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Eberhard Seidel-Pielen:
„Deutschland den Deutschen" - Deutsches Nationalgefühl in rechten Jugendszenen


Druck-Ausgabe: Seite 51

Ich wurde von den Veranstaltern gebeten, zum deutschen Nationalgefühl in rechten Jugendszenen zu referieren. Die Gründe, weshalb wir uns heute über dieses Thema unterhalten, scheinen klar: Die bundesrepublikanische Gesellschaft wurde Ende der achtziger Jahre von einer scheinbaren Rechtswende eines Teils der deutschen Jugend überrascht. In Berlin liefen die Kommunikationsröhren heiß, als im Januar 1989, also Monate vor Öffnung der Mauer, bis zu 20% der Erstwähler die "Republikaner" wählten. Ähnliche Entwicklungen zeigten sich andernorts - in Bremerhaven, in Bayern, später dann auch in Baden-Württemberg. Nach Öffnung der Mauer dann die allseits bekannte Explosion rassistischer Gewalt in Ost und West.

Anders als Wilhelm Heitmeyer und Heike Roll kann ich Ihnen keine solide wissenschaftliche Analyse präsentieren, wie verbreitet eine "Deutschland den Deutschen"-Einstellung unter Jugendlichen ist. Der Grund ist ein einfacher: Ich arbeite nicht wissenschaftlich, sondern journalistisch. Die Arbeitsweisen sind unterschiedliche, die Anliegen ebenfalls. Und es liegt mir fern, die Grenzen zwischen Sozialwissenschaften und dem Journalismus verwischen zu wollen.

Meine Aufgabe als Journalist sehe ich denn auch nicht darin, abgesicherte und fertige Ergebnisse zu präsentieren, sondern Trends aufzuspüren, Entwicklungen zumindest phänomenologisch schneller zu beschreiben, als dies die Wissenschaft jemals könnte. Wenn ich als Journalist einigermaßen als Scheibenwischer fungieren kann, der die klarere Sicht auf sich entwickelnde Problemlagen ermöglicht, habe ich viel erreicht. Darüber hinaus bin ich Gesinnungstäter aus Passion. Weshalb? Um das Thema nicht allzu weit von meiner Person wegzurücken, möchte ich meinen biographischen Hintergrund an einigen Punkten erhellen: Ich bin in einem kleinen Dorf in Unterfranken aufgewachsen, in einem bäuerlich-handwerklichen Milieu. Ich habe dort viel über Landwirtschaft, Viehzucht und das Schreinerhandwerk gelernt, allerdings wenig über Demokratie, Zivil-

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gesellschaft, und auch Minderheiten. All diesen Dingen bin ich erst Jahre später begegnet. Meine -Heimat", das war ein deutsch-nationales Milieu mit starken anti-semitischen Tendenzen, das sich im Verlauf der sechziger Jahre nur zögerlich in die Moderne aufmachte. "Deutschland den Deutschen" - klar! In diesem Milieu war das keine Frage. Wem denn sonst? Etwa den Juden oder den Zigeunern. oder gar den Italienern und anderen Südländern, die im Verlauf der sechziger Jahre in Deutschland ankamen?

Ich erwähne das, weil ich weiß, daß in Deutschland zwischen veröffentlichter Meinung und dem privaten Diskussionszusammenhang eine größere Kluft besteht als in Ländern wie England, Schweden oder Frankreich. Die Kluft ist in Deutschland unter anderem deshalb so groß, weil sich der öffentliche Diskurs seit den fünfziger Jahren im Westen der Republik gar nicht anders artikulieren durfte als philosemitisch und demokratisch. Die veröffentlichte Meinung in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren, die fand sich in "Der Spiegel", "Der Stern" und in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten. Und diese veröffentlichte Meinung war der Demokratie, den westlichen Werten der Aufklärung, Toleranz und des Pluralismus verpflichtet. Das war gut so. Für die Rückkehr Deutschlands in den Kreis der zivilen Gesellschaften war sie unerläßlich. Aber jenseits dieser veröffentlichten Meinung, also in den privaten Diskussionszusammenhängen, sah es durchaus finsterer aus. Revanchismus, Antisemitismus, völkisches Denken lebten in Männerrunden. in Familien- und Verwandtschaftskreisen weiter.

Untersuchungen amerikanischer Soziologen. im Auftrag der Militärverwaltung (OMGUS) in den Jahren 1946 bis 1949 in den westlichen Besatzungszonen durchgeführt, vermitteln einen Eindruck von der Zählebigkeit antisemitischer und rassistischer Einstellungen. Sie ermittelten: Fast jeder zweite Deutsche (48%) hielt den Nationalsozialismus in diesen Jahren immer noch für eine gute Sache, nur sei die praktische Ausführung schlecht gewesen. Trotz intensiver Auflklärung über die Verbrechen in den Gefängnissen und den Vernichtungslagern hielten viele Deutsche auch nach Gründung der Republik am völkischen Rassismus fest. Und es war keine verschwindende Minderheit, die für sich den Nationalsozialismus zu rechtfertigen versuchte, indem sie Krieg und Judenvernichtung als vermeintliche "Fehlentwicklung" abtat. Auch Ende der siebziger Jahre war noch

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jeder dritte Deutsche davon überzeugt, daß Hitler ohne den Krieg einer der größten deutschen Staatsmänner gewesen wäre.

Und noch etwas gibt es in diesem Kontext privater Diskussionszusammenhänge zu bedenken. Das Deutschland der fünfziger und frühen sechziger Jahre war die Materialisierung eines alten deutschen Traums. Denn mit der Vernichtungspolitik zwischen 1933 und 1945 war in Deutschland die seit der Frühromantik diskutierte und herbeigesehnte ethnische und kulturelle Homogenität des deutschen Volkes erstmals annähernd hergestellt; bereinigt nicht nur vom jüdischen Element. sondern auch "befreit" von nonkonformistischen Lebensstilen, frei von Milieus, die sich politischen Gegenentwürfen verschrieben hatten oder gar alternative Lebens- und Sexualgemeinschaften zur heterosexuellen Kleinfamilie lebten. Kurz: Die Kindheits- und Pubertätsjahre der Bundesrepublik waren der Triumph des Kleinbürger- und Bauerntums, die im Schulterschluß mit dem Bürgertum den Werten Demokratie und Humanität bis einschließlich 1945 die "deutsche Idee" (wie es Lutz Hoffmann treffend ausdrückte) der homogenen Volksgemeinschaft entgegensetzten. Deutschland war in seiner Geschichte noch nie so "deutsch" wie zwischen 1945 und 1965. Natürlich war die Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre keine einfache Fortführung des nationalsozialistischen Staates. In den Köpfen hatte sich durchaus etwas bewegt, antisemitische Tendenzen nahmen langsam, aber kontinuierlich ab. Die Westdeutschen versuchten krampfhaft, sich vom Volksgenossen zum Citoyen weiterzuentwickeln. Mit bescheidenem Erfolg. Allzu viele blieben im Gespinst der ethnischen Reinheit verstrickt. Wie stark, das demonstriert ein Schreiben des Bundesinnenministeriums aus dem Jahr 1988. Darin heißt es: "Eine fortlaufend, nur von der jeweiligen Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktlage abhängige Zuwanderung von Ausländern würde die Bundesrepublik Deutschland tiefgreifend verändern. Sie bedeutete den Verzicht auf die Homogenität der Gesellschaft, die im wesentlichen durch Zugehörigkeit zur deutschen Nation bestimmt ist."

Sie merken, ich habe Ihnen immer noch nichts über das „Deutsche Nationalgefühl in rechten Jugendszenen" erzählt. Ich verspreche Ihnen, ich komme noch dazu.

Ich führe das bisher Gesagte keineswegs ins Feld, um bei der Suche nach dem bösen anti-semitischen und rassistischen Gen der Deutschen mitzuwirken. Das gibt es nicht. Es geht mir einzig darum. Strömungen und

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Untiefen in der Gesellschaft zu skizzieren. Die kartographierte Strömung, über die wir vergleichsweise viel wissen und die sich relativ leicht erforschen läßt, das war und ist die veröffentlichte Meinung. Lange Zeit außerhalb des Blickfeldes blieben allerdings die gesellschaftlichen Untiefen und unterspülten Sandbänke, bei denen niemand weiß, wann sie von unsichtbaren Strömungen weggespült werden.

Nochmals zurück in die fünfziger und sechziger Jahre, in die Zeit des "deutschesten aller Deutschlands", in die Zeit, als die Zuwanderung von Arbeitsmigranten nach Deutschland begann und sich dieses "deutsche Deutschland" langsam aufzulösen begann. Die SPD, die Gewerkschaften und viele Bürger waren 1955 dagegen, als die CDU und Unternehmerverbände drängten, mit Italien ein Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften abzuschließen, die damals mit Rückgriff auf den Nazijargon noch "Fremdarbeiter" hießen. Der Grund für die abwehrende Haltung der SPD und der Gewerkschaften war die Auffassung: "Erst wenn der letzte deutsche Arbeitslose in Lohn und Brot ist, dürfen Ausländer zum Arbeiten ins Land." Diese Meinung interessierte die herrschenden Eliten allerdings nicht. Auch 1960, als die Anwerbeabkommen mit Spanien, Griechenland und schließlich mit der Türkei eingetütet wurden, waren die Gegner keineswegs begeistert. Aber der Bundesarbeitsminister Theodor Blank (CDU) stellte 1960 klar: "Es gibt keine Alternative zur Ausländerbeschäftigung." In der Tat. Ohne Zuwanderer hätte die CDU die großen Aufgaben der frühen Bonner Republik - Westbindung, die Ideologie der sozialen Marktwirtschaft und natürlich das "Wirtschaftswunder" - kaum bewältigt. Verkürzung der Wochenarbeitszeit, die Absenkung des Rentenalters sowie die Remilitarisierung, all das hätte ohne Gastarbeiter nicht realisiert werden können.

Aber, wie gesagt, die Bevölkerung sah das aus vielerlei Gründen anders: So ermittelte das Wickert-Institut zum Beispiel im Herbst 1964, als der einmillionste Gastarbeiter von Unternehmerverbänden und politischen Vertretern mit großem Bahnhof empfangen wurde: "Die Deutschen sind gegen die Beschäftigung von Gastarbeitern." Auf die Frage: "Wenn die Arbeitszeit in der Woche eine Stunde länger sein würde und dadurch keine Gastarbeiter mehr in Deutschland notwendig wären - würden sie das begrüßen oder nicht?" antworteten 70% aller Männer und 64% aller Frauen, lieber länger arbeiten zu wollen. So viel zu „Deutschland den Deutschen"

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Mitte der sechziger Jahre. CDU und Arbeitgebervertreter setzten sich großzügig über diese Stimmung hinweg und übten sich in internationalistischer Rhetorik. Der damalige Arbeitsminister Blank: "Durch die Beschäftigung von Ausländern in Deutschland ist die Verschmelzung Europas und die Annäherung von Menschen Verschiedenster und Gesittung in Freundschaft Realität." Und „Die Welt" forderte in einer Antwort auf die zitierte Wickert-Studie sogar, Deutschland zum Einwanderungsland zu erklären: "Das ehrlich und nüchtern zu sehen und zu sagen, ist bisher versäumt worden." Auf diese Erklärung warten wir bekanntermaßen auch heute, 32 Jahre später immer noch.

In den sechziger Jahren reichten deutliche Worte der politischen Eliten, um aufkeimende ausländerfeindliche Ressentiments in die Grenzen der Stammtische und anderer Bruderschaften wie Schützen- und Gesangsvereine zu verweisen. Prosperität, Konsum und Verbesserung sozialer Standards taten das übrige, den demokratischen Konsens in jenen Jahren herzustellen. Ein, zwei, drei Millionen Ausländer konnte man in diesen Jahren, zwar widerwillig, aber doch irgendwie aushalten.

Breiter nationalistischer Widerstand formierte sich in den Prosperitätsjahren der Republik nur kurzfristig, als es um den „Verrat" Willy Brandts, also um die Ostverträge und die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, ging. Das war bis weit in die siebziger Jahre hinein der kurze historische Moment, als „Deutschland den Deutschen" zu einer bestimmenden Kraft wurde. Lange hielt das nicht vor. Die Republik schritt weiter Richtung Zivilgesellschaft voran und gönnte sich eine wundersame Generation - meine, die in den fünfziger und frühen sechziger Jahren Geborenen. Wundersam ist diese Generation aus folgenden Gründen: Ihr Start ins Leben war sagenhaft; sie kamen in den vollen Genuß der Bildungsoffensive, durften mehr Demokratie wagen; vieles, ja alles schien machbar.

"Deutschland den Deutschen" - das war kein Slogan, kein Identifikationsmodell für die, die eine allseits entwickelte Persönlichkeit in Basisinitiativen, selbstverwalteten Projekten und den neuen sozialen Bewegungen erstrebten.

Aber halt! Auch in dieser Generation gab es andere Strömungen. 1977 gründete der inzwischen verstorbene Neonaziführer Michael Kühnen die "Aktion Ausländerrückführungen - Volksbewegung gegen Überfremdung und Umweltzerstörung". Hauptanliegen dieser Organisation war neben

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dem bis heute verfolgten Herzensanliegen der Neonazis - die Wiederzulassung der NSDAP - die "Rückführung" aller Ausländer. Instinktsicher griff Michael Kühnen die latente Angst vieler Bundesbürger vor einer Überfremdung durch Südländer auf. Großen Erfolg hatte er unter den Gleichaltrigen noch nicht. "Deutschland den Deutschen", das war auch Ende der siebziger Jahre kein Slogan, der bei jungen Deutschen allzu sehr verfing. Lieber arbeitete sich die Generation vor den Bauzäunen der AKW's ab und beschwor in Dritte-Welt-Gruppen die internationale Solidarität. Dennoch, die radikale Rechte hatte mit dem "Ausländer–Raus"–Thema ein Feld besetzt, bei dem es große Schnittmengen und zahlreiche Berührungspunkte mit der demokratischen Mitte gab. Denn inzwischen hatte sich auch die Tonlage der politischen Eliten gegenüber "Gastarbeitern", wie die Arbeitsmigranten immer noch genannt wurden, verändert. 1973, im Zusammenhang mit der sogenannten Ölkrise, wurde der Anwerbestopp verhängt. Und der damalige Kanzler Helmut Schmidt wäre vor allem die Türken gerne wieder los geworden, zumindest wollte er deren Zuzug begrenzen. Aber all die Maßnahmen, die die sozialliberale Koalition ergriff, erwiesen sich als wenig „erfolgreich".

Natürlich war Ende der siebziger Jahre schon längst nicht mehr wie 1964 die Rede davon, daß sich Deutschland endlich zum Einwanderungsland erklären müßte. Einige Jahre bevor sich die ersten Jugendszenen zusammenschlossen, um "Deutschland den Deutschen" zu skandieren und Ausländer zu verprügeln, formierte sich ein bürgerlicher Mob, der nun in Zeiten sich entwickelnder ökonomischer Krisen an altdeutsche Traditionen ethnischer Homogenität anknüpfte, um neudeutsche Identität zu bilden. Ich nenne ihn deshalb den "bürgerlichen Mob", weil er in seiner Mehrheit zu feige war, sich offen und klar zum international geächteten deutsch-völkischen Denken zu bekennen. Nichtsdestotrotz betrieb die bürgerliche Mitte eine Politik der völkischen Nadelstiche in den Hintern der bislang schweigenden und gezähmten deutschen Mehrheitsgesellschaft. Denn nun sollte sich mobilisieren und formieren, was in den Jahrzehnten zuvor in die Latenz zurückgedrängt war.

Einige dieser „Stichler" mit der Botschaft „Deutschland den Deutschen" möchte ich beim Namen nennen:

  • a) Am 22. Januar 1980 schreibt Prof. Schröcke in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Völker sind (kybernetisch und biologisch) leben-

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    de Systeme höherer Ordnung mit voneinander verschiedenen Systemeigenschaften, die genetisch weitergegeben werden."

  • b) Am 16. November 1980 überschreibt der liberale "Tagesspiegel" in Berlin einen Kommentar mit der Forderung: "Mehr Wohnungen, weniger Türken", weiter heißt es darin: "Berlin muß, wenn es als solches für deutsche Zuwanderer und seine deutschen Einwohner attraktiv bleiben will, vor einer mathematischen Überfremdung durch Familienzusammenführung bei hoher Fruchtbarkeit bewahrt bleiben."

  • c) Am 17. Juni 1981 schließlich wird von elf Professoren das "Heidelberger Manifest" unterzeichnet und publiziert: "Mit großer Sorge beobachten wir die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von Millionen von Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur unseres Volkstums. (...) Gegenüber der zur Erhaltung unseres Volkes notwendigen Zahl von Kindern werden jährlich kaum mehr als die Hälfte geboren. Bereits jetzt sind viele Deutsche in ihren Wohnbezirken und an ihren Arbeitsstätten Fremdlinge in der eigenen Welt."

  • d) Einflußreiche Kreise der Christenunion (Heinrich Lummer, Alfred Dregger, Friedrich Zimmerman u.a.) setzen nun, wir sind in den Jahren 1981 und 1982, verstärkt auf die Ethnisierung sozialer Konflikte.

  • e) Im Wendewahlkampf zur vorgezogenen Bundestagswahl 1982/1983 verspricht die CDU, sowohl die Zahl der Arbeitslosen als auch die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer erheblich zu reduzieren. Ein Kausalzusammenhang ist gezogen. Er wiegt um so schwerer, als die Bürger Anfang der achtziger Jahre tief verunsichert sind. Zwei Millionen Arbeitslose, eine drohende Jugendarbeitslosigkeit von bisher unbekanntem Ausmaß droht, berufliche Dequalifizienungsprozesse im Zusammenhang mit der Modernisierung der Volkswirtschaft - Stichworte: Automatisierung und Rationalisierung - verunsichern. Das "Modell Deutschland" zeigt Risse, die integrative Kraft der Konsum- und Wachstumsgesellschaft erlahmt. Ethnische Rückbesinnung und ethnische Identifikationsmodelle werden zu Instrumentarien des politischen und ökonomischen Krisenmanagements.

Zwar hört man nun hin und wieder, aber immer noch recht wenig von militanten und "Deutschland den Deutschen"-rufenden Jugendcliquen.

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Aber dafür sorgt am 17. Juni 1983 der Marsch der "Konservativen Aktion" auf Kreuzberg und ihrer "Heimkehr"-Aufforderung an die Türken für Aufmerksamkeit. Zur Erinnerung: Die "Konservative Aktion" wurde 1981 von dem CSU-Mitglied Ludek Pachmann, dem ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal, dem Soziologieprofessor und Strauß-Fan Lothar Bossle und dem Likörfabrikant Ludwig Eckes gegründet.

Nun ist die Zeit reif. Nachdem rassistische und nationalistische Ressentiments jahrzehntelang in die Latenz abgedrängt waren, gerät die "Deutschland den Deutschen"-Fraktion spürbar in Bewegung. Im Windschatten des "bürgerlichen Mobs" formieren sich militante Szenen randständiger Jugendlicher, die die bürgerlichen Slogans aufgreifen und in die Sprache der jugendlichen Subkulturen übersetzen. Die "Böhsen Onkelz" veröffentlichen 1983 in Frankfurt ihren Kult- und Haßsong „Türken raus" auf einem tausendfach kopierten Demotape. Und in Bremen ruft die Skinheadband "Endstufe" 1984 mit ihrem Song „Neue Kraft" den kurzhaarigen Kreuzritterorden zum Heiligen Krieg auf:

Ihr klaut einfach unsere Frauen,
Dann nehmen wir eure, wollt ihr uns verhauen.
Ihr denkt einfach, ihr seid besser,
Eure Argumente sind ja eure Messer.
Das schlaffe Volk, das könnt ihr unterdrücken,
Doch deutsche Skinheads, die werdet ihr nicht ficken.

Später im Text wird prophezeit:

Die deutsche Kultur muß höher liegen,
Und abends könnt ihr erst mal eure Gräber pflegen.
Zwischen Asche, Schutt und Rauch
Bleibt dann nur noch ein mieser Knoblauchhauch ...

1984, das war auch das Jahr, in dem Wilhelm Heitmeyer das Thema „Rechtsorientierung unter Jugendlichen" aufgegriffen hat. Ein großes öffentliches Interesse an seinen Erkenntnissen bestand allerdings nicht.

Die achtziger Jahre sind nicht nur ein integrations- und ausländerpolitisch "verlorenes Jahrzehnt", wie es Klaus J. Bade formulierte, es ist auch das Jahrzehnt, in der sich unter Jugendlichen ganz unterschiedliche rechte Milieus formieren. Zwischen beiden Entwicklungen gibt es natürlich einen engen Zusammenhang.

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Da haben wir die rechten Junge-Union-Gruppen, aus denen heraus exponierte Leute wie Carsten Pagel (später "Republikaner") und Thorsten Thaler (heute Mitarbeiter der "Jungen Freiheit") mit Unterstützung etablierter Politiker wie dem heutigen CDU-Europaabgeordneten Peter Kittelmann ihre Karrieren entwickelten. Es gab die militanten Ausformungen in Gestalt von radikalen rechten Skinheadgruppen und Hooligans, die sich in den Einwanderervierteln der Republik alltägliche Kämpfe vor allem mit türkischen Jugendlichen lieferten. Und dann gab es natürlich die Agitations- und Anwerbungsbemühungen neonazistischer Organisationen wie "Nationalistische Front", "FAP" und andere.

Gerne hätte man in der Vergangenheit diese Entwicklung als Jugendphänomen diskutiert, mit der Hoffnung, daß sich das Problem mit dem Heranwachsen von alleine auswachsen werde. Indes, es ist dramatischer. Die Rechtsorientierung eines Teils der in den achtziger Jahren gesellschaftlich und politisch sozialisierten Jugendlichen fällt um so schwererer ins Gewicht, als sie die erste Generation sind, die anders als die Alten von Kindesbeinen an in einem interkulturellen Kontext aufgewachsen sind. Wenn nun just in dieser interkulturellen Generation ethnische Orientierung wieder eine größere Rolle spielen, dann ist danach zu fragen: Was wurde in den achtziger und neunziger Jahre versäumt, um sie in die Lage zu versetzen, mit ihren Altersgenossen türkischer, griechischer oder exjugoslawischer Herkunft eine gemeinsame und solidarische Perspektive zu entwickeln? Oder anders gefragt: Ist es überhaupt erwünscht, daß sie das tun? Oder folgendermaßen gefragt: Kommen ethnische Konflikte den politischen Kreisen zugute, die auf die Entsolidarisierung der Gesellschaft setzen? Geben Sie sich selbst eine Antwort.

Ich möchte an dieser Stelle nur darauf verweisen, daß unter der Regierung Helmut Kohl große Anstrengungen unternommen wurden, zu verhindern, daß die in der Bundesrepublik Deutschland aufwachsende Jugend sagen kann: "Das ist unser aller Land," Weder die gesellschaftlichen Institutionen noch die Macht- und Entscheidungszentralen wurden an die veränderte demographische Entwicklung angepaßt. Es wurde nahezu nichts unternommen, das Zu- oder Einwanderungsland Deutschland politisch auszugestalten. Ob nun das kommunale Wahlrecht, das Staatsangehörigkeitsrecht, Bildungsinhalte - in all den zentral wichtigen Punkten gab und gibt es heftigen Widerstand gegen eine Neudefinition der Bundesrepublik Deutsch-

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land, die seiner Bewohnerschaft gerecht würde. Die Folge: Die Einfallstore in ethnisch definiertes Denken und Handeln sind weit geöffnet. Und sie werden genutzt, wenn es der Verbesserung der eigenen Lebenssituation nützlich erscheint.

Die Ergebnisse sind bekannt, auch die Erscheinungsformen der gewaltbereiten Jugendszenen. Falls im Anschluß an mein Referat noch voyeuristisches Interesse an der Beschreibung der einen oder anderen Szene besteht, kann ich diese liefern. Ich möchte allerdings noch eine Erscheinungsform ethnischen Denkens im Osten der Republik ansprechen, die sich nicht umstandslos aus dem bisher vorgetragenen Thesen ableiten läßt. Ich möchte mich angesichts der Zeit allerdings auf einen in meinen Augen bislang zu wenig berücksichtigten Aspekt beschränken, den militanten Antikapitalismus und Antipluralismus.

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Das Ost-Phänomen: Militanter Antikapitalismus

Fremdenfeindlichkeit ist keine ostdeutsche Spezialität. Schwandorf, Mölln, Solingen, vielleicht auch Lübeck - im Westen, nicht im Osten wurden Menschen bei heimtückischen neonazistischen Anschlägen verbrannt.

Und dennoch gibt es ein Ostproblem. Fremdenfeindliche Straftaten nehmen seit 1993 bundesweit ab. Von 6.721 (1993) und 3.491 (1994) auf 2.468 (1995) - bundesweit, wohlgemerkt. Der Osten geht eigene Wege. In Sachsen-Anhalt verdoppelte sich die Zahl fremdenfeindlich motivierter Straftaten zwischen 1993 und 1994. Im gleichen Zeitraum verdreifachte sich die Zahl der aktiven Neonazis. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen stieg die Summe fremdenfeindlicher Straftaten 1995 erneut um 30%.

Die Meldungen dieser Tage mögen beunruhigen, aber die Zahlen offenbaren: Es schwappt keine neue Welle rechter Gewalt über die Republik. Ein altes Thema wird lediglich neu ventiliert. Sie dokumentieren allenfalls den verkommenen Zustand der bundesdeutschen Medienindustrie, für die erst etwas zur beachtenswerten Realität wird, wenn „Der Spiegel" und die „Tagesthemen" sich eines Themas erbarmen. Viele Kommentatoren lesen ihre eigenen Zeitungen offensichtlich wie Versicherungsverträge - das

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Kleingedruckte wird nicht beachtet. Denn in der Vergangenheit gab es keinen Mangel an einschlägigen Kurzmeldungen. Wer wollte, der konnte wissen: Es herrscht keine Ruhe im Land.

Ruhe herrschte seit 1994 nur in der öffentlichen Diskussion. Rassismus, Rechtsextremismus und das Begriffspaar Jugend und Gewalt waren kein "Thema" mehr. Warum? All die Argumente über Arbeitslosigkeit, fehlende Tischtennisplatten, zerrüttete Familien, wer wollte und konnte sie noch hören? Ein Problem war totgeschwafelt, bevor sich wirklich etwas zum Besseren gewendet hatte.

Aus der rechten Gewaltszene war für die Unterhaltungsindustrie beim besten Willen nichts mehr quotenträchtiges herauszuquetschen. Nach dem Höhepunkt Solingen (1993) blieben Steigerungen und Novitäten auf dem Markt der Niederträchtigkeiten aus. Das Publikum begann sich zu langweilen, es fehlte der Thrill.

Und nach all den Selbstgeißelungen („Der alte Schoß ...") und Goodwill-Aktionen ("Mein Freund ist ...") beanspruchte auch der kritische Bürger europäische Normalität.

Und gab es die nicht? Befreites Aufatmen war im Land zu hören, als nach der Reichstagsverhüllung und den Liebesparaden die internationale Presse das neue, unbeschwerte und lockere Deutschland lobte.

Ein weiteres Aufatmen, als militante PKK-Aktivisten die Bühne betraten. Nun herrschte Klarheit: Ein Anschlag muß nicht von einem Deutschen verübt sein. Inzwischen sind wir so locker geworden, daß es selbst deutsche Brandschutzexperten am nötigen Ernst bei ihrer Arbeit vermissen lassen.

Die Frage bleibt: Warum gehen Jugendliche im Osten und Westen seit 1993 zunehmend getrennter Wege? Gibt es plötzlich blühende Landschaften im Westen? Mehr Tischtennisplatten und Abenteuerreisen? Haben Westjugendliche weniger Frust und es plötzlich weniger nötig, sich an den Schwächsten der Gesellschaft zu vergreifen? Und bleibt dem gedemütigten, geknechteten und ausgeplünderten Osten einmal mehr nur die (fremdenfeindliche) Randale als Protestform gegen Lehrstellennot und Betriebsschließungen?

Erst kommt das Fressen und dann die Moral - diese vulgärmarxistischen Verklärungsansätze werden dieser Tage wieder aus dem Zylinder gezaubert.

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Ja, der Kapitalismus ist zynisch, gewalttätig und ungerecht. Wer hätte das gedacht? Die Ostdeutschen sollten das nicht so persönlich nehmen. Ja, es gibt ein Problem im Osten. Nein, ich meine nicht die Deindustrialisierung ganzer Regionen. Die ist nun fürwahr nicht ostspezifisch. Seit 20 Jahren leben die Werktätigen des Saarlands, des Ruhrgebiets, Westberlins und Bremens damit. Und fangen wir gar nicht erst an, über Dimensionen der Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich, Italien oder Spanien zu reden.

Auch eine Arbeitslosenrate von 20% und mehr in einigen Landkreisen Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsen-Anhalts sind zwar ein gesellschaftspolitischer Skandal, beeindrucken mich aber nicht übermäßig. In Westberliner Bezirken wie Neukölln, Wedding und Tiergarten leben mehr als 40% der Menschen von Arbeitslosengeld, -hilfe oder Sozialhilfe, zum Teil seit zwei Generationen.

Mich beschäftigt die Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Sonderweg Ost, der dort vorherrschenden Nabelschau (wann hat sich eigentlich ein Ostler jemals zum sozialen Elend in Essen oder in Bremerhaven geäußert?) und den häufig zu hörenden nationalbolschewistischen Tönen:

Kauft Ostprodukte!
Gutes setzt sich durch!
Der Osten wird vom Westen kolonialisiert!
Die Wessis sind dumm, arrogant, Prahlhanse.
Ein Hoch der Ostidentität!
Wir waren erotischer, solidarischer, menschlicher als ihr. Auch unsere Rockmusik war besser! Natürlich auch die Sportler.

Wer aus Minderwertigkeitsgefühlen heraus zum Größenwahn neigt, folglich in Impertinenz das hohe Lied des pfiffigen, guten und letztlich überlegenen Ostmenschen pfeift, sein Antiwestlertum pflegt, der braucht sich nicht zu wundern. Schon gar nicht darüber, wenn an der Ostseeküste oder in der Altmark ein paar junge Superossis Weicheiern aus dem Westen zeigen, wo Bartel den Most holt.

War doch klar, daß dieses anhaltende Lamento, wie übel man dem Osten nach 1990 mitspielte, Folgen zeigt, Rabauken eine Orientierung für ihre unruhigen Fäuste finden.

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Westberliner Schulklassen bekamen sie zur Genüge und handfest zu spüren. Sie meiden nicht erst seit dem Sommer 1996 so heimelige Fleckchen wie Usedom, Rügen, den Ostharz oder den Süden Sachsens, sondern seit sechs Jahren. Hier ist nun die Stelle, innezuhalten und kurz zu überlegen: Kann es sein, daß seit der Wiedervereinigung so ganz unterschiedliche Parteien wie die CDU und die PDS den Humus für Xenophobie bereiten?

Erinnern wir uns: Als völkische Straßenbanden in der ersten Hälfte der neunziger Jahre mit Vorliebe Türken und dunkelhäutige Asylbewerber terrorisierten und ermordeten, waren sich viele einig: Die Anti-Asyl-Kampagne, ein überlegtes Staatsangehörigkeitsrecht, institutionalisierter Rassismus und das Spiel mit xenophoben Ressentiments seitens Teilen der CDU und SPD als Strategie des ökonomischen Krisenmanagements waren die Ingredienzen, die die Eskalation der rechten Gewalt förderten. Auch herrschte im folgenden Punkt weitgehend Einigkeit: Die rechtsradikalen Gewalttäter ziehen ihre Hinweisreize aus dem Diskurs der politischen Mitte. Wenn rechts orientierte Jugendliche gegen Ausländer und Vertreter anderer, stigmatisierter Minderheiten ins Feld ziehen, glauben sie, im Interesse der Bevölkerung zu handeln.

Und woher beziehen die Kerle beim Wessiaufmischen ihre Hinweisreize? So ganz klar ist mir das nicht. Allerdings fällt mir bei Interviews mit Rechtsradikalen und Neonazis aus dem Osten immer wieder deren ambivalentes Verhältnis zur PDS auf. Natürlich lehnen die Gesprächspartner das Sozialistische der Partei ab. Aber von deren Ostpatriotismus, dem Antiwestlertum und der Forderung ‘(ostdeutsche Arbeitsplätze für (Ost)Deutsche’, davon sind sie schon begeistert.

Wie gesagt, rechtsradikal motivierte Gewalt gibt es auch im Westen. Die Motive und Ursachen dürften ähnliche sein wie im Osten. Aber vom "Ossiklatschen" als Freizeitbeschäftigung der gelangweilten Landjugend, davon habe ich bislang nichts gehört. Sollte es daran liegen, daß es im Westen keine Partei gibt, die die Westidentität als de-facto ethnische verherrlicht und in expliziter Abgrenzung zum Osten glorifiziert?

Druck-Ausgabe: Seite 64 = Leerseite


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

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