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7. Ausblick



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7.1. Europäische Wirtschafts- und Währungsunion

Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion ist geeignet, sowohl das Wahrnehmungsdefizit für die Europäischen Belange als auch die Einschränkung des sozialpolitischen Handlungspotentials - zum einen durch die viel Geschworene (siehe oben 2.) Globalisierung, zum anderen durch die partiell damit identische (und gleichsam eine regionale Globalisierung bedeutende), zugleich aber auch darüber hinausreichende Europäisierung von Recht und Politik - zu illustrieren. Während auf nationalstaatlicher Ebene in Deutschland Demokratiegebot, Rechtsstaatsprinzip, Bundesstaatlichkeit und der Sozialstaatsgrundsatz als normative verfassungsrechtliche Vorgabe des sozialen Staatsziels in das Wirtschaftsgeschehen in Richtung auf einen sozialen Ausgleich intervenieren, haben die Entfaltung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten - Waren- und Kapitalverkehrsfreiheit, Freizügigkeit, Niederlassungs- und Dienstieistungsfreiheit -, die Liberalisierung, die Wettbewerbsfreiheit, die Privatisierung und die zunehmende Deregulierung auf Gemeinschaftsebene bisher keine entsprechende Korrektur erfahren.

Bezeichnenderweise haben im Zusammenhang mit den sogenannten Konvergenzkriterien für die Wirtschafts- und Währungsunion auch in der politischen Diskussion hierzulande allein Wechselkursstabilität, Ausgeglichenheit des Haushalts und Begrenzung der Staatsverschuldung, Preisstabilität und Zinsniveau eine Rolle gespielt, nicht aber soziale Zielsetzungen - wie z.B. ein bestimmter Vomhundertsatz als Obergrenze für den zulässigen Grad der Arbeitslosigkeit -, mit der Folge, daß die Erreichung der Stabilitätskriterien für die Wirtschafts- und Währungsunion durchaus auf Kosten der Beschäftigungslage und sonstiger sozialer Standards angestrebt werden kann und wird.

Für das vorstehend angesprochene Wahrnehmungsdefizit ist bezeichnend, daß in der öffentlichen Diskussion um die Wirtschafts- und Währungsunion hierzulande schon die Möglichkeit der Einführung derartiger sozialer Konvergenzkriterien kaum eine Rolle gespielt hat und auch im Zusammenhang mit dem den Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion flankierenden "Stabilitätspakt" davon nur vergleichsweise wenig die Rede gewesen ist.

Angesichts des Umstandes, daß die sozialpolitische Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten bereits eingeschränkt ist und in zunehmendem Maße weiter eingeschränkt wird, zugleich jedoch der Weg zur weiteren Europäischen Integration weiterhin wünschenswert ist und auf diesem Wege fortgeschritten werden soll, erscheint es sinnvoll, ja notwendig, den Verlust an nationalstaatlichen Handelsmöglichkeiten dadurch zu kompensieren, daß versucht wird, ihm auf Gemeinschaftsebene gegenzusteuern. Eine derartige Vorgehensweise steht auch mit dem Subsidiaritätsprinzip, welches für das Verhältnis von Europäischer Union/Gemeinschaft und Mitgliedstaaten gilt, insoweit im Einklang, als die Notwendigkeit zu verstärkten sozialpolitischen Interventionen auf Gemeinschaftsebene gerade daraus resultiert, daß ein entsprechendes Handeln der Mitgliedstaaten selbst keinen ausreichenden Erfolg verspricht. [ Zu einem engagierten Plädoyer für eine Verstärkung der "sozialen Dimension der Europäischen Gemeinschaft" vgl. Bercusson, B. u.a., Soziales Europa - ein Manifest, Hamburg 1996.]

Auf internationaler, EU-übergreifender Ebene gibt es zu derartigem Handeln auf der supranationalen Ebene der EG deshalb keine Alternative, weil die bisherigen Erfahrungen mit Versuchen, Sozialstandards weltweit vorzuschreiben, nur von äußerst geringem Erfolg gewesen sind.

In diesem Zusammenhang ist im übrigen einmal mehr daran zu erinnern, daß sowohl der wirtschaftliche wie politische Erfolg der EU-Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg nicht trotz des Ausmaßes ihrer Wohlfahrtsstaatlichkeit und der dafür getätigten Aufwendungen (z.B. in Vomhundertsätzen des Bruttoinlandsprodukts), sondern wegen dieser Maßnahmen erreicht worden ist, haben diese Maßnahmen doch zur Qualifizierung der Arbeitnehmer entscheidend beigetragen und haben doch der daraus erwachsende Produktivitäts- und Rationalisierungsfortschritt und der damit einhergehende gesellschaftliche Interessenausgleich und weitreichende soziale Konsens auch der gesellschaftlichen Befriedung gedient.

Der Sozialstaat steht heute wie stets in seiner Geschichte vor der Notwendigkeit, sich ändernden Ausgangs- und Rahmenbedingungen sowie sozialen Herausforderungen anzupassen. Neu ist freilich, daß dieser Wandel sich von nun an nicht allein auf nationaler Ebene vollziehen kann, sondern daß er auf inter- und vor allem supranationaler Ebene zu geschehen hat. Denn in der Vergangenheit hat sich die Sozialpolitik überall in Europa als nationale Politik entwickelt. Man darf davon ausgehen, daß die Expansion der Sozialpolitik in Verbindung mit der Demokratisierung ein wesentliches Element der Stabilisierung des Nationalstaats im 20. Jahrhundert gewesen ist. Dieses überkommene Konzept des Sozialstaats entfaltete sich in einem abgegrenzten Territorium, innerhalb dessen Kosten wie Nutzen des Sozialstaats ihren Niederschlag gefunden haben. Heute ist auch Europa ein Teil dieses sozialstaatlichen Gestaltungsraums und die Herausforderung Europas besteht letztlich darin, daß der Sozialstaat eine "Europäische Identität" gewinnen muß. [ Vgl. dazu Kaufmann, F. - X., a.a.O. (Fn. 3 = . Kaufmann, F. - X., Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt/Main 1997, S. 21ff. )]

Vor diesem Hintergrund sind auf europäischer Ebene sozialpolitische Maßnahmen zu treffen, die geeignet erscheinen, den aktuellen Herausforderungen zu begegnen und die gegenwärtig zu konstatierende "neoliberale Schieflage" in ähnlicher Weise auszutarieren, wie dies auf nationalstaatlicher Ebene in der Vergangenheit durch den Übergang von der freien zur sozialen Marktwirtschaft nicht ohne Erfolg geschehen ist. Dies bedeutet, daß der "negativen" Europäischen Integration in Gestalt von Liberalisierung und Deregulierung eine "positive" Integration durch eine Sozialpolitik an die Seite gestellt werden muß, die dem de facto bestehenden Zwei-Ebenen-Modell - Nationalstaat und supranationale Europäische Gemeinschaft - Rechnung trägt. Zugleich gilt es, die "soziale Qualität Europas" sowohl auf nationaler wie auf supranationaler Ebene zu einem vorrangigen politischen Ziel zu erheben. [ Vgl. zu dieser Zielsetzung eindringlich und instruktiv die Beiträge in: Walker, A./van der Maersen, L./Beck, W. (Hrsg.), The Social Quality of Europe, Den Haag 1997.]

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7.2. Erweiterung der Europäischen Union

Die geplante Erweiterung der Europäischen Union um die mittel- und osteuropäischen Länder und Zypern würde einen Bevölkerungszuwachs um ca. 100 Mio. Menschen bedeuten. Zugleich stellt freilich die Zahl der Beitrittskandidaten und die mit ihrem Beitritt verbundene erhebliche Vergrößerung des wirtschaftlichen und sozialen Gefälles innerhalb der Union diese vor große Probleme. Die Bevölkerung der EU wird um rund 1/4 auf fast 500 Mio. anwachsen, während sich gleichzeitig das gesamte Bruttoinlandsprodukt der Union lediglich um 5% erhöhen wird.

Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Politik ist in ihrer Mitteilung "Agenda 2000. Eine stärkere und erweiterte Union" [ Europäische Kommission, Dokument KOM (97) 2000 endg. (abgedr. in: Bulletin der Europäischen Union, Beilage 5/97), Brüssel 1997.] ausführlich dargestellt worden. Das Dokument, welches auf Ersuchen des Europäischen Rates von Madrid erstellt worden ist, erläutert, in welcher Weise die Kommission die verschiedenen Beitrittsanträge geprüft hat, welche Hauptprobleme diese Anträge aufwerfen, und welcher Zeitplan für die Eröffnung der Verhandlungen am realistischsten erscheint; zugleich enthält es die wichtigsten Schlußfolgerungen und Empfehlungen der EU.

Diese Schlußfolgerungen und Empfehlungen stützen sich auf die Kriterien, die vom Europäischen Rat in Kopenhagen 1993 festgelegt worden sind:

"Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muß der Beitrittskandidat
- eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schatz von Minderheiten verwirklicht haben,
- sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten,
- die Mitgliedschaft setzt ferner voraus, daß die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können. "

Auf Ersuchen des Rates hat die Kommission Stellungnahmen zu den einzelnen Beitrittsanträgen ausgearbeitet. Dabei hat sie insbesondere auch die Fortschritte geprüft, die im Rahmen der bilateralen Abkommen zwischen der EG und den Beitrittsaspiranten als Wichtigstem Element in den Beziehungen der Europäischen Union zu den beitrittswilligen Ländern erzielt worden sind. Europa-Abkommen (Assoziationsabkommen) über wirtschaftliche Zusammenarbeit, Handel und politischen Dialog sind mit sechs der beitrittswilligen Länder bereits in Kraft getreten. Im Falle Estlands, Lettlands und Litauens müssen die Abkommen noch von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden, bevor sie in Kraft treten können. Das Abkommen mit Slowenien muß noch vom slowenischen Parlament ratifiziert werden.

Im Anschluß an die vorstehend wiedergegebenen Vorgaben des Europäischen Rates von Kopenhagen unterscheidet die Kommission (1) politische Kriterien, (2) wirtschaftliche Kriterien sowie (3) sonstige Verpflichtungen der Mitgliedschaft.

Zu den politischen Kriterien gehören neben Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und dem Schutz von Minderheiten insbesondere die Menschenrechte, deren Wahrung nach Auffassung der Kommission "in den meisten beitrittswilligen Ländern im Prinzip gewährleistet" ist. Alle diese Länder sind der Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie dem Protokoll beigetreten, nachdem Bürger die Möglichkeit haben, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden.

Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Kriterien wird den Beitrittskandidaten bescheinigt, beim Übergang zur Marktwirtschaft beachtliche Fortschritte erzielt zu haben, u.a. bei der Privatisierung und Liberalisierung, auch wenn sich ihre wirtschaftliche Lage sehr unterschiedlich darstellt. So macht etwa das durchschnittliche Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt der beitrittswilligen Länder nur 1/3 des entsprechenden Wertes der Europäischen Union aus. Keines der beitragswilligen Länder erfüllt allerdings bereits die festgelegten ökonomischen Bedingungen in vollem Umfang.

Was die sonstigen Verpflichtungen der beitrittswilligen Staaten angeht, so wird die Übernahme und Umsetzung des Besitzstandes zum Zeitpunkt des Beitritts von der Kommission als eine Aufgabe eingeschätzt, die beträchtliche zusätzliche Anstrengungen abverlangt. Diese Herausforderung ist weit größer als bei früheren Erweiterungen der Europäischen Gemeinschaft, weil es sich beispielsweise bei der letzten Erweiterung bei den neuen Mitgliedern, die zuvor bereits dem Europäischen Wirtschaftsraum angehörten, um hochentwickelte Volkswirtschaften handelte, die sich bereits große Teile des Europäischen Besitzstandes - "acquis communautaire" - zu eigen gemacht hatten. Dies gilt nicht für die jetzigen Beitrittskandidaten. Überdies hat sich das Gemeinschaftsrecht inzwischen erheblich erweitert mit der Frage, daß die Schwelle, die beim Eintritt in die Gemeinschaft überschritten werden muß, sehr viel höher ist, als dies früher der Fall war.

Es muß in diesem Zusammenhang angemerkt werden, daß der Europäische Rat wie schon bei früheren Erweiterungen jeden Gedanken einer nur teilweisen Übernahme des Besitzstandes ausgeschlossen hat.

Die vom Europäischen Rat in Essen definierte Heranführungsstrategie beruht auf drei Pfeilern: den Europa-Abkommen, dem strukturierten Dialog und dem Programm PHARE. Entsprechend dem Wunsch des Europäischen Rates von Dublin schlägt die Kommission nunmehr eine Intensivierung dieser Heranführungsstrategie zugunsten der beitragswilligen Länder Mittel- und Osteuropas vor. Diese intensivierte Strategie enthält zwei neue Elemente, mit denen eine bessere Kohärenz zwischen der Vorbereitung auf den Beitritt und den eigentlichen Beitrittsverhandlungen erreicht werden kann:

- Zusammenfassung aller verfügbaren Mittel und Formen der Unterstützung zu einem einheitlichen Gesamtkonzept, das aber auf jedes einzelne Land zugeschnitten ist als "die Partnerschaft für den Beitritt", um die Übernahme des Besitzstands und der Gemeinschaftsdisziplin zu erleichtern;

- Teilnahme der Beitrittskandidaten an den Gemeinschaftsprogrammen und Durchführungsmechanismen des Besitzstands.

Allgemeines Ziel der intensivierten Heranführungsstrategie SPAR (Stratégie de Pré-Adhésion Renforcée) ist es, ein kohärentes Programm zur Vorbereitung der Länder Mittel- und Osteuropas auf den Beitritt zur Europäischen Union anzubieten.

Was die Auswirkung einer EU-Mitgliedschaft der beitragswilligen Länder Mittel- und Osteuropas auf die Politiken der EU angeht, so hat die Kommission eine entsprechende Wirkungsanalyse vorgelegt.

Darin heißt es zur Sozialpolitik, daß sie sich in einer erweiterten Europäischen Union mit den akuten sozialen Problemen der Beitrittsländer, u.a. mit Arbeitslosigkeit und öffentlichem Gesundheitswesen, sowie mit den Problemen wird befassen müssen, die sich aus dem Anpassungsprozeß sowohl in den bisherigen als auch in den neuen Mitgliedstaaten ergeben. Umfangreiche Investitionen in das Humankapital werden für notwendig erachtet, welche die Sozialpolitik der Gemeinschaft und ihre Finanzierung entsprechend belasten werden.

Die Anpassung der beitragswilligen Länder an den sozialen Besitzstand der Gemeinschaft und an das Europäische Sozialmodell wird dadurch erschwert, daß der Lebensstandard eines großen Teils der Bevölkerung weit unter dem EU-Durchschnitt liegt, das Berufsausbildungswesen nur unzureichend entwickelt ist, die Neugestaltung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern noch nicht abgeschlossen und noch verbesserungsbedürftig und daß die öffentliche Verwaltung z.T. ineffizient ist.

In manchen Bereichen, beispielsweise im Gesundheitswesen und in Fragen der Sicherheit am Arbeitsplatz, trägt die Anpassung der Beitrittsländer an den Besitzstand der Gemeinschaft zwar einerseits zur Wohlfahrt der Arbeitnehmer und zur Steigerung der Produktivität bei, er jedoch andererseits ernsthafte und manchmal kostspielige Anstrengungen ordert. Allerdings wird die Erweiterung die Bedeutung des sozialen Zusammenhalts als eines der Ziele des EG-Vertrags deutlich machen und insofern zur Stärkung der Rolle der Sozialpolitik beitragen.

Zu den potentiellen wirtschaftlichen Vorteilen der Erweiterung der Europäischen Union zählt, daß der verstärkte Wettbewerb am Arbeitsmarkt - entweder direkt durch Wanderbewegungen oder indirekt durch das Auftreten neuer Konkurrenten - aller Voraussicht nach zu einer moderaten Lohnentwicklung in Westeuropa und damit zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen wird.

Das substantielle Lohngefälle zwischen West und Ost wird trotz der hohen Arbeitslosigkeit in Westeuropa einen starken Anreiz für Wanderungen von 0st nach West sein. Auf der einen Seite könnte dies den bereits eingeleiteten Prozeß der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte - zumal in angrenzenden Ländern wie Deutschland, Österreich, Griechenland oder den skandinavischen Ländern - beschleunigen. Auf der anderen Seite könnten aber auch die Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt zunehmen, da es nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten für diejenigen westeuropäischen Arbeitskräfte geben wird, die durch diesen Prozeß verdrängt werden. Auch wenn der Anpassungsdruck am unteren Ende der Lohnskala am größten sein wird, mag es auch zu einem Zustrom höherqualifizierter Arbeitskräfte kommen, der gewisse Angebotsengpässe in diesem Segment des Arbeitsmarktes verringern könnte.

Wie groß diese Effekte sein werden, läßt sich nur schwer abschätzen: Der weithin erwartete massive Zustrom von Arbeitskräften aus Griechenland, Spanien und Portugal nach dem Beitritt dieser Länder ist in Wirklichkeit niemals eingetreten. Im Falle der derzeitigen Beitrittskandidaten mag die Größe des Lohngefälles die Wahrscheinlichkeit, daß es tatsächlich zu solchen Wanderbewegungen kommt, erhöhen, auch wenn andererseits diese Migrationen bis zu einem gewissen Grade durch die erwartete relative Verbesserung der Wirtschaftslage in den beitrittswilligen Ländern und die ungewissen Beschäftigungsaussichten im Westen umfangmäßig begrenzt werden. Im übrigen hängen Wanderungsbewegungen nach den bisherigen Erfahrungen überhaupt viel mehr von der Wirtschaftslage und den Wirtschaftsaussichten als vom Recht auf Freizügigkeit ab.

Die Anwendung des Besitzstandes im Bereich der Freizügigkeit anderer Personengruppen, d.h. der Nichterwerbstätigen dürfte nach Auffassung der Kommission keine größeren Probleme aufwerfen, da die bestehenden Vorschriften vermutlich ausreichen werden, um die Anpassungsbelastungen in Grenzen zu halten: Für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen für Studenten, Rentner und sonstige nichterwerbstätige Personen gelten spezifische Voraussetzungen im Hinblick auf den Nachweis ausreichender Mittel und den Kranken- und Sozialversicherungsschutz. Das Recht zur Ausübung eines freien Berufs ist ebenfalls mit bestimmten Auflagen verknüpft, so z.B. mit dem Nachweis eines anerkannten Befähigungsnachweises mit einer Mindeststudiendauer. In bestimmten Berufen im Gesundheitsbereich sind überdies Schutzbestimmungen gegen übermäßige Wanderungsbewegungen vorgesehen.

Die Familienzusammenführung aller Gruppen von Personen aus den Beitrittsländern, die derzeit ihren Wohnsitz in der Europäischen Union unterhalten, könnte hingegen eine gewisse Belastung für Sozialversicherungssysteme und soziale Infrastruktur sowie für den Arbeitsmarkt mit sich bringen.

Im Bereich der Sozialpolitik wird die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstands auf Seiten der Beitrittskandidaten beträchtliche finanzielle und administrative Anstrengungen erfordern, insbesondere in den Bereichen Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Eine zu langsame oder unzureichende Anpassung könnte jedoch die Einheitlichkeit des Besitzstands unterminieren und das Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigen. Langfristige Entwicklungsstrategien, die auch Wettbewerbsvorteile aufgrund niedrigerer Gesundheits- und Sicherheitsstandards setzen, wären innerhalb der Europäischen Union unannehmbar.

Ähnliche, wenn auch weniger schwere Probleme könnten im Bereich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern auftreten, wo bereits geeignete Rechtsvorschriften eingeführt worden sind, deren Durchführung jedoch darunter leidet, daß die derzeitigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Frauen und Männer in ungleicher Weise treffen.

Probleme könnten außerdem im Bereich des sozialer Dialogs und Arbeitsrecht auftreten, wo die Anpassung oftmals durch den Mangel an bzw. den niedrigen Entwicklungsstand von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen sowie den Widerstand einzelner Regierungen dagegen gehindert wird, die autonome Rolle der Sozialpartner, insbesondere der Gewerkschaften, anzuerkennen.

Die Erweiterung der Europäischen Union birgt die Gefahr, daß die Unterstützung für eine breit angelegte Sozialpolitik in der Europäischen Union insgesamt nachläßt, vor allem, falls sich die Beitrittsländer dem Besitzstand nur unzulänglich anpassen. Die Weiterentwicklung der Gemeinschaftspolitiken - Chancengleichheit für Frauen, Arbeitsrecht, Koordinierung der Sozialversicherungssysteme - könnte behindert werden, insbesondere wenn weiterhin Einstimmigkeit im Rat erforderlich ist. Auch die Erreichung der Ziele von Empfehlungen zum sozialen Schutz könnte sich verzögern. Auf der anderen Seite wird durch die Erweiterung freilich unweigerlich die Bedeutung des sozialen Zusammenhalts und folglich der Sozialpolitik für die Europäische Union deutlich werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 1998

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