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Dieter Göbel:
Jugendhilfe: Ausfallbürge gesellschaftlicher Fehlentwicklungen


Druck-Ausgabe: Seite 75

Bevor ich mich zu dem eigentlichen Thema meiner Ausführungen, nämlich der Problematik Jugendhilfe und Migration äußere, möchte ich einige notwendige kritische Vorbemerkungen zum allgemeinen Stand der Diskussion innerhalb der Jugendhilfe voranstellen.

Die Auswirkungen der fundamentalen ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der letzten Jahre werden von vielen Kommentatoren und Kommentatorinnen mit dem Etikett eines Paradigmenwechsels belegt.

Ihnen allen ist diese Debatte, die mit den Begriffen der Individualisierung und Pluralisierung beschrieben wird, bestens vertraut. Das Schwinden gesellschaftlich verbindlicher Wertesysteme, der Fortfall ideologischer Deutungssysteme und die Warenförmigkeit gesellschaftlicher Beziehungen führen allenthalben zu gesellschaftlichen und individuellen Irritationen und Verunsicherungen. Von den Wirkungen dieser „neuen Unübersichtlichkeit" bleibt auch die Jugendhilfe nicht verschont. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht die Effizienz und Effektivität der bisherigen Arbeit in Frage gestellt wird. Auf der Grundlage einer chronisch defizitären Finanzlage der Kommunen und einer allgemeinen Kritik an einem "nicht mehr zu finanzierenden Sozialstaat" wird von interessierter Seite radikal die Frage nach der Qualität und Nützlichkeit der Maßnahmen der Jugendhilfe gestellt.

Zwischenzeitlich glaubt man, das Mittel gefunden zu haben, mit dem man die Jugendhilfe "marktgerechter" gestaltet. Mit den betriebswirtschaftlichen Instrumentarien einer neuen Steuerung soll endlich die Effizienz in der Jugendhilfe Einzug finden, die man jahrelang vermißt hat. Die Einführung betriebswirtschaftlicher Elemente innerhalb der neuen Steuerung aber, und wer mag dies bezweifeln, steht mit den knappen Kassen der öffentlichen Träger in einem unmittelbaren Begründungszusammenhang. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß die KOST ihr erstes Modell zur neuen Steuerung bereits im Jahre 1984 veröffentlichte. Es blieb

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damals völlig unbeobachtet und hinterließ keinerlei Wirkungen auf die Praxis.

Erst mit der dramatischen Verschlechterung der Lage der öffentlichen Haushalte gewann die neue Steuerung innerhalb der Jugendhilfe ihre Aktualität. Man sollte diese Tendenz offen beim Namen nennen: Die neue Steuerung und die gesamte Qualitätsdebatte innerhalb der Jugendhilfe sind vor allem dem Diktat des Sparens geschuldete betriebswirtschaftliche Konzepte, mit denen man versucht, die ständig steigenden Kosten für die Leitnorm des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, daß nämlich jeder ein Recht auf Erziehung hat, zu reduzieren.

Neben dieser Kausalität von Sparzwang und Neuer Steuerung (NST) ist es allerdings auch vonnöten, inhaltlich einen Blick auf die Mechanismen des neuen Organisationsprinzips der Jugendhilfeverwaltungen zu werfen. Eine zentrale Kategorie der NST, die nur noch Anbieter, Märkte, Sozialmanager und schlanke Verwaltungen kennt ist die des Kunden. Analysiert man allerdings den Kundenbegriff, so stellt man fest, daß er analytisch nur bedingt tauglich ist. Wenn er allerdings auf der analytischen Ebene keinen Erkenntnisgewinn garantiert, muß er einen strategischen Wert besitzen. Will man am Ende eine andere Jugendhilfe, deren Maßnahmenkatalog sich hauptsächlich über die Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage regulieren und sich letztendlich auf die individuellen Rechtsansprüche im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) beschränkt. Wenn dies die Tendenz wäre, sieht es schlecht aus für die Jugendlichen ohne deutschen Paß, da ihnen im Rahmen des "Windhunderennens" um die Töpfe und Maßnahmen eine starke Lobby fehlt.

Dieser kurze Exkurs war notwendig, um das strukturelle Dilemma der Jugendhilfe zu beschreiben: Die Folgen gesellschaftlicher Erosion, die Unfähigkeit des Marktes auch jungen Menschen eine gesicherte ökonomische Zukunft zu bieten, die politische Weigerung jungen Migranten die Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft zu erleichtern, z.B. durch die Gewährung einer politischen Partizipation, verursachen für die Jugendhilfe einen erhöhten Kostendruck. Es ist schon eine paradoxe Situation, daß die Jugendhilfe immer mehr als Ausfallbürge für gesellschaftliche, ökonomische und politische Fehlentwicklungen herangezogen wird, ihr aber auf der anderen Seite die Mittel drastisch gekürzt werden. Um es in

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der Sprache der Werbung auszudrücken: Jugendhilfe - nie war sie so wertvoll wie heute - und wurde so wertlos behandelt.

Diese Ausgangssituation trifft natürlich auch auf die Arbeit mit Migranten zu. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß all die berechtigten und richtigen Vorschläge, die auch während dieser Fachveranstaltung ins Felde geführt wurden, ein Mehr an finanzieller Aufwendung nach sich ziehen, z.Z. aber keine finanziellen Ressourcen bereitstehen, um die notwendigen Maßnahmen zu finanzieren. Hier wäre ein volkswirtschaftlicher, d.h. gesamtökonomischer, Blick durchaus angebracht, um die finanziellen Schäden einer versäumten Integration von dauerhaft hier lebenden Migranten zu beziffern. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales von NRW hat erst kürzlich eine Studie veröffentlicht, in der die "Kosten der Nicht-Integration ausländischer Zuwanderer" exakt berechnet werden. Der Studie zufolge liegen Produktivität und Löhne der hier lebenden Ausländer um 10 bis 15% unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt. In Westdeutschland tragen sie etwa 240 Milliarden DM zum Bruttosozialprodukt bei, in NRW rund 60 Milliarden DM. Bei einer besseren Integration in Bildungssystem und Arbeitsmarkt könnten dies rund 300 Milliarden DM in Westdeutschland sein, bzw. 75 Milliarden DM für NRW. Die Differenzbeträge von 60 bzw. 15 Milliarden DM beziffern nach diesem Modell die Kosten der Nicht-Integration. Die Hälfte dieser Kosten sind entgangene Steuern und Sozialbeiträge. Dem Landeshaushalt entgehen damit mindestens 1,5 Milliarden DM, den kommunalen Haushalten, also den eigentlichen Trägern der Jugendhilfe, eine halbe Milliarden DM. Im Grunde genommen müßten diese Zahlen ausreichen, um verstärkt einer Integration der Zuwanderer das Wort zu reden. Wenn dennoch die Arbeit mit Jugendlichen ohne deutschen Paß z.Z. wenig Konjunktur hat. so mag dies auch mit dem politischen Klima in der Bundesrepublik zu tun haben. Die standhafte Weigerung dieses Land als Einwanderland anzusehen, verleiht selbst hier geborenen ausländischen Jugendlichen lediglich einen Gästestatus, dessen Dauerhaftigkeit auf einen funktionierenden Arbeitsmarkt zugeschnitten ist. Leistet der Arbeitsmarkt keinerlei Integrationsfunktion mehr, werden die ausländischen Jugendlichen quasi zur überflüssigen Teilpopulation.

Die mangelnde Eindeutigkeit des politischen Systems sich der Zielgruppe der Migranten verstärkter zuzuwenden, läßt sich an den widersprüchlichen Aussagen des KJHG und des Ausländerrechtes verdeutlichen.

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Als im Jahre 1922 das damalige Reichsjugendwohlfahrtsgesetz in Kraft trat, war das Hilfeversprechen des Staates auf die deutschen Jugendlichen beschränkt. Das heutige KJHG dagegen stellt einen Fortschritt dar, wenn es in seiner Leitnorm im § 1 das Recht auf Erziehung für jeden Jugendlichen einfordert. Damit trägt das KJHG meiner Meinung nach dem Umstand Rechnung, daß die Bundesrepublik schon längst zu einem Einwanderungsland geworden ist, und die Jugendhilfe ihre spezifischen Angebote allen Jugendlichen zur Verfügung stellen muß, u.a. eben auch jenen, die bei den schwierigen Migrationsprozessen einer Hilfestellung bedürfen. So weit so gut.

Im krassen Gegensatz zur Leitnorm des KJHG steht, daß die Inanspruchnahme von Jugendhilfe nach dem Ausländergesetz Ausweisungstatbestand für junge Menschen ohne deutschen Paß sein kann. Im § 46 Ziff. 7 des Ausländergesetzes wird festgehalten, daß derjenige ausgewiesen werden kann, der wirklich Hilfe zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie oder Hilfe für junge Volljährige nach dem 8. Sozialgesetzbuch erhält; das gilt nicht für einen Minderjährigen, dessen Eltern oder dessen alleinpersonenberechtigter Elternteil sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.

Was auf den ersten Blick plausibel klingen mag, verkennt die Tatsache, daß die Jugendhilfe gerade erst dann tätig werden soll, wenn die Erziehungsfunktion der Eltern nicht oder nicht in vollem Umfang gewährleistet ist. Innerhalb der ausländischen Familien werden aufgrund der Niederlassung in der Bundesrepublik Generationskonflikte offenbar, die auch in Zukunft den Einsatz der Jugendhilfe vor allem dann fordern, wenn die Eltern der Minderjährigen in ihr Heimatland zurückkehren, die Minderjährigen selbst aber in ihrem Heimatland - der Bundesrepublik Deutschland nämlich - bleiben. Um es klar zu machen: Gerade dann, wenn die Jugendhilfe dem Jugendlichen zu seinem Recht auf Erziehung verhelfen will, trifft sie auf einen juristischen Umstand eines Ausweisungstatbestandes.

Wie die Jugendhilfe selbst zum Ausweisungstatbestand werden kann, möchte ich noch mit einem zweiten Beispiel belegen. Der Gebrauch von stoffgebundenen Suchtmitteln wie Heroin, Kokain etc. ist nach dem jetzigen Ausländergesetz kein Ausweisungstatbestand. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß die zur Zeit in der parlamentarischen Beratung sich befindende Strafrechtsreform hier wahrscheinlich eine weitere Verschärfung mit sich bringt. Zur Zeit ist es jedenfalls so. daß nur dem eine Aus-

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weisung droht, der "nicht zu einer erforderlichen seiner Rehabilitation dienenden Behandlung bereit ist oder sich ihr entzieht". In diesem Fall ist also die Verweigerung der Hilfe (Rehabilitation) durch den ausländischen Menschen Ausweisungstatbestand, im anderen kaum die Inanspruchnahme der Hilfe (Jugendhilfe) die Ausweisung zur Folge haben.

Ein weiterer Problemkreis des Widerspruchs zwischen dem Anspruch der Jugendhilfe mit seinem Recht auf Erziehung und der rauhen Wirklichkeit findet man im Schulpflichtgesetz. So stehen z.B. das Schulpflichtgesetz und das KJHG in einem eklatanten Widerspruch, denn für eine wachsende Gruppe von jungen Menschen existiert in diesem Lande keine Schulpflicht. Es sind dies die Kinder von Flüchtlingen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, daß bezüglich der Migrationsmotivation eine gewaltige Verschiebung stattgefunden hat. Waren weltweit in den sechziger und siebziger Jahren die Suche nach einem Arbeitsplatz der Grund, weshalb Menschen ihr angestammtes Heimatland verlassen haben, so ist heute die erzwungene Flucht der prioritäre Auswanderungsgrund schlechthin.

All diesen Flüchtlingskindern wird nun in der Bundesrepublik ein Recht, besser noch die Pflicht auf Beschulung verweigert. Dies bedeutet, daß ihnen die hiesige Gesellschaft sehr deutlich vermittelt. daß sie lediglich Gäste auf bestimmte Zeit sind, denen man selbst das elementare Recht auf Beschulung vorenthält.

Ein anderes Gesetz, nämlich das Arbeitsförderungsgesetz, steht ebenfalls im Konflikt mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Es ist nämlich den ausländischen Flüchtlingskindern weitgehendst verboten, in Deutschland eine Berufsausbildung aufzunehmen. Nun wissen wir, daß die gesellschaftliche und soziale Integration hauptsächlich durch die Ausübung eines Berufes hergestellt und gesichert wird. Da man diese gesellschaftliche Integration bei den Flüchtlingskindern nicht anstrebt, wäre zumindest die Möglichkeit einer Berufsausbildung mit einer Art von Entwicklungshilfe zu begründen. Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel geben: Allein in Berlin leben 3.000 bosnische Jugendliche in einem ausbildungsfähigen Alter. Wir alle wissen, daß viele von ihnen auch in den nächsten drei Jahren nicht in ihr Land zurückkehren werden können. Was läge denn näher, als diesen Jugendlichen eine Berufsausbildung mit auf den Weg zu geben, die sie befähigt, ihr Land wieder neu aufzubauen. Was für eine Demütigung muß

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das sein, Qualifikationen für den Aufbau eines geschundenen Landes erwerben zu wollen, und nur wegen des Fehlens eines deutschen Passes diese nicht erhalten zu können.

Soweit zur Erwähnung einer notwendigen Klarstellung, das die Politik der Jugendhilfe Interventionsmöglichkeiten bewußt vorenthält, sie ausgesperrt wird. Die Jugendhilfe hat zwar den Anspruch, allen Jugendlichen das Recht auf Erziehung und soziale und gesellschaftliche Integration zu garantieren, aber nicht alle Jugendlichen sind davon betroffen.

Soweit diese Ausführungen zur juristischen Aussperrung der Jugendhilfe.

Ich möchte nun zu dem eigentlichen Thema meines Vortrags kommen, nämlich der Migrationssozialarbeit innerhalb der Jugendhilfe. Wie ich schon bemerkte, ist die gesellschaftliche und soziale Integration in unserer Gesellschaft hauptsächlich durch die Ausübung eines Berufes gewährleistet. Ein Beruf, und der damit verbundene Erwerb von Geld sichert die eigenständige Existenz und damit eine notwendige Voraussetzung zur sozialen Integration. Wo der Einstieg in eine Erwerbsbiographie nicht gewährleistet ist, sieht das KJHG im Art. 13 bei der Zielgruppe sozial benachteiligter oder individuell beeinträchtigter Jugendlicher eine Hilfestellung vor, die die schulische und berufliche Integration fördert. Ein Blick in die Praxis zeigt, daß insbesondere in den Einrichtungen der Jugendberufshilfe eingewanderte junge Menschen signifikant stark vertreten sind. Der überproportional starke Anteil von Jugendlichen ohne deutschen Paß an den Maßnahmen der Jugendberufshilfe resultiert auch aus der Tatsache, daß die Versorgung der für eine Ausbildung in Frage kommenden Altersgruppe ausländischer Jugendlicher nach wie vor äußerst schlecht ist; nach einer Studie von Ursula Boos-Nünning waren Ende 1990 bezogen auf die Gesamtzahl der 15- bis 18jährigen Jugendlichen nur 27% der griechischen, 35,5% der türkischen, 40% der jugoslawischen, 43% der italienischen, 44% der portugiesischen und 49% der spanischen Jugendlichen in einer beruflichen Ausbildung. Die Vergleichszahlen für die deutschen und ausländischen Jugendlichen zusammen liegt bei über 72%. Über die Gründe für die mangelnde berufliche Integration junger eingewanderter Menschen sprechen die Schulabschlüsse Bände. Obwohl sich die Schulleistungen der jungen Migranten innerhalb der letzten 13 Jahre deutlich verbessert haben, stellen sie heute immer noch mit 13.8% die stärkste Gruppe, die die Hauptschule ohne Abschluß verläßt. Im Vergleich dazu sind es lediglich

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6,4% der deutschen Jugendlichen. Auch die Zahl der Schüler, die nach Klasse 9 den Hauptschulabschluß erhalten, ist mit 12,4% ausländischer Jugendlicher zu 5,9% deutscher Jugendlicher signifikant hoch. Interessant ist nun, daß sich bei dem höherwertigen Schulabschluß der Fachhochschulreife die Relationen zwischen deutschen und eingewanderten Jugendlichen zugunsten der ausländischen Schüler verschieben. So erlangen 1,7% der deutschen Schüler/Innen eine Fachhochschulreife, und 1,4% der ausländischen Jugendlichen. Die Fachoberschulreife ist die attraktivste Schulform für die Migrantenschüler. Sie stellen 35,5% der Abgänger, die Deutschen 41,5%. Mit der Hochschulreife verlassen 29,3% der Deutschen das Schulsystem, und immerhin 10,8% der ausländischen. was deren ungefähren Anteil an der Schülerpopulation ausdrückt.

Bezüglich der Schulabschlüsse kann so festgehalten werden, daß es einem nicht geringen Teil ausländischer Jugendlicher gelingt, sich mittels schulischer Selektionsmechanismen gute Berufsaussichten zu sichern. Diese Jugendlichen gehören wahrscheinlich nicht unbedingt zum klassischen Klientel der Jugendhilfe, ihre Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft kann zumindest bezüglich der schulischen und beruflichen Integration als geglückt bezeichnet werden. Die Mehrheit jedoch verläßt die Schule mit Abschlüssen, die in Zukunft keinerlei Garantie mehr Für einen Arbeitsplatz bieten. Allein die Prognos-Studie zur Zukunft des Arbeitsmarktes sagt einen Rückgang der Einfachstarbeitsplätze von 3,7 auf 1,7 Millionen im Jahr 2010 voraus.

Um der drohenden Marginalisierung ausländischer Jugendlicher auf dem Arbeitsmarkt entgegenzuwirken, bedarf es einer verstärkten Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Indem Jugendhilfe und Schule kooperieren, wird die Bildungsstätte Schule um sozialpädagogische Inhalte erweitert. Dazu gilt es vorhandene Strukturen auszubauen, weiterzuentwickeln und neue Ansätze zu erproben.

Besonders die Jugendsozialarbeit, der in dem KJHG im §13 Abs. 4 die Kooperation mit der Schule vorgeschrieben wird, ist hier gefragt. Es ist jedoch festzuhalten, daß innerhalb der Jugendsozialarbeit ein Nachholbedarf in bezug auf die verschiedenen Zielgruppen der jungen Migranten vorherrscht. Nur mit dem Etikett der sozialen Benachteiligung versehen, wird man den Bedürfnissen dieser Jugendlichen nicht gerecht. Was Not tut ist Kompetenz und Innovation, die eine bewußte interkulturelle Öff-

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nung der Jugendsozialarbeit zum Ziel hat. In der interkulturellen Jugendsozialarbeit stellt sich nicht nur die Frage nach dem Unterschied zwischen einem türkischen und einem griechischen Jugendlichen; man kann diese Frage auch inhaltlich beantworten.

Mit dem Schlagwort der interkulturellen Erziehung verbinden sich viele Erwartungen, die in der Praxis oftmals nicht einzulösen sind. Wichtigstes Merkmal der interkulturellen Orientierung ist nicht ein Konzept, sondern die Haltung, die eine dialogische Beziehung ermöglicht. Eine dialogische Beziehung setzt Gleichwertigkeit, Toleranz und Akzeptanz voraus. Interkulturell-orientierte Sozialarbeit bedeutet, diese Qualität bzw. diese Haltung aufzugreifen. Wichtig für die interkulturelle Erziehung scheint mir auch die Forderung zu sein, mit deutschen und ausländischen Jugendlichen gemeinsam zu arbeiten. Nirgendwo sind die Bedingungen für Verständnis, Toleranz und Miteinander weniger gegeben, als in jenen Einrichtungen der Jugendhilfe, in denen, aus welchen Gründen auch immer, sich nur Deutsche oder z.B. nur Türken aufhalten. Im Jargon der Sozialpädagogik spricht man von sogenannten "gekippten Einrichtungen", die nur sehr schwer wieder multikulturell auszurichten sind, da das "eroberte" Jugendzentrum wie eine Trutzburg gegen "äußere Feinde" verteidigt wird.

Unabdingbar für eine interkulturelle Erziehung ist in diesem Zusammenhang vor allem ein kompetenter Mitarbeiterstab, der diese Haltung auch nach innen und außen vertritt. Leider gibt es keine Untersuchung darüber, wieviele ausländische Mitarbeiterinnen in den Maßnahmen der Jugendsozialarbeit tätig sind. Ich schätze diese Zahl nicht höher als maximal 5%. Während es heute in der Mädchensozialarbeit völlig unstrittig ist, daß diese Arbeit hauptsächlich von weiblichen Fachkräften geleistet wird, ist dieses Bewußtsein für die Arbeit mit jugendlichen Migranten eine Rarität. Dies liegt nicht nur daran, daß sich konfessionelle Träger oftmals weigern, muslimische Mitarbeiter einzustellen. Ursächlich wirkt hier wohl ein Bewußtsein, daß für die ausländischen Jugendlichen als Zielgruppe der Jugendhilfe keinerlei gesonderte Methodik der Sozialpädagogik notwendig sei. Ich führe dies auch auf die fehlende Lobby für diese Jugendlichen zurück. Der Frauenbewegung ist es z.B. gelungen, mädchenspezifische Ansatzpunkte innerhalb der Jugendhilfeförderung als einen festen Bestandteil zu verorten. Eine solche Selbstverständlichkeit steht für die jungen Zuwanderer weitgehendst noch aus.

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Gewiß kann die von mir geforderte interkulturelle Öffnung der Jugendsozialarbeit die Politik nicht ersetzen. Solange die Politik den ausländischen Jugendlichen das Gefühl vermittelt, hier lediglich geduldet und nicht als Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft akzeptiert zu sein, solange wird die Jugendhilfe lediglich kompensatorische Funktion übernehmen können.

Natürlich haben wir aufgrund unserer Anwaltsfunktion eine gewichtige Stimme, die auf die Notwendigkeit der Integration dieser Zielgruppe in unsere Gesellschaft hinweist. Jedoch scheint mir das Beharrungsvermögen und die Argumentationsresistenz der politischen Klasse und unserer Gesellschaft stark ausgeprägt, so daß ich mir nicht sicher bin, ob wir wirklich ernst genommen werden. Solange man den Tatbestand bestreitet, daß die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist, und daß die jungen Migranten ein integraler Bestandteil unserer Gesellschaft sind, solange wird die Jugendhilfe - ähnlich dem Wettlauf zwischen Hase und Igel - lediglich versuchen, mit ihren verschiedenen Angeboten das zu kompensieren, was die Politik an sozialen Verwerfungen produziert.

Druck-Ausgabe: Seite 84 = Leerseite


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

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