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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 87]


Prof. Dr. Otfried Jarren
Die Entwicklung der Medien und ihre Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Politik (Politikern) und Medien (Journalisten)


Eine Analyse in Thesenform - vor allem aus Perspektive des politischen Systems

Thesenpapier für das „Medienforum: Von der Information zum Entertainment" der Friedrich-Ebert- Stiftung am 4. Dezember 2000 in Bonn

  1. Das Medien- und Kommunikationssystem wird zur zentralen Infrastruktur der modernen Gesellschaft. Von „Mediengesellschaft" kann gesprochen werden, weil

    • die publizistischen Medien sich quantitativ sowie qualitativ immer mehr ausbreiten,

    • sich die Medien anhaltend weiter ausdifferenzieren, die Vermittlungsleistung von Informationen durch Medien sich enorm beschleunigt hat,

    • neben die herkömmlichen Medienunternehmen andere Akteure als publizistische relevante Vermittler treten,

    • sich neue Medientypen herausgebildet haben,

    • Medien immer engmaschiger die gesamte Gesellschaft durchdringen,

    • Medien aufgrund ihrer hohen Beachtungs- und Nutzungswerte gesamtgeselischaftiiche Aufmerksamkeit erlangt haben und Anerkennung beanspruchen,

    • sich die Medien letztlich zu gesellschaftlichen Institutionen ent-wickeln.

  2. Medien werden zugleich mehr und mehr zur Voraussetzung für die Informations- und Kommunikationspraxis anderer Akteure. Pointiert formuliert: Ohne (publizistische) Medien keine Kommunikation zwischen gesellschaftlichen, ökonomischen Organisationen wie zwischen Organisationen und dem allgemeinen Publikum. Die Medialisierung

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    von ökonomischen, soziokulturellen und politischen Austauschbeziehungen stellt an alle Akteure, vor allem aber an jene des intermediären Sektors (wie Verbände, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften u.a.m.), neue Anforderungen.

  3. Durch den Wandel ist insbesondere auch die politische Öffentlichkeit in modernen Demokratien hinsichtlich

    • ihrer Struktur,

    • der beteiligten Akteure,

    • der Inhalte und

    • der Prozesse

    weitgehend medial beeinflußt. Im Hinblick auf Politikherstellung und Politikdarstellung ergeben sich für alle Akteure, die auf die Herstellung allgemeinverbindlicher Entscheidungen einwirken, also vor allem Parteien, Gewerkschaften, Verbände und Akteure des politisch-administrativen Systems, neue Anforderungen (Planung von Kommunikation, PR), weil sie ihre traditionellen Vermittlungsprivilegien und -möglichkeiten verlieren.

  4. Und gänzlich neu ist: Publizistisch relevante Medien werden nun keineswegs mehr allein von den traditionellen Akteuren (von jenen aus der „Medienbranche") betrieben, sondern zunehmend auch von anderen Akteuren wie bspw. Unternehmen aus der Dienstleistungsbranche. Im Bereich der Online-Kommunikation ist diese Tendenz bereits deutlich abzulesen. Zwar mögen diese neuen Akteure sich auf ihr Kerngeschäft dabei konzentrieren, aber sie „greifen" damit nach den traditionellen Medien und beeinflussen die (mittelständisch verfasste und organisierte) Medienbranche. Das setzt die traditionelle Medienbranche und die herkömmlichen Vermittler „unter Druck": sie verlieren ihre Vermittlungs- und Deutungsmonopole, sie müssen sich mehr und mehr PR-, Werbe- und Marketingleistungen übernehmen.

  5. Feststellbar ist im Zuge der anhaltenden Ausdifferenzierung des Mediensystems außerdem eine zunehmende Ökonomisierung (durch Branchenkonvergenz bis hin zum Redaktionsmarketing) der herkömmlichen publizistischen (Massen-)Medien und damit verbunden eine Loslösung der Medien von den gesellschaftlichen Gruppen, die bezogen

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    auf das politischen System eine intermediäre Funktion wahrnehmen. Die Verbindungen beispielsweise zwischen politischen Parteien oder Kirchen und der Presse sind nicht mehr vorhanden, und die engen Verbindung zwischen politischen Organisationen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nehmen tendenziell ab. Sie verlieren weiter an Bedeutung, wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen Angeboten an allgemeiner Aufmerksamkeit und Zuwendung einbüßt, auch weil er dann an Relevanz für diese Akteure verliert. Zugleich existieren vergleichbare Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Organisationen und dem privatrechtlichen Rundfunk oder Online-Anbietern überhaupt nicht. So ist und wird die Lizenzierungspraxis der deutschen Landesmedienanstalten, vor allem in der bisherigen Form, in Hinblick auf die Durchsetzung gesellschaftlicher Ziele irrelevant.

  6. Die Medien sind insgesamt somit kaum noch mit den gesellschaftlichen Organisationen verkoppelt. Medien agieren zunehmend eigenständig und in inhaltlicher Hinsicht „neutral". Sie organisieren weniger die Bürger für die gesellschaftlichen Gruppen und damit zugleich für das politische System, sondern sie organisieren Kaufkraftgruppen für die Wirtschaft. Diese Veränderung wirkt sich auf der Organisations- wie auch auf der Handlungsebene aus und beeinfluss das Interaktionsverhältnis von Politik (Politkern) und Medien (Journalisten): Die Beziehungen werden insgesamt „instabiler", weil die bekannten oder unterstellbaren ideologischen Nähen nicht mehr für das Beziehungsmanagement ausreichen.

  7. Nicht jedes einzelne Medium oder jeder Teilbereich, wohl aber das Mediensystem insgesamt gewinnt damit an relativer Autonomie gegenüber dem politischen System insgesamt. Das bedeutet jedoch keineswegs eine Veränderung gegenüber einzelnen politischen Akteuren: Insoweit und so lange einzelne politische Akteure Relevanz haben (Inhaber von Machtpositionen; Einflussnahme auf Gesetzgebungsverfahren; Einflussnahme auf die Verteilung von Subventionen; Einflussnahme auf Entscheidungen anderer politischer Akteure auch auf anderen Ebenen etc.) kommt es zur systematischen Kooperation. Mittels der Landesmedienanstalten, Initiativen zur Förderung der Medien (Subventionen), Massanahmen im Rahmen der sog. Standortpolitik) können

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    führende politische Akteure, die Machtpositionen innehaben, vor allem informell Einfluss auf Struktur-, Personal- und Programmentscheidungen nehmen. Damit entstehen symbiotische Beziehungen zwischen Politik- und Medieneliten, die unter demokratietheoretischen Aspekten als sehr problematisch eingestuft werden müssen. Die Bildung von „Elite-Kartellen", induziert durch Medien, zeigt sich auch im westeuropäischen Ausland (Beispiele: Italien, Grossbritannien).

  8. Zeitgleich mit dem relativen Autonomiegewinn der Medien vom gesamten politischen System nimmt die Modulation der Medien durch das Wirtschaftssystem zu, denn es steigt die Konkurrenz zwischen Anbietern und Angeboten auf dem sich herausbildenden und größer werdenden Medienmarkt um öffentliche Aufmerksamkeit, Publikumsbindung und Werbeeinnahmen. Es bildet sich ein hochgradig kompetitives Mediensystem heraus, in dem die Selektivität der Informationsauswahl und -darstellung zunehmend weniger durch medienexterne als vielmehr durch medieninterne Kriterien bestimmt ist. Die Selbstbezüglichkeit im Mediensystem nimmt zu. Redaktionelle Marketingkonzepte führen zur Herausbildung spezifischer Handlungs- und Produktionsweisen. Die Vermittlung von Politik und politischen Inhalten ist von diesen Strukturbedingungen mehr und mehr abhängig.

  9. Die mit der Differenzierung im Mediensystem verbundene Rationalisierung medialer Leistungserstellung führt insgesamt zu einer Differenzierung der Medienproduktion. Auf Seiten der Anbieter lassen sich vielfältige Differenzierungs- und Organisationsbildungsprozesse empirisch beobachten. Die Eigenkomplexität des Mediensystem nimmt zu, was sich an der Ausbildung von immer neuen Organisationsformen, neuen Vernetzungen innerhalb von Produktionsketten und zwischen Branchen ablesen lässt. Die weitere Entwicklung der Medien und des Mediensystems wird vor allem von der wechselseitigen Dynamik zwischen Leistungs- und Publikumsrollen abhängig sein. Damit einher gehen derzeit, zumal in den traditionellen Medienberufen, Professionalisierungs- wie auch Deprofessionalisierungstendenzen.

  10. Die Reichweite, die räumliche Unabhängigkeit sowie die Geschwindigkeit in der massenmedialen politischen Kommunikation haben sich er-

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    höht. Feststellbar ist dabei eine Dominanz elektronischer Medien, durch die der Aktualitätsdruck (so durch die Online-Angebote) zunimmt. Die damit verbundene Tendenz zur Live-Berichterstattung, zu „Echtzeit-Angeboten führt zu einer stark ereignisbezogenen und sensationsorientierten „Berichterstattungs"-Praxis. Durch Angebotsvielfalt und Informationsverdichtung ergeben sich für Informationsanbieter und -nutzer spezifische Anforderungen: Erstere konkurrieren mit vielen anderen um die mediale Aufmerksamkeit und letztere benötigen ein hohes Maß an Medienkompetenz, um Auswahlentscheidungen treffen zu können. Daraus resultiert ein Verlust an politischer Konturierung im gesamten Mediensystems - sowohl aus der Sicht der Informationserzeuger (politischer Organisationen) wie auch aus der Sicht der Mediennutzer (der Rezipienten und Bürger).

  11. Damit ist absehbar, dass es auch in der Bundesrepublik Deutschland in der politischen Kommunikation zu „amerikanischen Verhältnissen" kommen kann, zumal dann, wenn die gesellschaftlichen Großorganisationen - insbesondere die politischen Parteien - an Bindungskraft und Organisationsfähigkeit einbüßen. Für Europa und die Bundesrepublik ist zu erwarten, dass die privaten Rundfunkanbieter zunächst in Wahlkämpfen an Bedeutung gewinnen werden (Politikvermittlung, Kandidaten- und Parteiimage u.a.m.). Der Kauf oder die Bereitstellung von Sendeplätzen (paid media vs. free media) dürfte sich in nächster Zeit als ein bedeutendes politisches und rechtliches Problem erweisen (auch: Parteienfinanzierung, Chancengleichheit politischer Parteien und gesellschaftlicher Organisationen). Insgesamt wird die Bedeutung von Kampagnen steigen.

  12. Gesamtgesellschaftlich steigt das zur Verfügung stehende Medienangebot ständig an, während andererseits die Nutzungs- und Verarbeitungskapazitäten auf Seiten der Rezipienten nicht wesentlich weiter zunehmen können. Speziellere Medien tragen somit dazu bei, dass sich das Publikum weiter in Teilpublika differenziert. Die Gefahr einer Segmentierung des Publikums, die Gefahr der Herausbildung von gegeneinander abgeschotteten Informations- und Kommunikationskreisen mit immer neuen - und vielfach nur auf Zeit existenten - Teil- und Unterforen nimmt zu. Über die Folgen dieser Entwicklung für das politi-

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    sche Grundverständnis, für gemeinsam geteilte Grundwerte und den gesellschaftlichen Zusammenhalt kann allenfalls spekuliert werden. Winfried Schulz bspw. hat in diesem Zusammenhang auf Gefahren hingewiesen: Er sieht durch die Medienentwicklung die gesellschaftliche Verständigung und die gesellschaftliche Integration als gefährdet an.

  13. Die dargestellten Veränderungen haben vielfältige Folgen, so weil sich der Modus der politischen Kommunikation verändert - Nachrichten erhalten aufgrund erwartbarer Publikums- und weniger aufgrund von Absenderwünschen Relevanz;

    • es ist ein Rückgang an direkten, interaktiven Kommunikations- und Auseinandersetzungsformen festzustellen;

    • die Auseinandersetzung politischer Akteure wird indirekter: sie kämpfen zunächst um die Medienaufmerksamkeit und

    • auch kleinste Gruppen und Grüppchen erhalten, wenn sie denn die Medienregeln beherrschen, also zu medienwirksamen Regel- oder Tabubrüchen fähig sind oder mit den Medien kooperieren wollen Chancen zumindest für eine Berücksichtigung in der Medienöffentlichkeit (bspw. Greenpeace).

  14. Medienwandel und der Wandel im intermediären System führen schließlich zu neuen politischen Öffentlichkeitsformen: Öffentlichkeit verliert ihre relative Stabilität - im Sinne einer Vorhersagbarkeit -in dem Masse, wie die gesamtgesellschaftlich relevanten eigenständigen (und nicht-medialen) Informations- und Kommunikationsleistungen gesellschaftlicher Organisationen an Bedeutung verlieren, das Nutzungsverhalten sich individualisiert und die politischen Informationsleistungen des Mediensystems mit ihren möglichen Wirkungen auf die Bürger nicht mehr „sicher" vorhergesehen werden können. Politische Öffentlichkeit wird zum schlecht(er) kalkulierbaren Prozess, zumal dann, wenn die Berichterstattung über Politik für die Medien und die Nutzung von politischen Informationen auf Seiten der Bürger zu einer optionalen Frage wird.

  15. Für die politischen Akteure gilt:

    • Gewissheiten sind rar,

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    • die Veränderungsdynamik ist aufgrund von Modernisierungs- und Globalisierungstendenzen stark,

    • die Adressaten politischer Informationsangebote sind nicht mehr so leicht zu erreichen und eigenwillig und

    • die Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit als Bedingung der Möglichkeit öffentlicher Akzeptanz hat zugenommen.

Damit sind die politischen Akteure in Zukunft zu zweierlei „gezwungen": Zu meinen werden sie verstärkt selbst als eigenständiger Informationsanbieter und -Verbreiter auftreten, und zwar in unterschiedlichen Kooperationsformen. Damit werden die PR-Leistungen ausgebaut und optimiert. Zum anderen werden politische Akteure in strategischen Allianzen oder in Form von andauernden Partnerschaften mit Journalisten und Medien versuchen, ihre Informations- und Kommunikationsziele dauerhaft und möglichst ressourcenoptimal zu erreichen.

[Seite der Druckausg.: 94 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 2001

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