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5. Schlußfolgerung: Welche künftige Sozial- und Beschäftigungspolitik?

Die von der Weltwirtschaft ausgehenden Herausforderungen an die Sozial- und Beschäftigungssysteme der Industrieländer werden in den kommenden Jahren weiter zunehmen: Nach China und Osteuropa werden weitere Niedriglohnländer Welthandelsanteile erobern, immer mehr Güter und vor allem Dienstleistungen werden dem internationalen Handel zugänglich, mit den Fortschritten der luK-Technik und der weiteren Zerlegung der Wertschöpfungskette werden auch die internationale Technologiediffusion noch zunehmen und die Direktinvestitionen stärker wachsen als der Handel. Doch die Theorie der komparativen Kosten wird dadurch nicht außer Kraft gesetzt; die Industrieländer werden nicht durch Schwellen- und Transformationsländer aus dem Rennen geworfen, ihr Beschäftigungsniveau muß durch internationalen Handel nicht beeinträchtigt werden. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß die Güter- wie auch die Faktormärkte flexibel sind und sich die Produktionsstruktur den immer schnelleren Verschiebungen unterworfenen komparativen Vorteilen anpaßt (Woodall 1996: 37).

Die Errichtung von Europäischem Binnenmarkt und Europäischer Währungsunion ist Teil dieses Beschleunigungs- und Intensivierungsprozesses und für die Mitgliedstaaten zugleich ein gutes Trainingsprogramm, das fit macht für den übergeordneten globalen Wettbewerb (Kleinhenz 1996: 15). Während der Binnenmarkt die Anforderungen an die Flexibilität ganz allgemein erhöht, gilt dies bei der Währungsunion speziell für die Löhne, und dies wiederum besonders für deren regionale Differenzierung. Denn da das Wechselkursinstrument zur Wiedererlangung von preislicher Wettbewerbsfähigkeit entfällt, müssen zur Vermeidung der Abwanderung von Arbeitsplätzen die Löhne (neben vermehrten Produktivitätsanstrengungen) die ganze Anpassungslast tragen. Alles in allem werden der Standortwettbewerb weiter verschärft und die Handlungsspielräume für nationale Alleingänge in der Geld- und der Finanzpolitik weiter eingeschränkt. Wie können und sollten die Sozial- und Beschäftigungssysteme der EU darauf reagieren?

Es wird weder möglich noch wünschenswert sein, die mitgliedstaatlichen Sozialsysteme auf EU-Ebene zu integrieren oder vollständig zu harmonisieren. Dazu sind die "Sozialkulturen" (Lechner 1996: 710), also die Traditionen und gesellschaftlich verinnerlichten Werthaltungen, zu verschieden, und auch das wohlverstandene Subsidiaritätsprinzip spricht dagegen (Seel 1996: 172; Kleinhenz 1996: 18). Es wird dies aber auch nicht nötig sein. Nötig wäre es nur dann, wenn Globalisierung, Europäischer Binnenmarkt oder andere gemeinsame Zwänge (z.B. demographische) die Mitgliedstaaten eines hinreichenden nationalen Handlungsspielraumes beraubten und wenn zugleich die EU hinreichenden Ersatz dafür bereithalten würde.

Doch die Frage stellt sich so nicht. Vielmehr entsprechen die nationalen Sozialsysteme auch unabhängig von der Globalisierung in mancher Hinsicht nicht mehr den veränderten Bedingungen. So erscheint es angesichts gestiegener Lebenserwartung unvermeidbar, das Rentenniveau relativ zum Erwerbseinkommen abzusenken. Auch der Trend zu Teilzeitarbeit und unsichereren Beschäftigungsverhältnissen - Dostal (1997) nennt Telearbeit, Arbeitnehmerüberlassung, freie Mitarbeit, befristete und geringfügige Beschäftigung, Selbständigkeit - macht es ratsam, die Ansprüche an das Rentenversicherungssystem durch Elemente privater Vorsorge - staatlich-obligatorisch oder nach dem Muster des in Großbritannien hoch im Kurs stehenden privaten "contracting out" (Thelen 1997) - zu ergänzen (was allerdings bei Immobilität solcher Ansprüche zu Konflikten mit der Freizügigkeit führen kann; Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1995: 9). Zugleich müssen, soweit die "Kopplung abhängiger Erwerbstätigkeit mit sozialer Sicherung" nicht mehr gilt, "akzeptable neue Strukturen" der Sicherung gefunden werden (Dostal 1997).

Unabhängig von der Globalisierung sinnvoll, aber in ihrem Gefolge verstärkt erwägenswert ist die Prophylaxe gegen kostentreibenden Mißbrauch des staatlichen Sozialschutzes. Hier ist insbesondere die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall angesprochen. Eine generelle Absenkung des Fortzahlungsniveaus träfe vor allem die wirklich Kranken. Zumutbar erscheint dagegen eine Karenzfrist, die heute in der Tat in fast allen Industrieländern üblich ist. Eine zweite Mißbrauchsmöglichkeit betrifft die Bevorzugung der Lohnersatzleistung gegenüber der Aufnahme einer Arbeit. Eine generelle Absenkung der Ersatzleistung führt nur zur Ausbreitung von Armut. Konsequent sind aber die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln bei Langzeitarbeitslosigkeit (bei Kurzzeitarbeitslosigkeit widerspricht sie dem Versicherungsprinzip und bestraft eine effiziente Arbeitssuche; Steiner 1997: 21) sowie eine systematischere Kontrolle. Letztere muß auch für Anträge auf Erwerbsunfähigkeitsrente gelten; das hiermit im Zusammenhang stehende Belastungspotential könnte zudem im Rahmen des geltenden Umlageverfahrens versicherungsrechtlich-institutionell von der eigentlichen Altersvorsorge getrennt werden (Glismann/Horn 1997: 22).

Als positiver Anreiz hinzu kommen sollten einmal möglichst niedrige Eingangssätze der Einkommensteuer, die eine hohe Grenzbesteuerung beim Übergang in die Erwerbstätigkeit verhindern (Trabold 1997: 23) - eine Maßnahme, von der im übrigen auch Teilzeitbeschäftigte mit geringem Einkommen profitieren würden (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1995: 72). Freilich führen all diese Maßnahmen nur zu echter Entlastung der Sozialversicherungsträger, wenn zu den zumutbar geringeren Löhnen und Gehältern auch tatsächlich eine vermehrte Arbeitsnachfrage vorhanden ist.

Globalisierung und Binnenmarkt sollten schon deswegen nicht in Frage gestellt werden, weil gerade sie bei richtiger Handhabung den Spielraum zur politisch-finanziellen Bewältigung der Probleme liefern. Es muß daran erinnert werden, daß beide Prozesse nicht als unabwendbares Fatum stattfinden, sondern gewollt waren. Der Binnenmarkt wurde von den meisten relevanten politischen Kräften fast euphorisch begrüßt. Auch der Abschluß der Uruguay-Runde des GATT wurde als Fortschritt gefeiert. Der Grund ist, daß beides in den beteiligten Ländern eine Steigerung des Realeinkommens bewirkt. Der aus der Globalisierung der Finanzmärkte resultierende Effizienzgewinn kann zudem kurzfristig die Finanzierungskosten der öffentlichen Hand senken, und eine weitere Internationalisierung der Arbeitsmärkte über gezielte Einwanderungspolitik könnte sogar die intergenerationellen Finanzprobleme der Rentenversicherung lösen helfen (Brücker 1996). Es erscheint paradox, daß ausgerechnet in einer Phase, in der die Entschädigung der Verlierer aus der Globalisierung immer dringlicher wird, die Fähigkeit "and even perhaps the will" der Regierungen dazu schwächer wird (Lee 1996: 496).

Für den Willen zur Entschädigung, das heißt zur Vermeidung von drohendem "Sozialabbau", ist offenbar eine "von gesellschaftlichen Kräften getragene und von der Gemeinschaft geförderte Bewegung für ein soziales Europa vorrangig" (Kleinhenz 1996: 22). Die Fähigkeit zur Entschädigung setzt voraus, daß der Fiskus tatsächlich an dem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts partizipieren kann, das heißt, daß den Gewinnern aus Globalisierung und Binnenmarkt ein Teil ihrer Zusatzeinkommen in Form von Steuern abgenommen werden muß. Gewinner sind in den Industrieländern die weltweit tätigen Produzenten von Technologiegütern, die privaten Kapitaleigner, die sich das internationale Renditegefälle zunutze machen, und die hochqualifizierten Arbeitskräfte. Verlierer sind die Produzenten von arbeitsintensiven Gütern mit geringem Technologiegehalt und die wenig qualifizierten Kräfte. Deren Zahl nimmt potentiell im gleichen Maße zu, wie sich im Zuge des Strukturwandels die Anforderungen an das Humankapital erhöhen.

Das hohe Maß, in dem die international tätigen, führenden Unternehmen von der Globalisierung und Europäisierung profitieren, kann an ihrer Gewinnexpansion und dem Anstieg der Aktienkurse abgelesen werden. Es ist ebenfalls paradox, daß dennoch (1) eher lauter als zuvor Klage über erdrückende Lohnkosten erhoben wird und daß (2) der Beitrag der Unternehmen zum Steueraufkommen eher abnimmt.

Das erste Paradoxon ist möglich, weil im Zuge der Globalisierung das strukturelle Gewinngefälle zwischen den Unternehmen einer Volkswirtschaft steiler wird. Während die multinationalen Unternehmen Eigenkapitalrenditen von 15% und mehr erwirtschaften -und angeblich erwirtschaften müssen, weil sie sonst von den Finanzmärkten nicht als "Global Players" ernst genommen würden (Wörl 1997, der hier Volker Hölterhoff zitiert)-, haben viele kleine und mittlere Unternehmen kaum ihr Auskommen. Der Lohndruck findet an diesem breiter werdenden unteren Ende der Skala in weiten Teilen des "Mittelstandes" statt. Dieser ist es, für den sich die Verbände zum "Kostenanwalt" machen. Der härter werdende Wettbewerb macht Überwälzung auf den Preis hier nicht mehr möglich und erhöht die Zahl der Insolvenzen.

Das war indes vorhergesagt, der Rationalisierungsdruck und die Marktselektion waren im Interesse der Verbraucher gewollt. Doch müssen das Steuer- und Sozialsystem es besonders den KMU auch ermöglichen, sich flexibel dem Druck zu stellen. Ein wesentliches Element dabei ist die Arbeitszeitregelung. Priorität haben sollte die bedarfsorientierte Variation. Dies setzt die Bereitschaft zu gelegentlicher Kurzarbeit wie zu Überstunden voraus, ohne daß dies im einzelnen mit Kompensations- oder Sondervergütungsansprüchen verbunden wäre. Ein überzeugender Weg ist die Einrichtung von Zeitkonten auf der Basis einer vereinbarten Jahresarbeitsleistung, wie es schon vielfach praktiziert wird. Freilich darf man sich von einer flexiblen Arbeitszeitregelung keine langfristige Absenkung der Arbeitslosenquote erhoffen; der Vorteil liegt in der Stabilisierung der Beschäftigung über den Zyklus (Jackman u.a. 1996: 20). Eher kontraproduktiv - und auch steuersystematisch fragwürdig - ist dagegen die in Deutschland geltende Freistellung der Sonn- und Feiertagszuschläge von der Einkommensteuer. Natürlich müßte eine Reform die entstehenden Einkommensbrüche beachten, etwa in der Form einer degressiven Übergangsregelung, die es den Tarifparteien auch ermöglichen würde, ihre Lohnverhandlungen darauf abzustellen. Beschäftigungspolitisch im Saldo eher wirkungslos ist eine Lockerung des Kündigungsschutzes. Sie veranlaßt die Unternehmen zwar zu mehr Neueinstellungen, aber auch zu mehr Entlassungen (Jackman u.a. 1996: 20). Es besteht daher kein Anlaß, diese soziale Errungenschaft dem Flexibilisierungsanspruch zu opfern. Teilzeitarbeit erhöht die Beschäftigung und ist in ihrer freiwilligen Variante eine sinnvolle Politik. Freilich wirkt sie sich auch erhöhend auf die Erwerbsquote aus, so daß die Arbeitslosigkeit nicht im gleichen Maße sinken muß.

Eine wichtige beschäftigungspolitische Chance, die aus der Globalisierung erwächst, ist der Umstand, daß mit steigendem Realeinkommen und zunehmender Komplexität von Produktion, Vermarktung und Finanzierung der arbeitsintensive Dienstleistungssektor überproportional wächst. Die Chance wird wahrgenommen, wenn das Wachstumspotential auch ausgeschöpft wird und wenn die Anpassung des Angebotsprofils der Arbeit sowohl inhaltlich bewältigt wird als auch finanziert werden kann. Die inhaltliche Bewältigung setzt vor allem beruflich verwertbare Bildungsanstrengungen voraus. Immer anspruchsvollere Maßnahmen müssen immer breitere Schichten der Bevölkerung erfassen, denn die Globalisierung wird künftig in den Industrieländern verstärkt auch gehobene Kenntnisse und Fertigkeiten unter Wettbewerbsdruck setzen (Woodall 1996: 37).

Was hätte aber mit den Arbeitslosen zu geschehen, die trotz intensiver Bemühungen durch Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen nicht erreicht werden können bzw. für die einfach keine Arbeitsplätze in Wirtschaft und Verwaltung vorhanden sind? Hier sollte aus finanziellen, gesellschaftlichen und individualpsychologischen Gründen vorrangig dem Grundsatz "Geld gegen Arbeit statt für unfreiwilliges Nichtstun" gefolgt werden. Dies könnte u.a. über subventionierte "Eingliederungsverträge" (Arbeit auf Probe) zwischen Arbeitsverwaltung und Unternehmen wie jüngst in Deutschland geschehen. Dabei muß allerdings sehr genau auf Beschränkung, Ausgestaltung und Kontrolle gesehen werden, denn nach den französischen Erfahrungen führt eine extensive Handhabung von Einstellungszuschüssen nur zu Substitutionseffekten, kommt letztlich nicht der Zielgruppe zugute und schafft keine zusätzlichen Arbeitsplätze (Beschäftigungsobservatorium 1996: 9). Auf Seiten des einzustellenden Langzeitarbeitslosen sollte der Einkommensanspruch an die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme - bei begrenzter Wahlmöglichkeit - gekoppelt werden, d.h. im Falle einer Verweigerung entfiele in Deutschland die Arbeitslosenhilfe. Denn wie die Beispiele USA, Kanada, Japan und Schweden zeigen, ist die Befristung von Lohnersatzleistungen eine wirksame Prophylaxe gegen Dauerarbeitslosigkeit (Layard 1997: 2f.). Dem entspräche auf Seiten des Staates die Garantie eines befristeten Arbeitsplatzangebots, denn die betroffene Person kann nicht einfach in die Mittellosigkeit entlassen werden. Weitere Möglichkeiten sind die fiskalische Lohnkostenentlastung im Bereich haushaltsnaher Dienste - wo im Zweifel ein großes, hoch preiselastisches Nachfragepotential vorhanden ist, das sich mit zunehmender Frauenerwerbstätigkeit noch vergrößert - oder gemeinnützige Arbeiten ohne privatwirtschaftliche Konkurrenz.

Mit der Finanzierungsfrage ist das zweite Paradoxon angesprochen. Mit Ausnahme von Japan und Australien ist das Körperschaftsteueraufkommen in allen Industrieländern relativ gering, nirgendwo aber so gering wie in Deutschland und Frankreich (Economist 1996: 111). In den meisten Industrieländern ist die Unternehmensteuerlast in den letzten zehn Jahren systematisch gesenkt worden (Bach 1996: 1). In Deutschland ist die Gewinnsteuerquote, d.h. der Anteil der Steuern am Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen, im Zeitraum 1980 bis 1997 von ca. 37% auf ca. 22% zurückgegangen (Teichmann/Zwiener 1997: 243). Der Grund ist die Flüchtigkeit des Kapitals. In Singapur und Hongkong ist die Belastung mit Einkommensteuer (und auch der psychologisch so wichtige Spitzensteuersatz) nur halb so hoch wie in vielen EU-Ländern (Economist 1996: 110). Und auch für private Kapitalgeber würden Möglichkeiten zur Steuerumgehung und -Hinterziehung selbst dann fortbestehen, wenn sich z.B. Luxemburg einer Gemeinschaftsinitiative zur Einführung einer EU-einheitlichen Quellensteuer auf Kapitalerträge anschlösse. Dies begrenzt das Maß, in dem die EU hier Abhilfe schaffen kann. Eine Harmonisierung der unternehmensrelevanten Steuern im Rahmen der EU ließe den Steuerwettbewerb der EU insgesamt mit attraktiven Standorten in anderen Teilen der Welt unberührt. Immerhin ist innerhalb Westeuropas das Wechselkursrisiko, das die Steuervorteile von Drittländern relativiert, gering und entfällt in der künftigen Währungsunion ganz, so daß eine Steuerharmonisierung durchaus am internen Steuergefälle orientierte Kapitalströme verhindern könnte. Die Bereitschaft dazu ist in einigen der Mitgliedstaaten indes äußerst gering.

Wenn aber die Kapitaleigner als die Hauptgewinner der Globalisierung steuerlich geschont werden müssen, so erscheint es angebracht, sie in ihrer Eigenschaft als Verbraucher und Ressourcennutzer zu besteuern, in der sie nur sehr begrenzt in Steueroasen entfliehen können. Dies setzt allerdings einen Umbau des Steuersystems voraus. Auch dafür wäre primär jeder Mitgliedstaat selbst zuständig, und einige unter ihnen haben einen solchen Prozeß auch schon in Gang gesetzt. Ein solcher Umbau sollte jedoch besser von vornherein auf europäischer Ebene harmonisiert werden, damit nicht neue Wettbewerbsverzerrungen entstehen. Gelänge dies, so würde die EU einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, die Ausbreitung öffentlicher Armut in einem Umfeld privater Wohlstandsmehrung zu verhindern und die Mittel bereitzustellen, mit denen die Verlierer der Globalisierung entschädigt bzw. - über Humankapitalinvestitionen - ebenfalls zu Gewinnern gemacht werden könnten. Diese Investitionen wären wiederum Sache der Mitgliedstaaten.

Solche Prävention gegen Dauerarbeitslosigkeit ist die Hauptaufgabe nationaler Beschäftigungspolitik im Zeitalter der Globalisierung. Dabei geht es um zwei Probleme. Einmal müssen die Unternehmen und Forschungszentren über bestens ausgebildete Kräfte in der Spitzentechnologie verfügen. Dies impliziert in bezug auf Rahmenrecht, Hochschulen, Forschungsförderung, Finanzierung und Kooperation/Vernetzung ein innovationsbegünstigendes FuE-Umfeld. In einigen EU-Ländern, darunter Deutschland, sind hier die Anstrengungen zu gering oder lassen sogar nach. Zur Forschungsförderung und Vernetzung kann auch die EU beitragen. Zum anderen muß die Ausbildung auch auf dem mittleren Qualifikationsniveau verbessert werden, denn die Globalisierung setzt in den Industrieländern mehr und mehr selbst gehobene Kenntnisse und Fertigkeiten unter verstärkten Wettbewerbsdruck (Woodall 1996: 37). Ziel muß es u.a. sein, auf der Anwendungsseite, und zwar über das ganze Fertigungsspektrum hinweg, den Einsatz der bestverfügbaren Verfahrenstechnologie zu ermöglichen. Im Prinzip hat sich in Deutschland das gestaffelte, von unten nach oben durchlässige System aus dualer Berufsausbildung, Fachhochschul- und Hochschulausbildung bewährt. Dafür spricht, daß in Deutschland verglichen mit den USA und Großbritannien die Gruppe der wirklich Unqualifizierten gemessen an der Gesamtbeschäftigung gering ist. Das gilt innerhalb der Gruppe der wenig Qualifizierten auch für die Arbeitslosenquote; sie ist in Deutschland "nur" zweieinhalbmal, in den USA aber fast viermal so hoch wie bei den Höherqualifizierten (Franzmeyer u.a. 1996: 23). In Anbetracht veränderter Anforderungen an "life-long learning" dürfte es aber künftig notwendig werden, mehr "transferables Wissen zu vermitteln, d.h. eine stärker auf die Informations- und die Organisationstheorie gestützte, multifunktional und flexibel nutzbare Basisausbildung überbetrieblich sehr breitenwirksam anzubieten und die berufs- oder branchenspezifischen Kenntnisse in kürzeren Lehrgängen im Betrieb "draufzusatteln". Es muß aber auch - wie in Deutschland am Negativbeispiel Hochschulen/Fachhochschulen belegt - die quantitative Relation zwischen den verschiedenen Stufen des Bildungsangebots "stimmen". Auch wird in Deutschland mit 6,4 Jahren fast doppelt so lange studiert wie in den angelsächsischen Ländern (Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen 1997: 59), so daß ein Teil der in Relation zum BIP ohnehin recht niedrigen öffentlichen Bildungsausgaben als ineffizient eingesetzt gelten muß. Doch sind hier die Probleme national verschieden, und jedes Land muß seinen eigenen Weg finden. So hat etwa Frankreich seit hundert Jahren versucht, sich das deutsche duale Berufsbildungssystem anzuverwandeln. Dies ist noch stets daran gescheitert, daß nach dem elitären französischen Bildungsbewußtsein Ausbildung in dafür vorgesehenen Anstalten und nicht im Betrieb stattzufinden hat (Nübler 1994: 52f.). Auch bedürfte es dazu - wie in anderen Ländern, die dies versuchen, etwa den Niederlanden (Beschäftigungsobservatorium 1996: 29) - des kostspieligen und zeitraubenden Aufbaus einer regionalen Infrastruktur.

Aufgabe der EU im sozial- und beschäftigungspolitischen Zusammenspiel mit den Mitgliedstaaten wäre einmal die befristete und gezielte Beschränkung der Freizügigkeit, soweit diese zu sozialen Akzeptanzproblemen führen kann, die den gesamten Integrationsprozeß gefährden. Die Entsenderichtlinie liegt auf dieser Linie. Die sogenannte Scheinselbständigkeit, mit der die Sozialversicherungspflicht im jeweiligen Gastland umgangen wird, wäre ein zweites Aufgabenfeld (Däubler 1996: 155). Hinzu käme die begrenzte Harmonisierung von Standards bei gleichzeitiger Ausübung von Reformdruck mit dem Ziel eines Effizienzgewinns.

Die sozialpolitisch wichtigste und genuine Aufgabe der EU ist es aber, für ein höheres Wirtschaftswachstum zu sorgen. Hier wird sie mit der Europäischen Zentralbank künftig über das Schlüsselinstrumentarium schlechthin verfügen. Die auf ein höheres Wachstum gestützten beschäftigungspolitischen Initiativen der EU leiden indes unter einem doppelten Dilemma:

1. Die EU hat sich mit ihrer Festlegung auf ein einseitig angebotsorientiertes Paradigma das wichtigste Instrument zur Wiedererlangung eines gesamtwirtschaftlich hohen Beschäftigungsstandes selbst aus der Hand geschlagen.

2. Mangels anderer beschäftigungspolitisch direkt wirksamer, eigener Instrumente (großes Budget, eigene Steuerhoheit) will sich die EU selbst verpflichten, sämtliche Gemeinschaftspolitiken auch in den Dienst der Beschäftigungsförderung zu stellen. Damit mindert sie uno actu die Effizienz im Hinblick auf deren jeweiliges originäres Ziel.

Das erste Dilemma läßt sich am besten mit den Perspektiven für den Einfluß der EU auf das makroökonomische Steuerungspotential der Mitgliedstaaten belegen. Die künftige EZB wird aus Gründen der Reputationsabsicherung auf Jahre einen eher restriktiven Kurs fahren müssen. Maastricht-Kriterien wie Stabilitätspakt werden ebenfalls für viele Jahre dem Kreislauf öffentliche Kaufkraft entziehen. Langsamer Reallohnanstieg und Kürzung von Sozialleistungen dämpfen zugleich die Kaufkraft der privaten Haushalte. Da sich alle EU-Länder in gleicher Lage befinden, fallen auch 65% der Exportmärkte als Wachstumsmotor aus. Bleiben die Konsum- und die Exportnachfrage schwach, werden die Unternehmen trotz rationalisierungsbedingter Gewinnzunahme nur zurückhaltend investieren. Folglich dürfte das Wirtschaftswachstum in Europa schwach bleiben. Ohne hinreichendes Wachstum setzt sich aber der Beschäftigungsrückgang fort. Durch Personalabbau, soweit dieser nicht aus der Privatisierung von Diensten resultiert, werden die öffentlichen Körperschaften auch direkt zum Beschäftigungsrückgang beitragen. Es wäre daher geboten, daß sich die EU aus der Maastrichter Kriterienfalle befreit, in die sie sich - ungeachtet konjunktureller Desiderata und auch ungeachtet der schwachen ökonomischen Begründung - durch extreme Interpretationsfestlegung selbst hineinmanövriert hat.

Beispiele für das zweite Dilemma liefern die Transeuropäischen Netze (TEN), die Kohäsionspolitik und die Wettbewerbs-/lndustriepolitik. Zur Finanzierung der TEN reklamiert die Kommission die Aufnahme von Euro-Anleihen am europäischen Kapitalmarkt. Gleichzeitig muß sie die Mitgliedstaaten ermahnen, ihre Ausgaben und Schuldenaufnahme einzuschränken, um die Maastrichter Konvergenzkriterien zu erfüllen. Die Kohäsionspolitik leidet schon jetzt an mangelnder regionaler Ausgleichskraft. Wenn künftig weniger die allokative Effizienz als die Maximierung der Beschäftigungseffekte im Vordergrund steht, wird das originäre Ziel des Abbaus von Entwicklungsrückstand noch weniger erreicht; es entstehen an der Peripherie suboptimale Produktionsstrukturen, die die EU zudem einem verstärkten inneren Druck zur protektionistischen Abwendung von Konkurrenz aus Niedriglohnländern aussetzen. In der Wettbewerbs-/lndustriepolitik kann etwa die Situation eintreten, daß ein Firmenzusammenschluß aus Gründen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit für nötig befunden, dann aber auf der Grundlage der neuen Vertragsbestimmungen wegen drohender Entlassungen abgelehnt wird (Crossick 1996: 6).

Die Dilemmata führen die EU bei Überstrapazierung ihrer immanenten Spannungen in eine Glaubwürdigkeits- und Akzeptanzkrise. Hinzu kommt, daß die EU durch Reklamation von Kompetenz und vermeintlichem Handlungsspielraum einen Teil der Verantwortung an sich zieht, die genuin bei den Mitgliedstaaten liegt, so daß dort die eigenen Anstrengungen nachlassen. Dies könnte z.B. zum Problem werden, wenn beschäftigungspolitische Ziele in den EG-Vertrag aufgenommen werden, diesen aber - aus guten Gründen - keine wirksamen Gemeinschaftsinstrumente zur Seite gestellt werden.

Es muß aber daran erinnert werden, daß das Hauptentscheidungsorgan, das die Bedingungen der WWU und damit auch die Wachstumsperspektiven der Gemeinschaft bestimmt, der (Europäische) Rat ist. Er setzt sich zusammen aus den Repräsentanten der Regierungen bzw. der Staatsführung der Mitgliedstaaten. Es sind infolgedessen diese und nicht die originären Gemeinschaftsorgane Kommission und Parlament, die den Schlüssel zu höherem Wachstum in der Hand haben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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