern könnte man die folgende einfache Ausbildungsstruktur einführen:
Diese Übersicht beinhaltet keine komplizierten Maßnahmen, und einige Elemente wurden bereits in einer Reihe kanadischer Hochschulen eingeführt. Ein entsprechender Lehrplan ließe sich ohne weiteres aufstellen, und das erforderliche Lehrmaterial zur Umsetzung der didaktischen Aspekte ist auch bereits vorhanden. Ein Paradox wird deutlich: Die organisatorischen Bedingungen, die die Kompetenz der Angehörigen der Gesundheitsberufe hinsichtlich der Schmerzkontrolle und der Palliativbetreuung sichern würden, ließen sich ohne große Schwierigkeiten herstellen. Die Öffentlichkeit erwartet von Ärzten Kompetenz in der Bewältigung menschlichen Leids. Dennoch belegen Erhebungen in drei Kontinenten immer wieder Wissensdefizite bei Ärzten sowie Mängel in der ärztlichen Ausbildung und in der Betreuung von Patienten. Das Paradox wird sich auflösen, sobald der Staat und die Verantwortlichen im Gesundheitswesen auf Druck der Öffentlichkeit erkennen, daß die ärztliche Kompetenz in der Linderung von Leid eine Frage der Ethik ist. Palliativbetreuung ist eben mehr als nur ein weiteres Gebiet, das um Rechte und Privilegien kämpft. Die Anwendung ihrer Prinzipien muß nicht das Gesundheitssystem belasten; dies wird eher tragische und kostenintensive Formen menschlichen Leides verhindern. Sobald die ethische Dimension der Ausbildung in der Palliativbetreuung Anerkennung findet, können relativ einfache organisatorische Schritte und Ausbildungsmaßnahmen zur Erreichung der o.g. einfachen Ziele führen. Darunter fallen:
Forschung Der Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Palliativbetreuung wird von der kanadischen Regierung oder privaten Zuschußgebern keine besondere Priorität eingeräumt. Ein Großteil der Aufgaben der klinischen Krebsforschung in Kanada wird von Pharmaunternehmen beeinflußt und unterstützt. Bis dato haben nur wenige dieser Firmen ein Interesse an Forschungsinitiativen auf dem Gebiet der Palliativbetreuung bekundet. Dagegen haben einige kanadische Universitäten, ausgestattet mit bescheidenen Mitteln, überzeugende Forschungsprogramme in der Palliativbetreuung entwickelt, darunter die McGill University, die University of Alberta und die University of Manitoba. Die Schwerpunkte liegen auf der Symptomkontrolle und -bewertung (University of Alberta), den psychosozialen Bedürfnissen der Familie (University of Manitoba) und auf Studien über Lebensqualität (McGill University). Das mangelnde Interesse an der Forschung auf dem Gebiet der Palliativbetreuung ist paradox angesichts der in den letzten Jahren erzielten Fortschritte in der klinischen Krebsforschung: [MacDonald, N. Priorities in Education and Research in Palliative Care. Palliative Medicine. 1993; 7 (Anhang 1): 65-76.]
Drei der fünf Fortschritte liegen bei der Symptomkontrolle und in der psychosozialen Forschung. Mit Ausnahme der Studien über Übelkeit und Erbrechen ist der Auslöser für die jeweilige Forschungsarbeit in der Palliativbetreuung der Wissenschaftler selbst, wobei die Arbeit von der Pharmaindustrie oder von staatlichen Zuschußgebern nicht besonders stark gefördert wird. Ein Beispiel: Die simple Beobachtung, daß die meisten Opiate und viele andere Mittel bei Patienten, die nicht mehr in der Lage sind, Medikamente oral einzunehmen, subkutan verabreicht werden können, hat es ermöglicht, viele Patienten zu Hause zu behandeln, die sonst auf einen ständigen Krankenhausaufenthalt zur intravenösen oder intramuskulären Verabreichung von Medikamenten angewiesen wären. Die Anwendung subkutaner Therapien sowohl zu Hause als auch im Krankenhaus senkt Kosten und gestattet es Patienten und Familien, bei der Pflege eine größere Rolle zu übernehmen, weil diese Therapieformen leicht zu erlernen sind. Ein Großteil der Arbeit zur Entwicklung der subkutanen medikamentösen Therapie wurde im Rahmen von Palliativbetreuungsprogrammen geleistet, und zwar ohne erhebliche Zuschüsse. [Bruera, E., Brenneis, C., Michaud, M. et al. Use of the subcutaneous route for the administration of narcotics in patients with cancer pain. Cancer 1988; 62: 407-411.] Man mag die Einbeziehung der Forschung als wesentliches Element der Palliativbetreuung in Frage stellen. Der Autor teilt diese Ansicht aus folgenden Gründen nicht:
Die Prioritäten der medizinischen Forschung sollten im Verhältnis zur Bedeutung eines Problems stehen. Die folgenden Faktoren bestimmen den Stellenwert einer Frage in der Gesundheitsversorgung: [American Medical Association Council on Ethical and Judicial Affairs: Ethical issues in health care system reform – The provision of adequate health care. Journal of the American Medical Association 1994; 272: 1056-1062.]
In diesem Analyserahmen stellt man fest, daß gerade auf dem Gebiet der Krebsschmerzen solche erfolgversprechende Forschungsarbeit geleistet werden kann. Ähnliches gilt für ein weit verbreitetes physisches Symptom bei Patienten mit fortgeschrittenem Krebs, nämlich dem Kachexie-Anorexie-Asthenie-Syndrom, das ein ideales Problem für eine konzertierte Forschungsinitiative darstellt. Die Voraussetzung für einen Erfolg wäre das Zusammenwirken von Wissenschaftlern in der Grundlagenforschung und Klinikärzten, die dazu ermutigt werden sollten, gemeinsam wie bei der Zusammenarbeit, die zu den Fortschritten auf dem Gebiet der Schmerzforschung führten andere substantielle Probleme in der Palliativbetreuung anzugehen.
Die Organisation der Palliativbetreuung
In Kanada gibt es ein weiteres Paradox: Die Zahl der Bürger mit chronischen, lebensbedrohlichen Krankheiten steigt, ebenso die Erwartungen der Gesellschaft auf hervorragende Betreuung. In der kanadischen Medizin muß man sich aber auf ein immer schlanker werdendes Gesundheitsversorgungssystem einstellen und diesen Aspekt in der Planung berücksichtigen. Die Zahl der kanadischen Ärzte und anderer Angehöriger der Gesundheitsberufe ist rückläufig, wie auch deren Vergütung. Die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes wird zwar von unseren Fakultäten unter¬strichen; einige Planer jedoch halten ihn für zeitaufwendig und im Wesentlichen für ineffizient", da er Zeit für intensive Patienten-/Familien-Gespräche erfordert. Die Gesundheitsversorgung muß ein Maximum an Wirtschaftlichkeit bringen mit einem besonderen Augenmerk auf die Bettenbelegung in Krankenhäusern für akut Kranke. Werden die Ansätze der Palliativbetreuung umfassend angewandt, so bietet sie uns die Möglichkeit, die Betreuung chronisch Kranker immer mehr aus den Krankenanstalten heraus und in die häusliche Umgebung hinein zu verlagern. Voraussetzung dafür ist das Vorhandensein hochentwickelter Palliativdienste. Ohne umfassende Leistungen in der Palliativbetreuung ist es unwahrscheinlich, daß diese Verlagerung vom Krankenhaus ins häusliche Umfeld gelingt. In einigen kanadischen Gebietskörperschaften haben Pauschalkürzungen im Gesundheitsbereich ohne Berücksichtigung der aufkommenden Bedürfnisse oder sich bietenden Chancen stattgefunden. Einige Gemeinden stocken allerdings ihre Palliativdienste auf und nehmen dafür Kürzungen in anderen Gesundheitsbereichen wie bei Allgemeinkrankenhäusern, in Kauf. So entsteht beispielsweise derzeit in Edmonton (750.000 Einwohner) ein Modellprogramm, das sich durch einen koordinierten Ablauf auszeichnet: von Patienten (vorwiegend Krebskranken), die zu Hause von ihren Hausärzten behandelt werden, zu Überweisungen in Krebszentren bis zur Betreuung durch einen spezialisierten Palliativdienst. Zu den wesentlichen Komponenten eines Palliativdienstes auf Gemeindeebene gehören:
Ein umfassender Palliativdienst erfordert die Unterstützung des regionalen Gesundheitsamtes. Diese Unterstützung kann als sicher gelten, sobald das Ausmaß der fortgeschrittenen, chronischen und lebensbedrohlichen Krankheiten in den Gemeinden deutlich wird, und sobald die Chancen erkannt werden, die sich durch eine humane Betreuung bei Senkung teurer Krankenhausausgaben, verbunden mit einer ausgewogenen Verlagerung der vorhandenen Mittel in Richtung häuslicher Pflege, bieten.
Palliativbetreuungsprogramme: das 21. Jahrhundert
Bisherige Definitionen der Palliativbetreuung sind unzureichend, da sie die Präventionsfunktion nicht genug betonen. Prävention" umfaßt weitaus mehr als nur die Vermeidung von Krankheiten oder die Bedeutung einer Frühdiagnose. Die Betonung der Prävention muß als Grundsatz eines jeden Programms zur Krankheitskontrolle Akzeptanz finden. Beispielsweise sollte die Krebskontrolle aus den folgenden vier ausgewogenen Ansätzen bestehen: [MacDonald, N. Palliative Care: The Fourth Phase of Cancer Prevention. Cancer Detection and Prevention. 1991; 15: 253-255.]
Faßbare Beispiele für die Bedeutung der Prävention beinhalten:
Deshalb sollte man die moderne Palliativbetreuung als Prävention und Linderung von Leiden definieren, die möglich werden durch Früherkennung und einwandfreie Beurteilung und Behandlung physischer und psychosozialer Symptome bei unheilbar Kranken. Dieses Konzept wurde in einem kürzlich veröffentlichten Grundsatzpapier zur Politik der Umstrukturierung der britischen Krebsdienste anerkannt. [Consultative Document. A Policy Framework for Commissioning Cancer Services. Calman Report/Recommendations for Cancer Services. Her Majesty’s Stationery Office, London, 1994.] In dem Bericht heißt es: Viele Patienten benötigen in einem frühen Stadium ihrer Krankheit eine Palliativbetreuung, manchmal vom Zeitpunkt der Diagnose an. Sie sollte nicht nur mit einer Betreuung Sterbender assoziiert werden. Palliativteams sind zum Zwecke der Sicherstellung der bestmöglichen Lebensqualität für Patienten und Familien nahtlos in alle Krebsbehandlungsdienste einzufügen." Zu den Bestandteilen eines erfolgreichen Palliativdienstes müssen gehören:
Am Beispiel Krebs erkennen wir, daß diese Bestandteile nur dann umgesetzt werden können, wenn:
Anmerkungen Der Abschnitt über Ausbildung wurde bearbeitet unter Verwendung von: Scott, J. und MacDonald, N. Palliative Care Education. In: Doyle, D, Hanks GWC, MacDonald N. (Hrsg.), Oxford Textbook of Palliative Medicine, 2. Auflage, New York: Oxford University Press (in Druck). MacDonald, N. A proposed matrix for organisational changes to improve quality of life in oncology. European Council of Cancer 1995; 31A (Anhang 6); S18-S21. Working Document presented to the Committee on Care at the End of Life, Washington, Institute of Medicine, 1996. Der Abschnitt über Forschung wurde bearbeitet unter Verwendung von: MacDonald, N. Suffering and dying in cancer patients. Research frontiers in controlling confusion, cachexia und dyspnea. Western Journal of Medicine. 1995; 163 (3): 278-286
Anhang 1
Bureau of HIV/AIDS and STD
Kommentar: AIDS-Erkrankungen steigen in Kanada seit drei Jahren nicht mehr. Was bedeutet das? Wie aus der beigefügten Tabelle (8) und in der folgenden Graphik (A), der Vierteljährlichen aktualisierten Erhebung: AIDS in Kanada (Quarterly Surveillance Update: AIDS in Canada), ersichtlich, steigt die Anzahl der AIDS-Erkrankungen seit drei Jahren nicht mehr. Dieses Ergebnis überrascht nicht angesichts der Tatsache, daß die HIV-Zahlen in Kanada einen Höhepunkt in dem Zeitraum 1983/84 erreichten, wie man der Graphik (B) unten entnehmen kann, die die HIV-Epidemie in Kanada zeigt. Die HIV-Infektionskurve in Kanada wurde rekonstruiert durch Rückrechnen aus den AIDS-Daten und unter Verwendung der Ergebnisse der HIV-Vorkommensstudien und Prüfdaten aus ganz Kanada.
Graphik A AIDS-ERKRANKUNGEN IN KANADA Jährliches AIDS-Vorkommen Jahr der AIDS-Diagnose
Graphik B HIV-INFEKTIONEN IN KANADA Jährliches HIV-Vorkommen durchschnittlich 2500-3000
Jahr der HIV-Infektionen
Anhang 2
Verein Kanadischer Palliativmediziner
Auftrag
Als Mitglieder des Vereins Kanadischer Palliativmediziner beabsichtigen wir:
Zielsetzungen
© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999 |