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Alfred Grosser
Deutsche Identität in einem vereinten Europa


Das Wort "Identität" ist sehr problematisch. Jedesmal, wenn jemand glaubt, er habe nur eine Identität, wird er im Prinzip intolerant und verschließt sich anderen gegenüber. Ich zitiere in diesem Zusammenhang gern eine jüdische Geschichte: Jemand fragt einen Rabbiner: "Der Storch heißt auf hebräisch 'hassida', der Zärtliche, weil er die Seinen liebt, trotzdem gehört der Storch zu den unreinen Tieren. Warum ist dies so?" Der Rabbi antwortet: "Eben weil er nur die Seinen liebt."

Identität heißt allzu oft nur die Seinen lieben. Wir müssen jedoch anerkennen, daß wir alle mehrere Identitäten besitzen. Ich kann dies an meiner Person verdeutlichen: Ich bin ein Mann und keine Frau, und Männer genießen noch, sowohl in der französischen als auch in der deutschen Gesellschaft, unverdiente Vorteile. Ich bin Franzose und kein Afrikaner, dies ermöglicht mir ein Lebensniveau, das ich mir nicht verdient habe. Ich bin Pariser und lebe nicht in der Provinz, was mir einen zwanzigmal höheren Kulturhaushalt beschert. Ich bin Radfahrer und hasse die Autofahrer, ich bin Autofahrer und hasse die Radfahrer, ein typisches Beispiel einer gespaltenen Identität!

Natürlich gibt es nicht "die Deutschen". "Die Deutschen", das sind sowohl die, die brandstiften, als auch die Hunderttausende, die mit Lichtern durch die Straßen ziehen und gegen Fremdenfeindlichkeit protestieren. Ich bin nicht einverstanden, wenn jemand pauschal von "den Deutschen", "den Arabern" oder "den Juden" spricht.

Trotzdem muß man erkennen, daß es das Bild des Deutschen gibt. Im Ausland existiert zum Teil eine Deutschfeindlichkeit, die sich mit dem Antisemitismus vergleichen läßt. So hat z.B. ein französischer Kollege von der größten französischen demoskopischen Institution einen Artikel über Deutschland veröffentlicht, der mich veranlaßte, ihn anzurufen und ihm zu sagen - er ist Jude -: "Was Du da sagst, das würde ein Antisemit von den Juden sagen." Es gibt auch andere Beispiele einer skandalösen und globalen Verurteilung der Deutschen.

Ich habe in den letzten 40 Jahren häufig die Frage gestellt bekommen, ob wir vor den Deutschen Angst haben müssen. Meine Antwort war: Angst nie, Sorge um die Zukunft Deutschlands immer, aber solidarisch mit allen Deutschen, die dieselben Sorgen haben und die übrigens berechtigt sind, um die Zukunft Frankreichs besorgt zu sein.

Es gibt also diesen sehr generalisierenden Blick auf die Deutschen von außerhalb. Es gibt aber auch das Bild der Deutschen über sich selbst. Hier möchte ich zwei negative Beispiele nennen. Das erste, das ich anmerken will, ist die Neigung der Deutschen zur Selbstzerfleischung, die ständige Abwertung des Geleisteten auf dem Gebiet der pluralistischen Demokratie und des Rechtsstaates. Wenn ich in einer deutschen Zeitung über Solingen lese, "die verlogene bundesrepublikanische Ruh' vieler Jahre ... der Mord traf die satte Stadt" - so ist dies ein Ton, den ich seit 30 Jahren u.a. bei Walter Jens kritisiere. Dies bedeutet eine ständige Herabsetzung des im internationalen Vergleich vorbildlich Geleisteten der Bonner Demokratie, und das ist auch gewaltstiftend. Wenn alles nur negativ beurteilt wird, muß man sich nicht wundern, daß die Grundregeln demokratischer Rechtsstaatlichkeit nicht respektiert werden.

Dann gibt es den anderen deutschen Nationalsport, das ist die Selbstbemitleidung. Diese Selbstbemitleidung fanden Sie vor allen Dingen in der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung. Hier wurde deutlich, daß es "die Deutschen" nicht gab. Ich habe in Frankreich nach 1989 ständig betont: "Es gibt wenig Nationalismus in Deutschland, glücklicherweise, und es gibt furchtbar wenig "sentiment national" in Deutschland, leider." Das heißt, daß fast alle Deutschen in der Bundesrepublik, und an der Spitze die IG Metall, GEW und ÖTV, nicht an die Solidarität mit den neuen Mitbürgern, sondern an die Verteidigung ihrer beruflichen und materiellen Interessen dachten. Dies sage ich in Westdeutschland und Westberlin. Wenn ich in Halle oder in Cottbus spreche, sage ich: "Bitte hört auf mit dem Selbstmitleid. Vergleicht Euch nicht ständig mit der Bundesrepublik, vergleicht Euch auch einmal mit Polen, der Tschechischen und Slowakischen Republik. Im Vergleich zum Westen sind Eure Mittel zwar begrenzt, aber auf der anderen Seite seid Ihr die einzige Region der ehemaligen sowjetischen Einflußsphäre, die eine Chance hat, in absehbarer Zeit wohlhabend zu sein. Es dauert länger als vorgesehen, aber verglichen mit der Lage in Polen, der Ukraine seid Ihr bevorzugt." (Vereinfachend würde ich zwischen "guten" und "bösen" Menschen unterscheiden: Die Bösen vergleichen sich mit denen, die mehr haben, die Guten mit jenen, die weniger haben.)

Ich habe befürwortet, daß die Wiedervereinigung unter Artikel 23 des Grundgesetzes stattgefunden hat, und nicht unter Artikel 146 Grundgesetz. Es war nämlich keine Synthese zweier ebenbürtiger deutscher Staaten, es war der Beitritt der DDR zum demokratischen, freiheitlichen Deutschland. Dann wurde glücklicherweise der Artikel 23 1990 abgeschafft, da es nichts mehr zu vereinigen gab. Und dann ist der Artikel 23 neu entstanden in der Verfassungsänderung von 1992. Nun wurde er zum Artikel der Übertragung der Hoheitsrechte auf die Europäische Union: die deutsche wie die französische Identität ist seit langem von der der Gemeinschaft nicht mehr zu trennen. Wird diese Dimension in der deutschen Identitätsdebatte überhaupt wahrgenommen?

Anderes gehört auch zur "deutschen Identität". Zum Beispiel die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts zum § 218 im Jahr 1975. Der Tenor war: In Deutschland gab es Hitler, es hat die Euthanasie gegeben, es hat die Zerstümmelung und Zerstörung des ungeborenen und geborenen Lebens gegeben. Daher ist es in Deutschland von besonderer Brisanz, wenn über den § 218 diskutiert wird. Wir müssen besonders vorsichtig sein, jedesmal, wenn Leben angetastet wird. Das kann ich völlig verstehen, obwohl ich damals das Minderheitsvotum von Frau Rupp von Brüneck besser fand.

Die besonderen Gegebenheiten in Deutschland zeigen sich auch auf zwei weiteren Gebieten: dem Militärischen und dem Problem der ehemaligen DDR.

Ist die SPD rassistisch? Seit heute morgen zögere ich mit der Antwort. In einem Kommuniqué der SPD heißt es, man wolle das Bundesverfas sungsgericht anrufen, denn das Leben deutscher Soldaten sei bei der UNO-Mission in Somalia gefährdet. Dort stand nicht: Pakistanische Blauhelme sind massenhaft getötet worden. Wieso haben wir ihnen nicht geholfen? Die Auffassung, daß andere ihr Leben riskieren dürfen, Deutsche aber nicht, finde ich skandalös. In meiner Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1975 habe ich diese Thematik bereits problematisiert. Damals habe ich darauf hingewiesen, daß die Vergangenheit Deutschlands ein Grund war, deutsche Soldaten nicht ins Ausland zu senden. Aber diese Begründung ist nach und nach zur Ausrede geworden, für Somalia wie für das ehemalige Jugoslawien. Die UNO ist gewiß schlecht organisiert; die Entscheidungen, humanitär oder kämpferisch eingreifen zu können, sind immer kritisiert worden, aber die Bestrebungen, eine Weltordnung aufzubauen, in der - wie innerhalb jedes Staates - eine legitime Macht vorhanden sein muß, um diesen Frieden und diese Ordnung zu bewahren, sollten von allen gutgeheißen werden.

In einem Teil der deutschen Friedensbewegung galt die Losung: "Nichts steht höher als das Leben". Wenn dies heißen sollte (und es hat nicht selten so geheißen!) "als mein Leben", so konnte ich nicht verstehen, warum man dann behauptete, Hans und Sophie Scholl zu verehren und wieso die Christen, die dies sagten, dabei das Kreuz so leichtfertig übersahen. Auf deutscher Seite werden also ursprünglich gute, aber heute doch recht fragwürdige Gründe genannt, weshalb Deutsche nicht anwesend sein sollen, wenn in der Welt gelitten wird und man - auch mit Risiko - Hilfe bringen kann. Auf der einen Seite bedrängt man die Partner, Kroatien anzuerkennen, aber auf der anderen Seite sollen lieber Franzosen, Italiener oder Engländer die praktischen Konsequenzen - sprich den Einsatz von Soldaten - tragen. So wird dies jedenfalls in Frankreich gesehen, und ich teile diese Auffassung.

Zur deutschen Identität gehört natürlich auch die neue Problematik der Vergangenheitsbewältigung. Die erste, die die Hitler-Zeit betrifft, ist keineswegs verschwunden. Sie wird nicht durch die der DDR-Vergangenheit ersetzt: letztere fügt sich hinzu. Wie nach 1945 geht es zugleich um geistige Aufarbeitung und um sehr konkrete Entscheidungen über Einzelschicksale. Es sollte nicht sein, daß wie damals die Großen in Schutz genommen und die Kleinen ausgestoßen werden. Wer interessiert sich für bestrafte Grundschullehrer oder kleine Beamte? Mit Universitätsprofessoren geht man vor- und nachsichtiger um. (Randbemerkung: Wie froh bin ich doch, keinem Prüfungs- und Aussieb-Ausschuß anzugehören, denn wie schwer ist doch die Beurteilung!)

Vergangenheit aufarbeiten heißt in Deutschland auch, vor allem auf der Linken, sich mit Terror und Horror in der Sowjetunion und in denen von ihr unterworfenen Ländern zu befassen. Der Hang zum Bagatellisieren ist groß. Die Massenmorde werden vergessen, sei es nun das systematische Hungertöten von Millionen von Ukrainern zu Beginn der 30er Jahre, oder das Morden von Gegnern und an Parteimitgliedern. Morden, die den Herrschern und Eilten der DDR zumindest bekannt waren und denen gegenüber sie schweigsam geblieben sind. Zumindest bekannt, denn manche haben mitgewirkt, oder jedenfalls das unterdrückende Regime mitbeherrscht.

So kann ich die Aufregung über die STASI-Informanten nur schwer verstehen, wo doch manche von denen, für die sie Informationen lieferten, unbestraft bleiben und sogar Mitglied des Bundestags werden können. Dabei sollte ein weniger krimineller Wesenszug des Regimes nicht übersehen werden: das, was eine auch unvollkommene Demokratie von einem Unterdrückungsregime unterscheidet, ist, daß es bei uns keine wahrheitsverkündende und irrtumbestrafende politische Instanz gibt - Diktator, Regierung oder Partei.

Was nicht heißen soll, daß es bei uns im ehemaligen Westen kein Grundproblem der Wahrheit gebe. Wir wissen mehr und mehr von der Manipulation durch die STASI. Z.B. waren die Dokumente, dank derer Bundespräsident Lübke beschuldigt werden konnte, als Architekt am Bau von KZ's mitgewirkt zu haben, von der STASI hergestellt worden. Übrigens: Wo sind die Sendungen und Zeitungsartikel, die sich schuldig bekennen, sich damals manipuliert gelassen zu haben? Aber im Westen kann es mindestens ebenso schlimm gehen. Sie haben vor einigen Tagen erfahren, daß die US-Meinung künstlich aufgepeitscht wurde, um die amerikanische Intervention gegen Irak wünschenswert erscheinen zu lassen. Der Mord an kuweitischen Babies in einem Krankenhaus hat nie stattgefunden; die rührende Augenzeugin, die uns alle zu Tränen gebracht hat, war die Tochter des Kuweit-Botschafters in Washington; organisiert war das Ganze von einer Werbeagentur!

Die Wahrheit zu sagen, ist das Wesentliche, gerade wenn man mit jungen Menschen in Cottbus oder Schwerin spricht. Man muß ihnen folgendes sagen: Der Antifaschismus war in der ehemaligen DDR eine Waffe im Namen der Unterdrückung, aber natürlich ist es heute für euch wichtig, antinazistisch zu sein. Dies ist gewiß nicht so einfach zu verstehen. Und die Frustrationen nehmen natürlich zu, wenn die Arbeitslosigkeit ihre erst Erfahrung mit dem antinazistischen, pluralistischen Staat ist. Deswegen finde ich, daß ein gehöriges Maß an Mitempfinden für die jungen Leute in den neuen Bundesländern notwendig ist. Vor allem erleben sie nun, wie schwierig es sein kann, mit der Freiheit umzugehen. Dies fällt um so schwerer, da wir in einer Zeit leben, in der die Politik als Ort der Korruption erscheint und sich eine Parteiverdrossenheit ausbreitet. Die Parteien haben weitgehend versagt, und auch die Gewerkschaften. Der Fall Franz Steinkühler hat die Verdrossenheit gegenüber dem demokratischen und pluralistischen Staat gefördert. Es wird aber auch alles getan, damit nur das Negative der deutschen Politik zum Ausdruck kommt. Bitte sagen Sie mir, wann in den letzten 40 Jahren im "Spiegel" etwas über positive Leistungen geschrieben worden ist. Sie haben es ja vorhin gehört: ein Brand in Hattingen und die ganze Stadt kommt in Verruf, während zwanzig Jahre schöner Gemeinschaftsarbeit mit Einheimischen und Ausländern nie von den Medien dargestellt wurden. Und unter dem Druck der erschütternden, aber doch hochgespielten Ereignisse sind Parteien bereit, eher auf die "Volksstimme" als auf ihre eigenen Prinzipien zu hören.

Ich möchte im Zusammenhang mit der Asyl-Debatte eine kleine Geschichte, die Kurt Tucholsky 1927 geschrieben hat, erzählen: Schlagzeile: "Kommt die Prügelstrafe?" Sozialdemokratischer Leitartikel: "Wir finden keinen parlamentarischen Ausdruck, um unsere flammende Entrüstung über diese neue Schandtat der Rechtsreaktion zum Ausdruck zu bringen." Fünf Monate Pause, dann neuer Leitartikel: "Natürlich bleiben wir absolute Gegner der Prügelstrafe. Es ist allerdings bei der gegenwärtigen Konstellation zu erwägen, ob diese in der großen Politik doch immerhin nebensächliche Frage für die deutsche sozialdemokratische Partei ein Anlaß sein kann, die Regierungskoalition zu verlassen." Und dann schließlich ein sozialdemokratisches Kommuniqué: "Der klassenbewußte Arbeiter ist ebenso diszipliniert, daß er weiß, wann es Opfer zu bringen gilt. Hier ist eine solche Gelegenheit. Schweren Herzens hat sich der Parteivorstand der Not der Stunde gebeugt. Es ist eben leichter, vom Schreibtisch her gute Ratschläge zu erteilen, als selber im harten realpolitischen Kampf die Verantwortung ..." usw. Und das letzte Kommuniqué der Liberalen, die auch ursprünglich dagegen waren, ist die Forderung, als Züchtigungskommissar wenigstens einen Liberalen zu ernennen.

Diese Geschichte der Prügelstrafe erinnert mich natürlich an die Geschichte von Artikel 16 GG. In der "Süddeutschen Zeitung" vom 25. Mai 1993 war eine Bilanz der zehn Stationen der Meinungsänderungen innerhalb der SPD abgedruckt, mit dem nun sichtbar gewordenen Ergebnis. Ich habe aber bis heute immer noch nicht verstanden, warum Artikel 16 GG nicht allein durch die Hinzufügung von fünf Wörtern geändert worden ist: "Das Nähere regelt ein Gesetz." Ich habe bis heute immer die Grundrechte der Bundesrepublik Deutschland in Frankreich gelobt, weil sie viel verbindlicher und einfacher sind als unsere Grundrechte. Wenn sie nun aber den neuen Artikel 16a lesen, frage ich mich, was das überhaupt noch mit Grundrechten zu tun hat.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch noch auf einen anderen Punkt, der mir sehr am Herzen liegt, hinweisen: Am 7. Mai 1993 wurde ein neues Abkommen mit Polen abgeschlossen, das ich schlechthin unmoralisch finde. Dies ist die Konsequenz der Neufassung des Asylrechts. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist furchtbar nett zu der Regierung der Republik Polen; man will sich an den Kosten beteiligen, die in Polen im Zusammenhang mit dem Aufbau der Institutionen, die für die Prüfung von Asylanträgen zuständig sind, entstehen. Man will sich an der Ausbildung von Personal beteiligen und administrative Hilfe gewähren. Die Polen müssen als Gegenleistung sämtliche Asylsuchenden aufnehmen, die nicht mehr in die Bundesrepublik dürfen.

Aber auch in Frankreich sollen in den nächsten Wochen die Gesetze geändert werden. Wir haben ähnliche Probleme wie in Deutschland. Ich werde in den nächsten Wochen auf manchen Kundgebungen die geplanten Änderungen kritisieren. In einem Punkt liegen wir aber glücklicherweise nicht auf der deutschen Linie, und dies ist das Staatsangehörigkeitsrecht. Man will es zwar in der Weise ändern, daß man in Zukunft im Alter zwischen 16 und 20 Jahren entscheiden muß, ob man Franzose werden will oder nicht, wenn man als Kind ausländischer Eltern in Frankreich geboren ist. Im Alter unter 16 Jahren ist man dann nicht mehr automatisch Franzose. Diese Regelung zielt aber nicht in erster Linie auf die Kinder ab, sondern auf deren Eltern. Bisher konnten Eltern von in Frankreich geborenen Kindern nicht ausgewiesen werden. Dies wird jedoch in Zukunft der Fall sein. In der Vergangenheit haben zahlreiche Frauen ihr Kind in Frankreich geboren, um für sich und ihren Mann diesen Abschiebeschutz zu genießen. Vom Grundsatz her bleibt jedoch die Regelung bestehen, daß jeder in Frankreich Geborene, der fünf Jahre vor seinem 16. bis 20. Lebensjahr in Frankreich gelebt hat, die französische Staatsangehörigkeit erhält.

Auf dem Gebiet der Aufnahme von Flüchtlingen und der Begrenzung weiterer Zuwanderungen sind wir auf einem ganz schlimmen Weg in Frankreich. Zu nennen ist hier dieses neue Gesetz der Regierung, des Innenministers Pasqua. Verkürzt zusammengefaßt, bedeutet es: Alles, was vorher in den Kompetenzbereich unabhängiger Instanzen oder von Gerichten fiel, ist nun Aufgabe der Polizei und der Verwaltung. Das heißt z.B., daß die Grenzpolizei entscheidet, wer ins Land darf und wer nicht. Sie entscheidet, wer als Flüchtling einreisen darf. Außerdem gibt es eine ganze Reihe weiterer Härten, z.B. erhalten Kinder von illegalen Einwanderern keine Hilfe für ärztliche Behandlung. Und es gibt eine ganze Reihe sehr unmenschlicher Dispositionen. Am 13. August 1993 hat der französische Verfassungsrat die meisten dieser Dispositionen der neuen Gesetzgebung als verfassungswidrig annulliert.

Die Begründungen für diese restriktive Politik ähneln denjenigen in Deutschland. Man argumentiert, wenn wir die Begrenzung des Zuzugs nicht regeln und den Druck von der Bevölkerung wegnehmen, dann wird die extreme Rechte weitere Stimmenzuwächse erhalten. Dies stimmt auch weitgehend. Wir haben heute in Frankreich eine sehr konservative Regierung, die von der Mitte bis ins rechte Spektrum ragt. Die Frage ist, was passiert, wenn sie versagt? Wir müssen sehen, daß wir auf nationaler Ebene 14 % rechte Wähler haben und in manchen Großstädten, wie z.B. Marseille sogar 30 - 40 %. Aber man darf nicht in Schwarz-Weiß-Malerei verfallen. So kann man z.B. beobachten, daß das Fußballpublikum von Marseille sich vehement gegen Pariser Fußballfans wendet, die im Stadion den faschistischen Gruß zeigen. Das ganze Publikum von Marseille mit seinen so zahlreichen Le Pen-Wählern brüllt dann "Faschisten, Faschisten".

Worüber wir heute noch nicht ausreichend gesprochen haben, ist der Begriff des "Multikulturellen". Es geht um die Definition des "Multikulturellen". Ein gutes Beispiel ist für mich das, was ein Togolese, der zugleich Bretone ist, in einer bretonischen Stadt gemacht hat. Er hat nach afrikanischem Vorbild einen Ältestenrat in der Bretagne eingeführt und sein Ziel als Staatssekretär für die Integration in der vorherigen Regierung war eine "intégration républicaine". Was hat Kofi Yamgnane damit gemeint? Das Wort "République" läßt sich schwer ins Deutsche übersetzen. Während in Frankreich dieser Begriff sehr positiv, ja manchmal sogar sentimental besetzt ist, verbindet sich in Deutschland mit dem Begriff "Republikaner" der äußerste Rand des rechten Spektrums. Was ich ausführen will ist, daß eine Gesellschaft, auch eine multikulturelle, ohne verbindliche Grundwerte, die dem Begriff "La République" entsprechen, nicht auskommt. Und der französische Bundesgerichtshof hat erst vor vier Tagen ein interessantes Urteil gefällt. Ein Mann, französischer Staatsbürger und aus Marokko kommend, hat nach marokkanischer Sitte seine Frau verstoßen. Er wurde mit der Begründung verurteilt, daß in Frankreich die Gleichheit von Frau und Mann bestehe und die Verstoßung der Frau nach marokkanischem Brauch nicht Rechtens sei. Dies ist für mich das Wesentliche. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Es ist für mich ein unhaltbarer Zustand, wenn eine Klitoris-Beschneidung erfolgt, weil es einer "kulturellen Tradition" entspricht. Wichtig in einer multikulturellen Gesellschaft ist die Einhaltung ethischer Grundsätze, wie sie in unserer Verfassung verankert sind. Multikulturalität ist gut, Verneinung der Grundwerte, auf die unsere politische Gesellschaft aufgebaut ist, sollte als schlecht gelten.

Damit komme ich zum letzten Punkt, der ein Problem in unserer Gesellschaft ist: Wie sieht eigentlich unsere ethische Einstellung aus? Dies ist auch eine Frage, die sich die Intellektuellen der Linken, der 68er Tradition neu stellen müssen. Der Marxismus-Leninismus ist zusammengebrochen. Die Folge ist, daß heute niemand mehr, wie viele der 68er, die bürgerlichen Grundrechte als nur vermeintliche Rechte kritisiert, weil sie nur die Verfestigung der Macht der Starken über die Schwachen bedeuten würden. Heute hingegen tritt jeder für die Menschenrechte ein, sei es nur, weil es auch eine andere, bedeutsame Revolution gegeben hat. Und diese betrifft die katholische Kirche. Die Kirchen haben sich zum Christentum bekehrt. In der Parabel vom Samariter wird die Frage gestellt: "Wem gegenüber erweist Du Dich als Nächster?" Die katholische Antwort war noch unter Hitler: "Ein Katholik ist mir näher als ein Nicht-Katholik." Doch seit ein paar Jahrzehnten ist die christliche Antwort: "Der Verfolgte, der Arme, der Ausgebeutete ist mein Nächster, auch wenn er nicht katholisch ist und auch wenn er von Katholiken verfolgt wird." Und in diesem Geiste haben jetzt auch die deutschen Bischöfe Stellung zu der Ausländerfrage genommen. Unsere Ethik gründet auf der Würde jedes einzelnen Menschen und auf der Gleichheit zwischen den Menschen. Dies ist genau das Gegenteil von Rassismus und Fremdenhaß.

Diesem Grundprinzip der gleichen Würde aller Menschen fügen sich die Werte hinzu, die in der Devise der Französischen Revolution zum Ausdruck kommen: Freiheit, Gleichheit (heute würde man eher Gerechtigkeit sagen), Brüderlichkeit (heute eher Solidarität). Was dem Ernstnehmen dieser drei Werte entgegensteht, ist vor allem eine falsche Interpretation des Freiheitsbegriffes. Und zwar aus zwei an sich sehr verschiedenen Richtungen von der "linken Linken", im Sinne der Ideologie Ende der 60er Jahre. Im ersten Teil unserer linken Tages- und Wochenzeitungen (ist es in Deutschland anders?) heißt es: "Fühlt euch solidarisch mit den Leidenden und Verfolgten überall in der Welt, in Bosnien, in Afrika, in Südamerika!" Im zweiten, "kulturellen" Teil: "Die Freiheit besteht darin, sich auszutoben und morgen das Gegenteil von dem zu tun, was man gestern tat." Derselbe Tenor ertönt mindestens ein Dutzend Mal pro Tag in der Werbung: "Denk nur an dich, an deine Lust, an deinen Verbrauch, an dein Geld!" Wie ist so etwas zu vereinen mit dem Begriff der Freiheit, der beinhaltet, daß man diese Freiheit dazu benutzt, um sich für die Freiheit anderer einzusetzen, für die Gerechtigkeit, die anderen vorenthalten wird, für die Solidarität mit anderen? Für diese Freiheit sind Studenten in Peking gestorben, haben viele Menschen in Dresden und Leipzig ihr Leben riskiert - und sind deshalb so enttäuscht, feststellen zu müssen, daß in unserer "westlichen" Gesellschaft die Freiheit der Selbstbezogenheit, das Alles-tun-dürfen, der Ablehnung der Selbstbeschränkung vorherrschend ist.

Freiheit bedeutet eben für mich, daß man sie begrenzt, um sich für andere engagieren zu können. Die Ausländerproblematik ist nicht unabhängig von allgemeinen ethischen Werten innerhalb unserer Gesellschaft zu behandeln. Denn wie soll Solidarität mit Ausländern funktionieren, wenn Solidarität in der unmittelbaren Nachbarschaft, in der Familie nicht funktioniert und jeder nur an seine eigenen Vorteile denkt. Ich möchte dies noch auf eine andere Art und Weise ausdrücken. Ich habe nichts dagegen, daß sich ein Paar scheiden läßt, daß ein Priester sein Amt aufgibt oder daß ein Gewerkschafter zurücktritt. Was mich stört, ist nur, daß dies als Verwirklichung der Freiheit dargestellt wird. Zuallererst sollte dies jedoch das Anerkennen eines Scheiterns sein. Man hat sich längere Zeit für eine wichtige Sache engagiert und ich kann verstehen, daß man scheitert. Das Wesentliche ist aber, daß man sich in Freiheit für eine Sache engagiert. Ein gutes Beispiel hierfür waren die Hunderttausende, die sich für Ausländer engagierten, die sich für die Freiheit anderer einsetzten. Aber das sollte auch in den Medien und in der Erziehung weitervermittelt werden. Wer der Auffassung ist, daß es nicht die Aufgabe der Medien ist, das Positive darzustellen, irrt. Jedesmal, wenn in Frankreich nach dem großen Mann der Gesellschaft gefragt wird, wird an erster Stelle immer der Abbé Pierre genannt, ein Mann, der mit den Armen gelebt hat, der für die Armen kämpft und jede Regierung beschimpft, weil sie nicht genügend tut. Und trotzdem ist er sehr populär.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 1999

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