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Vorbemerkung

Druck-Ausgabe: Seite 5

Neuere Forschungsberichte sowie die Ergebnisse aus von uns bisher vorgelegten Tagungsdokumentationen belegen, daß Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Gruppierungen in Deutschland zunehmen. Die Spannungen zwischen Einheimischen und Zuwanderern, aber ebenfalls zwischen verschiedenen Ausländergruppen verstärken sich. In der Öffentlichkeit werden jedoch auch Verteilungskonflikte oder ideologische Auseinandersetzungen als ethnische Konflikte bewertet.

Auch die Integration der jugendlichen Zuwanderer verläuft nicht problemlos. Die Frage, wie es dazu kommt, daß ethnische Orientierungen auch unter Jugendlichen - sowohl bei Deutschen als auch bei Zuwanderern - zunehmend an Bedeutung gewinnen, und wie diese das Zusammenleben in den Städten beeinflussen, stand daher im Mittelpunkt der Fachkonferenz des Gesprächskreises Arbeit und Soziales der Friedrich-Ebert-Stiftung am 28./29.10. 1996 in Hannover.

Ziel war es, Erklärungsansätze sowie Handlungsmöglichkeiten zu diskutieren. Denn insbesondere Politiker und Praktiker benötigen Lösungsansätze, um mit dieser Art von Konflikten angemessen umgehen zu können.

Die Vorträge und Statements der Fachkonferenz werden in dieser Broschüre publiziert. Mein Dank gilt allen Referentinnen und Referenten für die Bereitstellung ihrer Manuskripte für diese Veröffentlichung sowie den Teilnehmern für ihre Mitwirkung an der Tagung. Danken möchte ich auch dem Mesut und Mustafa Duo, den Multi-Kulti-B-Boys, Zahra Deilame und ihren Kolleginnen sowie den Berichterstattern der Jugendbegegnung in Rußland, die mit ihren Beiträgen den Abend gestaltet haben.

Meinem Kollegen Günther Schultze danke ich für die Ausarbeitung der Tagungskonzeption sowie für die Tagungsleitung. Für die Organisation und den reibungslosen Ablauf der Tagung waren Grete Berendt und Maha Rindermann verantwortlich. Grete Berendt hat auch die Erstellung der Broschüre übernommen. Besonderer Dank gebührt außerdem der Franziska- und Otto-Bennemann-Stiftung, die uns durch ihre finanzielle Unterstützung die Durchführung dieser Konferenz erst ermöglicht hat.

Bonn, Januar 1997
Ursula Mehrländer

Druck-Ausgabe: Seite 6 = Leerseite

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Günther Schultze: Zusammenfassung

Druck-Ausgabe: Seite 7

Es ist ein heikles, lange vernachlässigtes Thema: Islamische Orientierungen bei türkischen Jugendlichen. In der Vergangenheit wurde es entweder tabuisiert oder skandalisiert. Wilhelm Heitmeyer präsentiert zum ersten Mal empirisch erhobene quantitative Daten zu dieser Fragestellung. Danach sind ethnische, vor allem islamische Orientierungen sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen türkischen Jugendlichen weit verbreitet. Für immerhin 68% hat der Islam eine große persönliche Bedeutung. Problematisch wird diese neue Religiosität in jenen Fällen, in denen ein Überlegenheitsanspruch des Islam gegenüber anderen Religionen erhoben, zu seiner Durchsetzung auch Gewaltbereitschaft signalisiert und eine Nähe zu islamisch-fundamentalistischen Organisationen formuliert wird. Immerhin ca. ein Viertel der Befragten gibt an. zur Durchsetzung islamischer Prinzipien auch bereit zu sein, Gewalt anzuwenden und ca. ein Drittel zeigt Sympathie für islamisch-fundamentalistische Vereine und Verbände. Die Ursachen hierfür sind in der Entwicklung der modernen Gesellschaften zu mehr Individualisierung und Pluralisierung von Lebenswelten zu suchen. Ethnische und religiöse Orientierungen sind für türkische Jugendliche eine Möglichkeit, ihre Desintegrationserfahrungen in der deutschen Gesellschaft zu verarbeiten. Die religiöse Gemeinschaft der Muslime bietet einen eigenen Weg zwischen der fremden deutschen Umgebung und der ebenfalls als fremd erlebten türkischen Gesellschaft. Je geringer die schulische und berufliche Integration ist, desto eher erfolgt eine Hinwendung zu islamischen Orientierungen und Organisationen.

Der Migrantenstatus darf aber nicht nur als „Klotz am Bein" für die zweite Generation, sondern auch als Herausforderung für ein positives "Anderssein" betrachtet werden. Yasemin Karakasoglu-Aydin plädiert dafür, die sehr differenzierte Subkultur der jungen Migranten als Teil der multikulturellen Gesellschaft Deutschlands anzusehen. Es gibt zahlreiche Beispiele, daß viele dieser Jugendlichen ein positives Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein entwickeln. In den Ausländerbeiräten gewinnen junge Migranten an Einfluß, da sie die nötige Sprachkompetenz haben, um die Interessen der Zuwanderer zu artikulieren. Ein Sprachrohr für ihre Inter-

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essen und Bedürfnisse junge Türken auch in türkischen Musikgruppen, die eigene Stile und Ausdrucksformen entwickelt haben. In den Großstädten etablieren sich türkische Diskotheken, die es den Jugendlichen erlauben, aus der Rolle des Gastes in die des Gastgebers zu wechseln. Auch das Tragen von Kopftüchern darf nicht pauschal als ein Symbol der Unterdrückung der Frau in islamischen Gemeinschaften bewertet werden. Vielfach ist es Ausdruck eines positiven Selbstwertgefühles. Viele der jugendlichen Zuwanderer wehren sich sowohl gegen eine Vereinnahmung durch die eigene ethnische Gruppe als auch durch die Mehrheitskultur.

Mit besonderen Problemen ist die Gruppe der jugendlichen Aussiedler konfrontiert, die überwiegend aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland kommt. Rechtlich den Einheimischen gleichgestellt, werden sie von der deutschen Gesellschaft oftmals als Fremde behandelt. Heike Roll berichtet, daß die Integration der Aussiedlerjugendlichen in die deutsche Gesellschaft heute wesentlich schwieriger verläuft als früher. Sie haben einen zweifachen Desintegrationsprozeß erlebt: In ihren Herkunftsländern mußten sie sich mit der Auflösung der sozialen Strukturen, ökonomischen und sozialen Krisen auseinandersetzen. In Deutschland erleben sie, daß die Integration in die Schule und das Berufsleben schwierig ist und soziale Ausgrenzungen zunehmen. Als wesentliches Integrationshemmnis erweist sich die fehlende deutsche Sprachkompetenz. Auch die Isolierung in Übergangswohnheimen und eigenen Wohnblocks ist dem gegenseitigen Kennenlernen nicht Förderlich. Pädagogische Maßnahmen zur Stabilisierung der bikulturellen Identitäten der Aussiedlerjugendlichen sind nötig.

Die jugendlichen Zuwanderer treffen heute auf eine deutsche Gesellschaft, die die Einfallstore für ethnisch-definiertes Denken weit geöffnet hat. Eberhard Seidel-Pielen vertritt die These, daß in den achtziger und zunehmend in den neunziger Jahren die Politik zunehmend ethnische Kategorien als Instrumente des politischen Krisenmanagements benutzt. Die in sich sehr differenzierte "rechte" jugendliche Szene sieht vor allem im Thema "Ausländer raus" einen Kristallisationspunkt ihres Zusammengehörigkeitsgefühls. Während in der Nachkriegsperiode Deutschlands antisemitische und fremdenfeindliche Einstellungen in der öffentlichen Meinung keine Rolle spielten, gewinnen sie heute zunehmend an Raum. Eine

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der Ursachen hierfür ist, daß sich Deutschland nicht als Einwanderungsland versteht und die derzeit praktizierte Ausländerpolitik vielfach eine Ausgrenzung von Migranten legitimiert. Die Gewalt gegen Fremde ist ein gesamtdeutsches Phänomen. In Ostdeutschland verstärken sich jedoch zur Zeit antikapitalistische und antipluralistische Einstellungen. Ein relativ neues Problem ist, daß rechte Gruppen zunehmend eine eigene ostdeutsche Identität entwickeln, die im Extremfall zu Gewaltattacken gegen Westdeutsche führen kann.

Auch in der Vergangenheit hat es jugendspezifische Protestformen gegeben. Zur Zeit ist zu beobachten, daß die Schärfe der Konflikte und die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, zunimmt. Vor allem in "sozialen Brennpunkten" häufen sich die Auseinandersetzungen. Der Ortsteil Vahrenheide von Hannover ist hierfür ein Beispiel. Ausgehend von einem kleinen Konflikt in einem Supermarkt eskalierten gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen sich verbündenden deutschen und türkischen Jugendlichen einerseits und Aussiedlerjugendlichen andererseits. Die Ursache waren besondere Förderprogramme für Aussiedlerjugendliche, die von deutschen und türkischen Jugendlichen als ungerecht empfunden wurden. Die Kommune reagierte mit einem Sofortprogramm, das eine Kooperation aller in dem Stadtteil aktiven Initiativen und zusätzliche pädagogische Maßnahmen beinhaltete. Außerdem soll der Stadtteil verstärkt in der Stadtentwicklungsplanung berücksichtigt werden (Christoph Honisch). Die Bemühungen können nur dann erfolgreich sein, wenn die Eigenverantwortung und -initiative aller Bürgerinnen und Bürger des Stadtteils gefördert werden. Vor allem bei den Projekten mit Jugendlichen ist darauf zu achten, daß sie eine aktive Rolle in den Projekten spielen und ihre Handlungskompetenz gestärkt wird. Streetwork-Projekte können z.B. dazu dienen, Jugendliche anzusprechen und einzubeziehen, die mit den traditionellen Angeboten der Jugendsozialarbeit sonst nicht erreicht werden (Ann-Christin Jörgensen/Farschid Dehnad).

Die Verschlechterung der Lage der öffentlichen Haushalte hat auch gravierende Auswirkungen auf die Leistungsmöglichkeiten der Jugendhilfe. Diese befindet sich in einem Dilemma: Auf der einen Seite stehen ihr immer weniger finanzielle Mittel zur Verfügung, auf der anderen Seite wird von ihr erwartet, daß sie verstärkt auftretende Probleme der Jugendlichen beheben soll. Bei dem hierdurch ausgelösten „Windhundrennen" um die

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knappen Gelder besteht die Gefahr, daß ausländische Jugendliche, die nur eine schwache Lobby haben, immer weniger berücksichtigt werden. Außerdem gibt es eine Reihe von rechtlichen Restriktionen, die eine adäquate Einbeziehung von Migrantenjugendlichen in die Jugendhilfe erschweren: So ist z.B. die Inanspruchnahme von Jugendhilfe, unter bestimmten Umständen, ein Ausweisungstatbestand. Dringend reformbedürftig sind das Schulpflicht- und Arbeitsförderungsgesetz, die vor allem für Flüchtlingskinder und jugendliche zu erheblichen Benachteiligungen fuhren. Im Bereich der Jugendsozialarbeit ist es von besonderer Bedeutung, eine interkulturelle Öffnung der Angebote sicherzustellen. Die gemeinsame soziale Arbeit mit deutschen und ausländischen Jugendlichen ist anzustreben (Dieter Göbel).

Besondere Bedeutung hat die soziale Arbeit mit Migrantenjugendlichen an den "Schnittstellen" beim Übergang von Schule in Ausbildung und Beruf. Hierbei müssen vor allem junge ausländische Mädchen berücksichtigt werden. Die bisherige Trennung der Beratungsdienste für Ausländer, Flüchtlinge und Aussiedler muß überprüft werden. Eine sinnvolle Zusammenfassung von Fachdiensten ist anzustreben. Außerdem ist eine enge Kooperation zwischen den Fachdiensten und den sozialen Regeleinrichtungen erforderlich. Die sozialen Regeldienste müssen sich in Zukunft verstärkt für Migranten öffnen. Hierzu bedarf es zusätzlicher Fortbildungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter, um Ansätze interkulturellen Arbeitens kennenzulernen. Die vielfältigen Migrationsangebote auf Landesebene müssen jedoch ergänzt werden durch die Anerkennung der Tatsache, daß Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden ist. Die soziale Arbeit mit Migrantenjugendlichen kann wesentlich erleichtert werden, wenn die Einbürgerungsrichtlinien liberalisiert werden (Dieter Schwulera).


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999

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