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24. Oktober


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A. Braun: Nun sind wir wieder bei unserem Thema, nämlich betreutes Wohnen, und das Land, der Nachbar, den wir uns heute ansehen wollen, ist Frankreich. Willkommen Frau Jani, auch Sie schon ein fast ständiger Gast unserer Freudenstädter Foren, diesmal also zur Frage, wie wohnt man im Alter in Frankreich.?

H. Jani: Einen schönen guten Morgen, ich hoffe, daß es Ihnen so geht wie mir, das heißt, daß Sie heute morgen fitter sind als gestern abend um halb neun. Ich werde Ihnen also etwas über Frankreich berichten, vielleicht weniger über betreutes Wohnen, als allgemein zum Wohnen im Alter, damit Sie überhaupt einen allgemeineren Überblick über die französische Situation bekommen. Einleitend einige Grundgedanken, wobei ich Ihnen - wie auch andere Referenten - die Zahlen nicht erspare. 1994, - unsere letzte Volkszählung war 1990, so daß das also fortgeschriebene Zahlen sind -, hatten wir 8,5 Millionen Menschen im Alter von 65 und darüber, das entspricht genau 15 % der Bevölkerung; das heißt, wir liegen so in etwa im europäischen Durchschnitt. Wir liegen auch in etwa tendenzmäßig im europäischen Durchschnitt bezüglich der männlichen Übersterblichkeit. Sie ist in Frankreich etwas stärker ausgeprägt als in den anderen Ländern, insofern als bei der Lebenserwartung die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Geburt 8 Jahre betragen, im Gegensatz z.B. zu Griechenland etwa, das heißt da liegen wir sehr hoch, so daß die Übersterblichkeit der Männer in Frankreich höher ist als anderwo. Daraus folgt selbstverständlich wie überall ein steigender Frauenanteil mit dem Alter. 54 % in der Altergruppe 60-74 ( da ist es gerade umgeschlagen, so daß es mehr Frauen sind, das ist immer so um das 50. Lebensjahr herum), aber es werden dann 84 % Frauen unter den 95-jährigen und darüber. Das heißt die Altenbevölkerung ist tendentiell eine eher weibliche Bevölkerung, aber auch das ist eigentlich überall der Fall. Selbstverständlich ergibt sich gleichzeitig daraus, das ist nicht nur eine eher weibliche Bevölkerung, sondern es ist eine Bevölkerung von weiblichen Witwen. Das sind zwei Elemente, die natürlich die ganze Situation der alten Bevölkerung in vielerlei Beziehungen sehr stark dominieren.

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Ich habe auch einige Dinge, damit es ein bißchen interessanter ist, auf französisch. Und zwar sehen Sie auf dieser Darstellung den Anteil der männlichen und weiblichen Verwitweten. Insgesamt haben wir 3,4 Millionen Verwitwete im Alter von 60 Jahren und darüber, darunter gibt es 16 % Männer und 84 % Frauen. Wenn man die Prozentsätze jetzt anders herum sieht, das ist dieses hier, dann gibt es unter den Männern, die 60 Jahre und darüber sind, 11 % Verwitwete; unter den Frauen sind es 43 %. Und in der Altersgruppe der 80-jährigen und darüber sind es dann 32 bzw. 78%. Aus diesen Zahlen ergibt sich also sehr deutlich, wie die demographische Struktur der Altenbevölkerung ist. Das heißt, es ergibt sich daraus eine starke Tendenz zum Alleinleben, zu Einpersonenhaushalten; auch das ist in allen Ländern mehr oder weniger stark ausgeprägt. Diese Tatsache wird häufig sehr einseitig gesehen, nicht gerade von Gerontologen aber z.B. von politischen Instanzen, insofern als man nur eine negative Betrachtung anstellt und sagt, das ist ein Indikator für Einsamkeit und Isolierung. Tatsächlich bedeutet es aber auch - darauf komme ich später wieder zurück - Selbständigkeit: z.B. eigenständiges Wohnen und Leben in einer gewissen Freiheit; dieses positive Element wird meines Erachtens viel zu häufig vernachlässigt, obwohl es eben ein Indikator dafür ist, daß heute gerade die sogenannten „jungen Alten" in einem Kontext von größerer Freiheit leben.

Wo leben die alten Franzosen? Jetzt geht es auf deutsch weiter, da habe ich mich selbst übertroffen! In normalen Haushalten leben wie in allen Ländern die meisten älteren Menschen: über 95 % unter den 60-jährigen und darüber und immer noch 87 % unter den Hochbetagten, 80 Jahre und darüber. In Heimen leben entsprechend wenige Leute, jeweils 4, 9 und 13 %, je nach der Altersgruppe. Unter den Heimen, ich sage das lieber jetzt gleich, dann brauche ich nicht nachher rumzuwühlen, um die Folie wieder zu finden, unter den Heimen sind aber auch Pflegeheime mitgezählt, wenn ich den deutschen Ausdruck auf die französische Situation übertrage, was nicht ganz richtig ist, weil es in Frankreich eher Krankenhäuser sind. Dann liegt der Anteil zwischen 3 und 10 % je nach den Altersgruppen in den Altenheimen; in den Pflegeheimen sind es dann 1 % bis im höheren Alter 2 %. Wir haben

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dort, Gott sei Dank, nur wenige Betten; und dann gibt es noch so um
1 % in religiösen Gemeinschaften.

A. Braun: Auch die Zeilen „Gefängnis" und „Wohnboote" in dieser Zusammenstellung sind ja ganz delikat.

H. Jani: Ja, das sind eben die Volkszählungen, die sind immer sehr präzise und ich finde es einfach interessant, daß es zwar sehr wenige alte Menschen im Gefängnis gibt, aber es gibt welche. Wahrscheinlich sind das eher Lebenslängliche, denn die Kriminalität unter den alten Leuten ist ja noch nicht allzu stark verbreitet, obwohl es Anfänge gibt.

Nur geschätzte Anteile habe ich in Bezug auf die Wohnheime, denn die laufen in den französischen Statistiken - weil man dort Miete bezahlt - nicht unter Heimen, sondern werden als normales Wohnen gezählt und werden auch nicht immer nach Altersgruppen in den Statistiken ausgeworfen. Unter den 80-jährigen und darüber sind es schätzungsweise weniger als 3 %. Das liegt an der Konzeption der Wohnheime, von der wir versuchen Abstand zu nehmen. Da greife ich jetzt etwas vor, weil die Wohnheime in Frankreich in den 70er Jahren konzipiert worden sind nicht als sozio - gerontologische Institutionen wie z.B. die Pflegeheime sondern als Antwort auf eine Wohnkrise, in der die älteren und alten Menschen lebten. Es war nur eine Antwort auf das Wohnproblem und die Betroffenen mußten „valide" sein, wie wir sagen. Das Problem entstand dann 10, 15 Jahre später, als diese Wohnungen nicht mehr der Situation des älteren Menschen angepaßt waren. Und statt jetzt diese Häuser den Menschen anzupassen, was ja logisch gewesen wäre, es waren eigentlich ideale Voraussetzungen der wohnlichen Zustände, um nun Pflegeeinrichtungen daraus zu machen, wurden die abgeschoben in andere Heime und das empfand man als sehr negativ.

A. Braun: Krankenhausartige Heime.

H. Jani: Ja, das kommt darauf an; also manche hatten das Glück, zuerst einmal in die Zwischenstation Altenheim zu kommen. Aber die ist damals in den 80er Jahren noch sehr wenig ausdifferenziert. Es gab zwar normale Hilfen für das tägliche Leben, die Alltagsbewältigung,

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aber es gab keine Pflege. So wurden die älteren Menschen dann häufig zu Migranten, Wanderern oder Touristen von Heim zu Heim. Mitte der 80er Jahre haben wir eine große Studie über diese ganzen Heimbedingungen gemacht und ein Leiter eines Pflegeheims, das eher zum Krankenhausbereich zu zählen wäre, stellte fest, daß sie eigentlich nur noch eine Art Gemüse oder so eine Art Larven kriegen, weil dieses permanente Wandern den Menschen psychisch derartig schlecht bekam, daß sie sich völlig aufgaben. Und wenn sie dann in dieser letzten Stufe der Pflegeheime landeten, dann waren sie also höchstens noch sechs Monate fähig zu überleben. Man ging dann eigentlich eher zum Sterben in diese sogenannten Pflegeheime. Über diese Zustände ist man sich seit langem in Frankreich bewußt, aber es dauert sehr lange Zeit, etwas zu verbessern, auch weil es eben so viel Geld kostet, diese Situation zu ändern. Aber darauf komme ich später zurück.

Was tun die Franzosen? Da lasse ich jetzt sehr viel aus, es ist zwar ganz lustig, was ich Ihnen da erzählen wollte; aber ich glaube, das ist doch nicht so effizient. Also was sie essen, trinken, wie sie rauchen und wieviel Alkohol sie konsumieren, das schenke ich Ihnen alles beziehungsweise schenke ich Ihnen nicht. Dafür geht es nun wieder auf französisch weiter.

Interessant finde ich hauptsächlich die Zeile, wo der erste große schwarze Pfeil ist. Da geht es um die Mobilität. Es können überall hinkommen, das heißt inklusive Treppen rauf und runter gehen oder wenn es in der Stadt mal etwas bergauf und bergab geht, 86 % der unteren Altersklasse 60 bis 64 Jahre, es sind dann aber nur noch 34 % unter denjenigen die 80 Jahre und darüber sind. Da sieht man also sehr drastisch, wie nach dem 78/80. Lebensjahr gerade der Risikofaktor in Bezug auf die Mobilität einbricht.

Erstaunlich finde ich diese Zahl: insofern als alle Aktivitäten, die hier aufgezählt sind, mit dem Alter eindeutig abnehmen, nur das Kochen nicht. 45 und 55 %. - wie die anderen zu ihrem Essen kommen, das weiß ich nicht, denn kochen tun ja mehr oder weniger alle außerhalb der Einrichtungen. Es wird relativ viel gelesen; wobei da aber auch die Tageszeitungen mit drin sind, es ist also nicht die hochintellektuelle,

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kultivierte Altenbevölkerung, die sich nun mit großer Literatur beschäftigt, das darf man nicht überschätzen. Das Radio wird relativ wenig genutzt, aber das ist ja in der ganzen Bevölkerung so; die Hauptbeschäftigung, das sieht man besonders auch in den Zeitbudgets - aber aufgrund des barbarischen Zahlen-Wusts habe ich Ihnen die nicht mitgebracht - stellt das Fernsehen dar mit jeweils 80 und 71 %. Es ist ja auch eine sehr angenehme Beschäftigung, sie hat so etwas schön Faules an sich und ist nicht sehr anspruchsvoll: man kann dabei schlafen und es ist eine Stimme im Haus. Das ist beim Radio natürlich auch so, aber wenn dann noch ein Bild dazu kommt, dann ist es lebendiger. Es gibt sehr, sehr viele alte Menschen, wahrscheinlich nicht nur in Frankreich, die allein leben und die den ganzen Tag nicht einmal ihre eigene Stimme hören. Weil keiner da ist, mit dem sie sprechen.



Viele basteln; das sind natürlich die Männer und darum sind die Zahlen relativ gering; nähen, stopfen, stricken usw. das sind dann nun die Frauen. Das verändert sich wenig im Alter, obwohl man denken könnte, daß mit der schlechteren Sehkraft diese Arbeiten nachlassen, aber

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wahrscheinlich werden dann nicht mehr so feine Dinge getan. Und das ist das Letzte: 77 bzw. 93 % gehen nie ins Theater, nie ins Kino, nie in ein Konzert. Das heißt sie nehmen an diesem kulturellen Veranstaltungen nie teil. Das ist eine sehr erschreckende Zahl, finde ich.

Mein zweiter Teil gehört dem Leben in den Privathaushalten. Erinnern wir uns, selbst unter den 80-jährigen und darüber sind es immer noch 87 %. Das heißt, das ist der größte Teil der alten Bevölkerung. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die wirtschaftliche Situation der älteren Menschen in Frankreich entscheidend geändert. Dasselbe gilt für die Wohnsituation, für die Gesundheitsbedingungen und für die allgemeinen Lebensbedingungen. Ich habe vor über 30 Jahren angefangen in der sozialgerontologischen Forschung zu arbeiten und es sind wirklich Welten zwischen den Situationen, die Ende der 60er Jahre bestanden und die heute bestehen. Man kann zwar nicht generell sagen, daß die Altenbevölkerung heute zu der privilegierten Bevölkerung gehört.Aber es ist einiges dran, zumindest weil sie nicht mehr vom Arbeitsmarkt abhängen und ein - wenn auch nicht unbedingt hohes, so doch auf jeden Fall ein sicheres - Einkommen haben, und das gilt für kaum eine andere Altersgruppe.

Bezüglich der Wohnbedingungen gibt es in Frankreich einen sehr hohen Anteil von Wohnungseigentümern. E sind die Eigentümer, M sind die Mieter, und zwar von Leerwohnungen und A das sind andere. Unter den Mietern gibt es die Sozialwohnungen, die bei uns eine sehr große Rolle spielen: 11 % aller Altersgruppen der alten Bevölkerung leben in einer Wohnung des sozialen Wohnungsbaus. Diese Zahl verändert sich kaum. Das ist eine der wenigen, die sich nicht verändert, unter anderem, weil der soziale Wohnungsbau heute sehr viele Altenprogramme macht. Eigentümer gibt es also schon unter den 50 bis 59-jährigen über zwei Drittel. Unter den 40-jährigen ist die Zahl noch höher, da ist aber dann auch die Spitze erreicht, während es dann allmählich runter geht. Wegen der Umzüge z.B,, weil häufig, wenn man zum Rentner oder Pensionär wird, man dann in eine andere Gegend zieht, z.B. an die geriatrische Küste Nizza-Cannes - sie heißt offiziell so bei uns und selbst Dänemark baut heute, wie ich gehört habe, dort etwas für Ältere. Oder aber auch in andere Gegenden z.B. zu den Kindern oder in die Bre-

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tagne zurück, aus der man mit 20 Jahren ausgewandert ist. Viele gehen in ihre Ursprungsregion zurück und verkaufen dann ihre Wohnung oder ihr Haus. Oder es sind Schenkungen an die Kinder, weil das steuerlich interessanter ist, unter anderem. Da spielt natürlich auch mit hinein, daß die Unterhaltspflicht der Angehörigen greift, wenn man in ein Heim geht, - Frankreich und Deutschland gehören noch zu den seltenen Ländern, wo sich dies dann über den Regreß in der Sozialhilfe ausdrückt. Da besteht dann ein bestimmter Zwang, das zu verkaufen beziehungsweise an die Kinder weiterzugeben, damit die Kinder das dann bekommen. So also erklärt sich, warum gerade im hohen Alter der Eigentümeranteil sehr stark zurückgeht.

Andere Lösungen sind nicht nur die Wohnboote und das Gefängnis, sondern dazu gehört auch z.B. oder hauptsächlich das mietfreie Wohnen. Und aus diesen Zahlen, kann man sehen, daß das Zusammenleben mit den älteren Menschen innerhalb der Familie im hohen Alter zunimmt. Das Gratiswohnen, das mietfreie Wohnen nimmt zu, weil wie in allen europäischen Ländern der Hauptpfeiler der Betreuung und Pflege die Familie ist. Und wenn es in hohem Alter zur Schwerstpflege kommt, dann ist das getrennte Wohnen einfach unpraktisch, so daß also dann das Zusammenwohnen eine größere Rolle spielt.

Der Komfort der Wohnungen ist auch in der Altenbevölkerung heute sehr hoch oder gut, um es nicht zu übertreiben. Ich habe hier zwei Rubriken „mit allem Komfort" und „ohne allen Komfort", die Definition ist folgende: „mit allem Komfort" bedeutet die vier Grundelemente Warmwasser, Dusche oder Badewanne, Innentoilette und Zentralheizung. „Ohne allen Komfort" bedeutet nicht, daß jetzt ein Viertel der französischen Bevölkerung in Wohnungen ohne all dieses lebt, sondern die haben nur nicht alle vier Elemente. Sie haben praktisch alle Kaltwasser, fast alle Warmwasser, Innentoiletten sind nicht so ausgeprägt, obwohl es glaube ich auch nur noch knapp 10 % ohne diese sind. Ohne Komfort, das bedeutet also ohne alle vier Elemente zusammen; die Zahlen nehmen stark zu in der höheren Altersgruppen. Und das ist eigentlich sehr schlimm: wenn man sieht, daß unter den 90-jährigen und darüber 43 % nicht alle vier Elemente haben, ist das besonders schlimm, weil gerade diese Gruppe natürlich am ehesten alles braucht.

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Sie brauchen dringend eine Innentoilette, weil sie nachts aufstehen. Sie brauchen dringend eine Zentralheizung, weil es im Winter kalt ist selbst in Südfrankreich, oder auch weil es einfach in der Nacht frisch ist und man sich dann, wenn man eben nur im Nachthemd zur Toilette geht,natürlich sehr schnell eine Lungenentzündung holen kann. Diese relativ niedrige Zahl bedeutet, daß meist dann die Zentralheizung fehlt. Die Innentoiletten sind heute fast überall eingebaut.

Dann leben die Franzosen, die alten insbesondere, in relativ guten Wohnungszuschnitten. Sie haben relativ viel Platz. Also diese Zahlen zeigen, daß pro Wohnraum, wenn Sie die erste Linie, die 50-95-jährigen ansehen, 0,65 Leute leben. Das bedeutet also, daß sie mehr als ein Zimmer haben. Diese Zahl nimmt mit dem Alter ab, das heißt mit dem Alter gibt es weniger Wohnraum, weil manche ältere Menschen doch so vernünftig sind, daß sie die großen Wohnungen aufgeben. Das ist nicht immer der Fall, es ist ja auch schön, alleine in einer Vier - Zimmer - Wohnung zu sein. Na ja.

Diese Angaben sagen überhaupt nichts darüber aus, inwieweit es sich um altengerechte Ausstattung der Wohnungen handelt, es sagt auch nichts darüber aus, wie weit es barrierefrei ist; beides ist relativ selten der Fall. Es liegen überall diese wunderbaren Rutschteppiche rum und man stützt sich, wenn man nicht mehr so richtig gehen kann, mal rechts am Büffet, mal links an einem Sessel ab, der dann eventuell wegrutscht. Also vielleicht gibt es am ehesten noch erhöhte Toilettensitze und die Griffe an den Toiletten. Aber grundsätzlich würde ich sagen, obwohl ich da keine vergleichenden Zahlen habe, das also nicht wissenschaftlich belegt ist, ich glaube, daß da Deutschland weiter ist. Diese Zahlen sagen jedoch aus, daß die Grundbedingungen heute mehr oder weniger gegeben sind, vom wohnlichen her, um zu Hause leben zu können. Das war nicht der Fall, solange die alten Menschen, noch Anfang der 70er Jahre, auf jeden Fall die Städter, teilweise im 6. Stock ohne Fahrstuhl lebten, mit Ofenheizung, die Asche runter, die Kohlen raufschleppen mußten, der Wasserhahn irgendwo auf dem Korridor war und die Toilette in der Zwischenetage. Diese Zeiten sind vorbei, insofern kann man sagen, daß die Grundbedingungen heute gegeben sind.

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Auch die Haushalte der älteren Menschen sind relativ gut ausgerüstet, man kann sehen, daß je älter man ist, desto weniger langlebige Haushaltsausrüstungen gibt es. Zum Beispiel haben praktisch 100 % einen Kühlschrank; einen Gefrierschrank, was ja sehr praktisch wäre gerade für sehr alte Menschen, gibt es so um die 50 %, weniger im Alter. Fernsehen an die 100 %, Farbfernseher etwas weniger. Die Ausrüstung mit Telefonen ist sehr gut. Da ist in den 70er Jahren ein Sonderprogramm für alte Menschen vom Staat her, also von der Zentralregierung her gelaufen, damit die alten Menschen wenigstens Telefon hatten. Sie telefonierten zwar nicht, aber sie hatten es, wenn sie es brauchten. Die meisten haben heute eine eigene Waschmaschine. Die wenigsten sind - insbesondere im hohen Alter - so vernünftig, kein Auto mehr zu haben; aber in der jüngeren Altersgruppe, unter den „jungen Alten" haben, Gott sei Dank, viele ein Auto; leider sind es dann eher die Männer als die Frauen, denn in dieser Generation haben nicht so viele Frauen, wie unter den jüngeren heute, den Führerschein gemacht. Und noch weniger sind dann so mutig, das dann mit dem 60. Lebensjahr zu machen oder später, wenn sie zur Witwe werden. Und ein Magnetoskop hat natürlich so gut wie niemand, jedenfalls im hohen Alter.

A. Braun: 10 % Geschirrspüler, das ist doch ein guter Anteil für die ganz Alten.

H. Jani: Ja, es kommt darauf an, womit man das vergleicht. Also ich, ehrlich gesagt, habe natürlich seit 100 Jahren einen Geschirrspüler, weil ich nicht gerne Hausarbeit mache; aber ich würde sagen, daß es für ältere Menschen gar nicht so gut ist. Denn Abwaschen ist zwar eine blöde und langweilige Beschäftigung, aber es ist eine Beschäftigung, man hat eine Pflicht im Haus. Und es ist, finde ich, für die Selbständigkeit sehr wichtig, daß man Pflichten behält. Man hat schon nicht mehr die Pflicht, sich schön anzuziehen und das Gesicht anzumalen und häufig zum Friseur zu gehen. Diese Dinge fallen alle weg und es kommt auch sehr gut unserer, was für mich positiv ist, normalen gesunden Faulheit entgegen, daß man so vieles wegfallen lassen kann mit dem Alter. Das ist ein großes Privileg, wenn man nicht mehr im Arbeitsprozess steht und älter wird. Aber, die Rutschbahn nach unten, die ist sehr gefährlich und das Sichgehenlassen. Und wenn es dann dazu

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kommt, daß nur einmal die Woche abgewaschen wird, dann ist das natürlich nicht so gut. Aber ich glaube Haushaltsaktivitäten, die gucken einen dann ja auch irgendwie an; ich denke auch so manchen Mann. Da wird man dann doch etwas aktiver und das kam in allen Ausführungen gestern eigentlich sehr gut zum Ausdruck, das ist so wichtig für die Selbständigkeit. Dazu gehören Aktivitäten, dazu gehört, daß man sich zwingt, dazu gehört Selbstdisziplin. Und es ist sehr schwer, das durchzuhalten, wenn kein Druck mehr von außen kommt.

An dieser Stelle komme ich kurz zurück zu den Einpersonenhaushalten, die mit dem Alter sehr stark zunehmen. Ich sagte, daß es falsch ist, darin nur einen Indikator für Einsamkeit und Isolierung zu sehen, obwohl daran natürlich auch etwas Wahres ist. Aber man darf es nicht so einseitig betrachten. Die goldenen Zeiten - von denen wir träumen - die Zeit des Drei-Generationen-Haushaltes hat es nie gegeben. Schon aus demographischen Gründen nicht. Denn die meisten Kinder haben nicht einmal ihre Großeltern gekannt, weil die einfach früher starben. Wir haben eine sehr nostalgische Vorstellung, nicht nur wir Franzosen, denke ich, die weder Familiensoziologen noch Familienhistoriker bislang bestätigen konnten. Diese nostalgische Vorstellung des „großen Hauses" - Oma mit weißem Haar und Knoten, die liest den Kindern Märchen vor, und diese ganzen schönen Bilder. Die Dreigenerationenhaushalte, sofern es sie gegeben hat, entstanden vielfach aus Gründen innerfamiliärer Eigentumsverhältnisse, woraus sich Abhängigkeiten ergaben auf der Seite der Jüngeren oder auf der Seite der Älteren, je nachdem wann das Eigentum übergeben wurde, und daraus ergaben sich selbstverständlich Machtkämpfe. Das war keine goldene Zeit des Zusammenlebens. Wenn also heute sehr viele Ältere und alte Menschen alleine wohnen und leben, dann weil diese intergenerative und innerfamiliäre Abhängigkeit heute sehr stark abgebaut werden konnte aufgrund der neuen demographischen und auch sozialen Strukturen, die inzwischen entstanden sind. Diese Abhängigkeit ist heute weitgehend abgebaut. Neuere familiensoziologische Untersuchungen zeigen für Frankreich, daß der tiefe Strukturwandel der Familie zu besseren Beziehungen denn je geführt hat. Die neuen Beziehungen zwischen den Generationen innerhalb der Familie haben zu einem regen Austauschsystem materieller Art und inmaterieller Art geführt, wobei unbedingt

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Reziprozität gegeben ist, aber zeitlich verschoben. Das heißt, daß z.B. jüngere Alte ihren Kindern helfen, indem sie ihnen Eigentum übergeben, Wohneigentum z.B. indem sie sie unterstützen, damit die Enkel eine gute, längere Ausbildung haben können, indem sie im Falle von Arbeitslosigkeit Unterstützung leisten können. Sie kümmern sich sehr viel als Großeltern um die Enkel, gerade in den sehr langen Sommerferien in Frankreich usw. Sie geben sehr viel und in einer späteren Phase werden sie dann zu den mehr Nehmenden. Aber der Austausch besteht und er ist sehr rege. Pauschal kann man sagen, daß die jungen Alten eher die Gebenden sind und die alten Alten mehr die Nehmenden. Das braucht natürlich nicht unbedingt so zu sein. Auch für die sehr Alten - und das wäre für mich ein großer Fortschritt in der Sozialgerontologie oder überhaupt im Altenbereich, wenn das endlich mehr wahrgenommen würde - gilt, daß, auch wenn man physisch abhängig ist von Hilfen und wenn man pflegeabhängig ist, man unbedingt fähig ist, noch etwas zu geben. Aber die Austauschidee, die gilt dann nicht mehr. Dadurch entsteht das, was ich als negative Helfersituation bezeichne: man denkt, daß wenn jemand z.B. nicht mehr laufen kann, daß er dann auch nicht mehr alleine entscheiden kann, daß er nichts mehr geben kann. Er könnte wunderbar noch den Kindern Geschichten erzählen; er kann auch Nachhilfestunden geben, er kann bei der Alphabetisierung helfen, er kann sehr viel machen, auch wenn es nur noch bei ihm zu Hause geht. Und diese Idee des Gebens im hohen Alter, die müßte sehr stark wieder kommen, glaube ich. Auch was die formellen Hausdienste betrifft: die dürfen nicht nur kommen und sagen, hier das kriegst Du an Hilfen, sondern die müssen auch sagen, was kriegen wir, was gibst Du dagegen? Nicht nur an Geld, gerade kein Geld. Heute führen familiäre Abhängigkeit und Wohnprobleme nicht mehr ins Heim. Was führt ins Heim oder welche Faktoren führen ins Heim, dahin, das haben wir gestern immer wieder gehört, wohin eigentlich keiner will? Was dorthin führt, ist vorrangig eine Kombination einerseits aus dem Gefühl der Einsamkeit, die insbesondere eintritt bei der Verwitwung in sehr hohem Alter, sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen, eine Kombination also aus dem Gefühl der Einsamkeit und einem starken Hilfs- bzw. Betreuungsbedarf. Ein Beispiel: zahlreiche alte und hochbetagte Ehepaare stützen einander gegenseitig mit Hilfe von formellen Hausdiensten so gut es jeder noch kann. Dieses System bricht dann zu-

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sammen, und zwar vollständig, wenn einer der beiden stirbt. Und dann ist es der doppelte Faktor: diese Kombination aus Einsamkeit und sozialer Isolierung, die sich allmählich aufgebaut hat, und der starken Pflege - oder Betreuungsbedürftigkeit. Und diese beiden Phänomene führen dann insbesondere bei Verwitwung in hohem Alter ins Heim.

Das Verbleiben zu Hause bis ins sehr hohe Alter ist heute möglich dank der Familie und in geringerem Maße auch dank der formellen Hausdienste. In Frankreich bedeuten formelle Hausdienste insbesondere Haus(halts)hilfedienste, die sind sehr gut und seit sehr langer Zeit bei uns ausgebaut, und dann die Pflegedienste, die zwar genauso gut ausgebaut sind, aber dort gibt es weniger Plätze. Zwischenlösungen wie z.B. Tageszentren sind in Frankreich, im Vergleich zu Deutschland, unterentwickelt. Wir haben davon, ich weiß nicht, vielleicht nicht eimal 100, wahrscheinlich keine 10. Das ist sehr wenig; da ist einmal ein staatliches Programm gelaufen vor gut 10 Jahren, da wurden sehr viele geschaffen. Das war auch etwas Gutes, hat man festgestellt; die wurden wissenschaftlich begleitet, mit dem Ergebnis, daß das sehr positiv war, gerade zur Familienentlastung. Aber dann wurden die Kredite gestoppt und dann sind sie fast alle wieder eingeschlafen.

Zur Heimunterbringung möchte ich Ihnen keine Zahlen geben, sondern mir scheint es wichtig, allgemeine Überlegungen und Tendenzen aufzuzeigen. Außerdem sind Statistiken, besonders wenn man sie nicht so gut aus der Entfernung lesen kann, ziemlich langweilig. Was macht das Leben im Heim generell so unangenehm? Warum ist Heimeintritt so selten ein positives Lebensprojekt für die späteren Jahre? Und was macht das Image und die Vorstellung so negativ, die von der Realität der Heime, zumindest teilweise noch bestätigt werden? Zahlreiche interaktive Faktoren sind da bestimmend. Ich möchte hier insbesondere auf einen Aspekt eingehen, den man auf den Nenner Lebensqualität im Heim bringen kann, Betonung auf beide Worte. Der Grund für diese Ausrichtung oder Auswahl, die ich da geben möchte in meinem Vortrag, ist die starke Tendenz heute in Frankreich - aber ich habe gestern bestätigt gefunden, daß das dieselbe Tendenz eigentlich, vielleicht nicht in allen Ländern, aber in sehr vielen europäischen Ländern heute besteht - hin zu einer Zielvorstellung bei den Überlegungen, nicht un-

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bedingt leider im Bereich der Umsetzung, die Lebensqualität bedeutet, Leben und Qualität, also nicht Überleben bei qualitativ guter Pflege, sondern Leben. Man findet sie schon auch in älteren staatlichen Programmen aus den 70er Jahren, diese Tendenzen sind heute weitaus stärker ausgeprägt und das Erstaunliche ist, daß sie heute so ausgeprägt sind, wo die Kostendämpfung omnipräsent ist. Wobei man natürlich auch dann parallel feststellt, daß Lebensqualität nicht unbedingt nur mit Geld erbracht werden kann. Einer der wichtigen Gründe oder Antworten auf die drei vorangehenden Fragen ist meines Erachtens folgender: sieht man von den Grundbedürfnissen wie Essen, Schlafen, Hygiene, medizinische und paramedizinische Betreuung ab, dann sind Wünsche und Bedürfnisse der Individuen generell nicht Mittelpunkt der internen Hausorganisation. Es sind vielmehr oder eher die Arbeitszeiten des Personals, es muß um die und die Zeit die Körperpflege einsetzen, weil dann nämlich die erste Schicht des Pflegepersonals kommt, und Sie müssen, obwohl das glaube ich in Deutschland noch stärker ausgeprägt ist als in Frankreich, dann um so und soviel Uhr im Bett liegen, weil dann der Nachtdienst kommt und der macht dann nicht mehr das zu Bett bringen. Das ist etwas überspitzt ausgedrückt, aber trotzdem sind die Arbeitszeiten ein sehr starkes Phänomen

A. Braun: Wo ist das Ihrer Ansicht nach stärker ausgedrückt bei Ihnen oder bei uns?

H. Jani: Ich glaube in Deutschland. Dieser Zwang um 17 Uhr Abendbrot zu essen. Oder um 6 Uhr frühstücken. Das sind Krankenhausmanieren, obwohl das auch dort nicht unbedingt gerade angebracht ist. Es sind die finanzierten Stundenzahlen der Hilfen, es sind feste und festgefahrene Vorstellungen der Organisation des Hauses: man hat schon immer gewußt, wie es laufen muß, also läuft es jetzt so weiter. Das sind Einstellungen und Ideen des Personals; wobei es immer eine Schlüsselperson gibt, was meistens in den Heimen entweder die Oberschwester oder der Leiter ist. Es können aber auch andere Personen dort die Funktion einer Schlüsselperson haben, die dann negativ oder positiv das Heim bestimmen. Es ist, das folgt daraus, das Engagement für das Arbeitsfeld, in dem man steht, für die Aufgaben, die auszuführen sind, die sind heute noch selten klientenorientiert, sondern arbeitsorientiert

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ausgerichtet. Man kann dann etliche weitere Faktoren aufzählen, letztlich laufen sie alle darauf hinaus, daß es sich um ein negatives Konzept des Helfens handelt. Das heißt, Hilfsbedürftigkeit und Pflegebedürftigkeit führen zu mehr Hilfsbedürftigkeit und Pflegebedürftigkeit. Das ist diese Rutschbahn nach unten. Das liegt auch daran, - und ich will das jetzt bewußt positiv hinstellen -, daß 24 Stunden lang für mich jemand da ist; das ist sehr angenehm, aber das bedeutet auch, daß ich mich gehen lasse. Wenn ich in ein Heim eintrete und mein Portemonnaie nicht mehr zu verwalten habe, dann bedeutet das, wunderbar, ich habe nie mehr finanzielle Sorgen. Aber es bedeutet auch, daß ich nicht mehr weiß, wie teuer ein Joghurt ist und es bedeutet, daß ich nicht mehr eigentlich im Leben stehe.

Das Negative an diesem Konzept des Helfens ist auch, was ich eben sagte, daß kein Austausch besteht, daß keiner erwartet wird, und daß die Idee als völlig verrückt hingestellt werden würde, in diesen Heimen. Das heißt, das gesamte Konzept baut im Gegensatz zu dem betreuten Wohnen auf dem Leitbild der Abhängigkeit auf und nicht auf dem Leitbild der Selbständigkeit. Diese Selbständigkeit ist absolut notwendig für ein positives Leben im Alter, auch wenn es in irgendeinem Alter umschlägt; das wissen wir und das muß man auch respektieren, das heißt, der Instinkt zum Leben und zum Überleben wird übertönt von dem Instinkt zum Sterben. Und dann braucht der alte Mensch auch die Ruhe diesen Weg zu gehen. Und dann muß er natürlich befreit sein von diesem ganzen Abwaschen und solchen Dingen.

Nick de Boer, ein Holländer, der sein Heim in ein sehr interessantes neues Heim umgebaut hat, hat das Funktionieren und Organisieren seines Heims in Frage gestellt, indem er nach den Wünschen und Erwartungen der Bewohner gesucht hat und sie gefragt hat, sich mit ihnen unterhalten hat. Viele wußten gar nicht mehr, was sie wünschen, daß sie überhaupt Wünsche haben durften, aber durch die Gespräche sind sie dann wieder geweckt worden. Das Resultat, was er herausbekommen hat - und darum erwähne ich es - hat sicherlich Allgemeingültigkeit auch für andere Länder, nämlich daß die Wünsche, die Bedürfnisse dieser Menschen, erstens sehr einfach sind und zweitens genau unsere eigenen sind; sie wünschen sich erstens einen Platz, wo sie leben kön-

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nen, sich zu Hause fühlen und wo sie sicher sind. Das tun wir alle. Zweitens wünschen sie sich die Möglichkeit, ihr Leben selber zu gestalten und selber entscheiden zu können. Dazu gehört z.B. auch das Eingehen von Risiken: daß Personen, die nicht mehr wissen, wo sie sind, die kein gutes Gedächtnis mehr haben, daß die gerne draußen herumlaufen wollen. Dann sollen sie sich verlaufen; das sind Risiken, die man ihnen vielleicht bieten muß. Auch das gehört zur Selbständigkeit, daß man überhaupt noch Risiken eingehen kann. Ich habe vor einem Jahr bei einem Heimbesuch gesehen - es ist eigentlich ein ganz gutes Heim - daß dort die dementen Menschen in Rollstühle gezwungen wurden, dort angebunden wurden, sie wurden auch gewindelt, wegen dem Risiko, daß sie hinfallen, weil sie überall rumlaufen - die haben ja einen sehr großen Bewegungsdrang; und dann wurden die Rollstühle noch an das Treppengeländer gebunden, weil die Rollstühle sonst immer in der Gegend rumfuhren. Ich habe dann mit dem Arzt darüber gesprochen.- die hatten einen Hausarzt für das Heim, weil es eine sehr starke geriatrische Ausrichtung hat. Der Arzt, ein junger Arzt, hat mir mit besten Gewissen gesagt, nur so kann ich das Risiko ausschalten, daß die Leute sich den Hüftknochen brechen. Und dann habe ich gesagt, warum sollen sie das nicht? Dann würde die Familie, dann würden alle möglichen juristischen Instanzen über sie herfallen. Und dann habe ich gesagt, dann schließen sie eine Versicherung ab. Das hat nichts mehr zu tun mit menschlicher Würde, aber überhaupt nichts mehr. Aber, wie gesagt, ich hoffe, es gibt nur ein Heim auf der ganzen Welt, das das so macht.

Der dritte Punkt, was die Menschen sich wünschen, alle Menschen und insbesondere die, die in Heimen leben, ist die Möglichkeit, soziale Beziehungen zu unterhalten mit der Außenwelt und innerhalb des Hauses. Es ist z.B. signifikant, daß in den Pflegeheimen sehr wenig Familienbesuch ist. Ich habe mit Familien gesprochen, warum das so ist; das sind natürlich die ganz Schlimmen, wie das Personal behauptet. Die fühlen sich so schlecht dabei, ihre Mutter oder ihren Vater dorthin gebracht zu haben, daß es sie es aufgrund der Schuldgefühle nicht schaffen, diesen alten Menschen dort zu besuchen. Das heißt, sie erklären ihn in sich für tot. Wenn die Heimbedingungen, die Lebensqualität anders sind, dann ist es auch eher möglich, wird es eher möglich, daß die Beziehung zu

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der Außenwelt weiter bestehen und auch vielleicht weiter ausgebaut werden kann. Aber wenn der Besuch im Heim zu einer derartigen psychischen Belastung wird, dann ist es, finde ich, menschlich unbedingt verständlich, auch wenn es vielleicht nicht entschuldbar ist, aber das ist eine andere Frage, daß die Besuche so selten sind.

Allgemein kann man daraus folgern, daß die Erwartung, die an die Heime gestellt wird, die ist, daß die Rahmenbedingungen dafür geschaffen und garantiert werden, daß man auf diese drei Punkte antworten kann. Die Einlösung dieser Erwartung ist meines Erachtens Schlüsselelement der Heimqualität. Und das kann man sehr gut bei dem betreuten Wohnen sehen, auch wenn wir es vielleicht gestern eher ein bißchen idealisiert dargestellt bekommen haben, wie es eben sein sollte, mehr als es unbedingt nun tagein, tagaus so läuft. Aber die Tendenz ist richtig.

Ich möchte nun einige Punkte überspringen; aber mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß wir zumindest in einer Untersuchung festgestellt haben - aber ich glaube auch das hat Allgemeingültigkeit - je stärker die Wohndimension im Heim im Vordergrund steht, daß man eigene Möbel mitbringen kann, nicht nur das Bild vom Verstorbenen, sondern ein bißchen mehr, also einen Teppich und wirklich seine Möbel, so daß es einer Privatwohnung ähnelt, desto stärker ist das Personal in seiner ganzen Art sich zu benehmen, respektvoll und sieht den Menschen als Individuum an. A contrario ist, wenn es sich um ein Zimmer handelt, das vielleicht auch noch mit anderen geteilt werden muß. Es sind ja meistens mehr oder weniger Krankenhauszimmer, auch wenn es nicht in einem Krankenhaus ist, aber sie sind so unpersönlich, werden automatisch, ob das Personal es will oder nicht, vom Personal als ihr Arbeitsplatz und ihr Arbeitsfeld betrachtet und erlebt, so daß sie gar nicht auf die Idee kommen, daß man da auch anklopfen könnte zum Beispiel. Und mir hat kürzlich eine Krankenschwester gesagt, bei uns, wir haben eine ganz tolle Sache eingeführt, wir nennen die Menschen beim Namen und nicht mehr bei der Zimmernummer. Das geht auf den deutschen Begriff „Insassen" zurück. Das ist nicht mehr so häufig, es nimmt sehr stark ab, aber solange es das auch nur noch in einem Heim gibt, ist es zuviel.

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Das Durchsetzen neuer Konzepte ist natürlich sehr schwer, weil die ganze Struktur, weil das ganze Personal schon von der Schulung her auf eine ganz andere Helfersituation und auf ein ganzes anderes Helferkonzept eingestellt ist. Alternativen zum Heim gibt es viele in Frankreich, insbesondere die Kleinstheime, wir nennen es nicht betreutes Wohnen oder Wohngemeinschaften, sondern Kleinstheime, das sind zwischen 6 und 12 Menschen, die dort zusammen wohnen, familienähnlich. Dort wird gekocht. Sie sind geschaffen worden schon vor 25 Jahren; sie sind eine sehr gute Antwort auf Demenz und sind auch meist Demenzkranken vorbehalten. Aus Zeitgründen möchte ich hier abschließen. Ich danke Ihnen.

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[Anschließende Diskussion]

A. Braun: Wir haben jetzt fast noch eine halbe Stunde im Zeitplan um zu diskutieren. Wer wünscht das Wort.

H. Jani: Ich hoffe, daß ich Sie mit diesem Zeitraffer - Durchgang wenigstens neugierig gemacht habe und daß Sie jetzt mehr Fragen haben.

Zwischenfrage: Warum nennen Sie Pflegeheime Krankenhäuser?

H. Jani: Weil bei uns die Pflegebetten in Krankenhauseinheiten sind. Es sind also Krankenhäuser, administrativ auf jeden Fall, bis auf einen ganz geringen Prozentsatz, sie funktionieren wie Krankenhäuser. Und sie haben den großen Vorteil, setze ich zynisch hinzu, den einzigen Vorteil, daß sie eine wunderbare Ausbildungsdomäne für Geriater sind, denn es sind sehr viele Mediziner dort.

U. Kruse: Ich habe solche Heime erlebt in Südfrankreich. Die hatten bis vor wenigen Jahren diesen Hospiz - Charakter wie bei uns die früheren Kreispflegeheime. Sie sind aber dabei, umgebaut zu werden; zwar hängen sie an dem Krankenhaus dran, sind aber doch etwas modernere Pflegeheime mit etwas moderneren Methoden; so habe ich das jedenfalls dort erlebt. Was mich besonders gefreut hat, ist, daß sie voll in die Stadt, in die Bevölkerung integriert werden, obwohl das auch Zentren waren, wohin auch von anderswo Leute gekommen sind. Zum Beispiel beginnt der Corso an Himmelfahrt in der Mairie und endet in diesem Pflegeheim, wo die alten Leute auf sie warten und wo die Prin-

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zessin oder Königin dann immer ihren Strauß in der Kapelle niederlegt. Das heißt, diese Heime sind voll in das Leben der Stadt einbezogen.

H. Jani: Es ist sicherlich eine gemütliche Kleinstadt, von der Sie sprechen.

A. Braun: Also dieses Haus in Cavaillon ist auch deshalb zustande gekommen, weil die das Krankenhaus neu gebaut haben und für das alte Gelände eine andere Verwendung suchten.

U. Kruse: Das alte ist vollkommen abgerissen worden und sie haben zuerst mal diesen Teil neu gebaut und das Krankenhaus wird stufenweise auch neu gebaut.

A. Braun: Das gucke ich mir bei Gelegenheit doch einmal an, da bin ich sehr neugierig.

H. Jani: Also es gibt auch in diesem Bereich der Pflegeheime staatliche Programme, die bleiben zentralisiert, werden auch nach der Reform zentral geplant, also von der Zentralregierung und den politischen Instanzen. Es ist enorm viel dort geschehen. Und man bildet auch kleinere Einheiten, selbst wenn es immer noch die großen Heime mit zum Teil 600, 800 Betten sind; aber man unterteilt sie innerhalb, so daß man dort in kleineren Gruppen lebt. Es geschieht sehr viel, es ist sehr viel umgebaut worden, es ist sehr viel auch einfach gesprengt worden, weil es sind nicht nur Bauten von 1950, sondern es sind auch Bauten, die 2, 3, 400 Jahre alt sind, die teilweise unter Denkmalschutz stehen und solche Dinge. Aber es stimmt, daß dort sehr viel geschieht, daß sehr viel geändert worden ist.

Als ich sagte, das ist in einer gemütlichen Kleinstadt, dachte ich daran, daß z.B. diese Art Heime der Stadt Paris liegen sehr weit, bis zu 70, 80, 100 km außerhalb der Stadt, in wunderschönen Parks; aber bis man da mal Besuch bekommt oder in sein altes Stadtviertel zurück kommt. Es gibt auch welche, die in der Stadt sind, die stehen dann hinter hohen Mauern, was auch nicht gerade das Richtige ist. Anfang der 70er Jahre kam der Beschluß, daß die Hospize abgebaut werden müssen. Das sind

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die früheren Armenhäuser, Schlafräume mit 20 Menschen und solche Dinge. Die mußten abgebaut werden und die sollten bis 1975 alle umgebaut sein und modernere Konzeptionen kriegen. Heute gibt es immer noch einige Betten in solchen Einrichtungen, sind nur ein paar tausend jetzt, aber das Programm ist dann gerade aus Kostengründen sehr schleppend gelaufen.

A. Braun: Ich würde jetzt gerne ein paar Wortmeldungen zusammenkommen lassen.

Ulrike Fabarius: Frau Jani, könnten Sie bitte konkrete Beispiele geben, wie nun das familiengerechte und -freundliche Wohnen der alten Menschen in einer relativ gesunden Infrastruktur in Frankreich gegeben ist. Also ich kann mich erinnern an die Partnerstadt von Nürtingen, das ist ein Arbeitervorort von Lyon; das hat natürlich auch etwas zu tun mit dem damaligen sozialistischen Bürgermeister, der hat uns ein Konzept vorgestellt, ein Wohnkonzept in der Innenstadt vor allen Dingen für ältere Mitbürger mit einem sehr günstigen Mietpreis. Und die Älteren hatten in der unmittelbaren Umgebung Friseur und alles zur Hand, und dazu auch ihre assistantes sociales, die bei Bedarf in die Wohnung kamen. Und dazu in unmittelbarer Nähe Wohnungen für Alleinerziehende, Flüchtlinge aus Chile usw. und auf diese Weise konnten die Alten auch direkt am kulturellen Leben der Stadt teilnehmen. Wird dieses Konzept heute weiter ausgebaut, haben Sie dazu ein paar gute Beispiele?

G. Helbig: Ich möchte noch einmal etwas zu dieser Alternative "Kleinstheime" wissen; wie sind die denn privat organisiert, gibt es da eine Aufsicht?

I. Frohnert: Ich wollte noch einmal etwas zur Finanzierung fragen. Wie ich das verstanden habe, sind ja diese Einrichtungen offensichtlich in der Regel staatlich finanziert. Müssen die Bewohner eine gewisse Miete zahlen und wird der Rest vom Staat bezahlt oder wie funktioniert das? Gibt es auch private Anbieter? In Deutschland ist es ja heute so, daß es immer mehr private Anbieter gibt, mit allen Vor- und Nachteilen, die dabei entstehen; und wie ist das bei Ihnen?

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I. Schmidt: In diesem Vortrag ist mir eigentlich am allerdeutlichsten geworden, daß unser Gesamtthema eine sehr stark psychologische Seite hat, und da wir ja zusammensitzen zu dem Thema „Solidarität der Generationen" stellt sich mir wieder einmal die Frage, wie bringe ich es den jüngeren Generationen bei, welche Bedürfnisse, welche Aufgaben vorliegen. Es ist also keine Frage an Sie Frau Jani, sondern es ist eine Frage, die wir uns ja auch immer wieder stellen müssen. Einmal die Bewußtwerdung dessen, wessen das Alter bedarf, bedürftig ist und das andere, sich bewußt werden, wie bringe ich es denn meinen Kindern oder inzwischen Enkeln und Urenkeln bei. Und das ist mein Anliegen, das ich hier nur artikulieren wollte.

Erich Schneider: Wer steuert in Frankreich die Entwicklung dieser Zustände, die Sie geschildert haben, wie weit ist es Zentralregierung, wie weit sind es kommunal zuständige Leute, wie weit Eigeninitiativen von Interessenten, und wie spielt das alles ineinander?

T. Schäublin: Ich möchte wissen, wie hat sich in Frankreich das bei den Gastplätzen entwickelt, also bei der Vermittlung von Hilfebedürftigen. Es haben zwei Sozialarbeiter auf einer Geriatrietagung in Basel sehr gut berichtet - aber das war vor 3 Jahren. Es hätte mich nun sehr interessiert, wie sich das entwickelt hat. Wie stark da der Staat mithilft; hat sich das gut entwickelt?

Nachfrage: Gibt es im Vorfeld dieser „Krankenhaus - Pflege" irgendeine Beratung, die die zu Versorgenden in Anspruch nehmen können, welche Pflege oder Versorgung überhaupt zur Verfügung steht?

A. Braun: Jetzt würde ich hier gerne die Fragen abschließen; wir versuchen erst einmal das abzuarbeiten.

Jani: Die erste Frage ging um konkrete Beispiele; ich fürchte, daß die Antwort darauf ein Sondervortrag sein müßte. Also auf jeden Fall werde ich jetzt aus praktischen Gründen es so verstehen, daß Sie damit meinen, was ich als Miniheime bezeichne. Und damit kann ich auch bei der Antwort gleich die zweite Frage mit behandeln. Diese Miniheime - ich glaube Sie würden das eher als Wohngemeinschaften bezeichnen -

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gehören meistens zum staatlichen Bereich; es gibt ganz wenige private Anbieter in Frankreich. Sie sind voll stadtteilintegriert, damit der alte Mensch, selbst wenn es nicht sein eigener Stadtteil ist, aber wieder in einem Stadtteil lebt mit einem Bäcker und was es so alles sonst noch gibt, damit er auch sieht, wie derselbe Mann heute etwas später mit seinem Hund spazieren geht, das heißt, wenigstens im Blickkontakt integriert bleibt in seinem Stadtteil. Also sie sind in Frankreich hauptsächlich ein Angebot für demente Menschen. Man lebt dort familienähnlich zusammen, sie sind architektonisch so konzipiert, daß jeder sein Einzelzimmer hat, das er auch selbst möblieren muß; und jeder hat seine eigene Naßzelle wegen der Inkontinenz, damit das wirklich im privaten Bereich vor sich geht, und nicht so an der Kette in irgendeinem zentralen Bad, damit auch dann in diesem intimen Bereich bei der Pflege die Würde des Menschen, was ja gerade bei dementen Menschen sehr wichtig ist, dort zutage kommt.

Meistens, also auf jeden Fall in den Idealfällen und in den ganz zu Anfang gegründeten Heimen dieser Art, wobei man also Lebensgemeinschaften bilden wollte, geht die Hauptaktivität um den Tisch, die Tafel. Und der Tisch und der Herd - es ist natürlich heute ein Elektroherd - sind die beiden Zentralpunkte in diesem Heim. Weil man davon ausgeht, und das ist sicherlich nicht nur für die so gerne essenden Franzosen bestimmend, daß das Aktivitäten und Bedürfnisse sind, auf die dort geantwortet wird, indem man zusammen kocht, abwäscht, Tisch deckt usw. Das entspricht einem elementaren Bedürfnis, es ist eine sehr soziale Aktivität, weil man da sehr viel miteinander macht. Und es gibt, das ist sehr wichtig, jedem das Gefühl, daß er für die anderen wichtig und nützlich ist. Da kommen natürlich gerade bei dementen Gruppen dann so Dinge zustande, daß man eine Stunde lang Tisch deckt, weil der eine die Teller richtig hinstellt, dann kommt der nächste und dreht sie alle um und der andere tut dann die Gabel auf den Stuhl, statt daß er sie auf den Tisch legt und dann kommt der Dritte und der macht das wieder anders. Aber das darf man nicht mit unseren Augen sehen. Es sind echte Aktivitäten, die da laufen, wo dann auch sehr viel gelacht wird. Das heißt, dort ist eine Lebensqualität für demente Menschen, die sehr hoch ist. Ich hoffe, daß ich auf diese Fragen wegen der Kleinstheime damit befriedigend antworten konnte.

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Bevor jemand nun noch deutlicher die Kardinalfrage stellt nach der Finanzierung - ich habe gestern festgestellt, daß es in Deutschland anscheinend nicht geht, ohne daß man diese Kardinalfrage stellt. Ich glaube das ist ein grundlegender Unterschied auch zur sozialgerontologischen Forschung in Frankreich: Ich kümmere mich nicht darum in meiner Forschung. Es ist mir nicht wichtig, wer was bezahlt und wie es bezahlt wird. Worum es mir in meiner Forschung geht, ist, daß z.B. Heimqualität voran getrieben wird, daß die Menschen andere Konzeptionen in ihr Leben bekommen. Das sind für mich wichtige Dinge, aber wer da als Finanzier dahintersteht und wie teuer die Mieten sind, das geht mich in meiner Forschung nichts an. Also finanzielle Fragen werde ich nicht beantworten. Also bitte keine weiteren. Ich weiß einfach nichts darüber. Ich habe natürlich Vorstellungen, aber ich kann Ihnen keine genauen Antworten geben.

Gibt es private Anbieter? Sehr wenige; wir haben keine Wohlfahrtsverbände in Frankreich. Das ist ein grundlegender Unterschied. Die meisten Heimplätze.- ich denke, wenn ich jetzt alle Heime zusammennehme inklusive Wohnheime - daß so um 75 % im staatlichen Bereich, bei der öffentlichen Hand liegen Die restlichen 25 % sind selbst heute noch fast alle in den Händen gemeinnütziger Vereine. Das heißt, es sind keine kommerziellen Anbieter. Heimträger aus Deutschland, die haben mal versucht in Frankreich Fuß zu fassen und sind sehr schnell gescheitert. Das läuft nicht. Das waren private Anbieter, die waren nicht nur teuer, sondern die entsprachen auch nicht den Bedürfnissen der älteren Franzosen. Die Zahl der privaten Einrichtungen, die Ältere aufnehmen, nimmt zu in Frankreich, aber ich glaube, sie sind auf höchstens 6 % inzwischen. Ich meine jetzt die privaten lukrativen.

Wie soll man es den Jüngeren beibringen. Sie sagten zwar, es wäre keine Frage an mich, aber ich möchte doch etwas dazu sagen. Ich glaube, daß es dringendst ist, daß die älteren Menschen anfangen sich als pressure groups zu benehmen. Sie müssen Qualität einfordern, sie müssen fordern, daß diese Heimsituation, die so negativ ist, abgebaut wird, daß dort andere Bedingungen herrschen müssen. Und sie müssen sich nicht damit zufrieden geben, daß immer nur die Antwort kommt, ja aber das ist alles viel zu teuer heute. Wenn die alten Menschen, und

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das gilt für alle Gebiete der Gesellschaft, nicht endlich aufwachen und selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen, dann werden sie, fürchte ich, und das gilt für alle Gebiete, viel abgeschobener sein, als sie es je gewesen sind. Allein schon aufgrund der Umschichtung und Umstrukturierung des Arbeitsmarktes.

Ich habe schon gesagt, in der öffentlichen Hand liegen die meisten Betten, seit der Reform 82/84, der sogenannte Regionalisierung oder Dezentralisierung, sind die sozialen Bereiche in den Händen der Departements.

A. Braun: Also administrativ in den Händen der Präfekten.

H. Jani: Ja. Und da das finanzielle Umschichtungen, aber auch administrative Kompetenzumschichtungen sind, liegen sie selten in der Hand der Gemeinden. Das habe ich vielleicht etwas zu kurz beantwortet, aber das ist derartig komplex, daß ich es entweder ganz kurz oder ganz lang machen kann, glaube ich. Accueil familiale, das ist eine Neuerung, die es schon etwas länger in Frankreich gibt. Es sind also Partnerfamilien, die sind vertraglich, gesetzlich gebunden, das ist sehr klar und streng definiert. Die Partnerfamilien bekommen ein Gehalt, mit Sozialabgaben usw., das sehr niedrig ist, und sie können bis zu 2 Personen, manchmal 3, bei sich aufnehmen. Es müssen Mietverträge abgeschlossen werden, die jedes Jahr erneuert werden müssen, beiderseits, und, was ein sehr wichtiger Punkt ist, die Partnerfamilie kann in keinem Fall erben. Ich glaube, das Gesetz stammt aus 1982, es ist gemacht worden, weil dort zuviel Unfug getrieben wurde auf dem Rücken der alten Menschen.

A. Braun: Für die, die kein französisch können und Frankreich nicht kennen, das ist also sozusagen das umgekehrte Pflegekind. Aufnahme eines Pflegebedürftigen in die Familie; der Präfekt muß die Familie akkreditieren, er muß auch dafür sorgen, daß es im Falle von Unstimmigkeiten sofort eine Möglichkeit gibt, diese „Pflegeltern", diesen Haushalt zu verlassen; also der ist dafür verantwortlich, daß dort keine Unzuträglichkeiten auftreten. Von dem Réglement her ist das sehr gut geregelt, ich weiß aber nicht wie ausgedehnt das alles inzwischen ist.

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H. Jani: Wenig. Es gibt keine präzisen Zahlen, es gibt viele Vermutungen. Die Entwicklung, die Tendenz ist, daß es keine große Ausdehnung gegeben hat, obwohl es zumindest den Vorteil bietet, daß es eine Lösung mehr ist, eine Wahlmöglichkeit, eine weitere Wahlmöglichkeit darstellt.

A. Braun: Haben Sie da noch eine Nachfrage?

Zwischenruf: Es gibt in Baden - Württemberg auch ein ähnliches Gastfamilien-Programm, das über die Landkreise vermittelt wird.

H. Jani: Aber gesetzlich so stark geschützt? Ah, ja. Ein anderer Grund, warum es sich so schlecht entwickelt hat, liegt in der Dezentralisierung. Wenn die Heimbetten in der öffentlichen Hand sind, dann ist es das Interesse der Präfekten, daß die Heime auch gut belegt sind. Das heißt, diese Partnerfamilien sind teilweise von den Präfekten als große Konkurrenzgefahr angesehen worden, weil es eben doch etwas familienähnliches hat. Und deshalb sind da sehr viele Bremsen eingebaut worden. Auf jeden Fall waren das sehr interessante, teilweise Neuerungsideen auch, daß man schon architektonisch zwei Häuser zusammen baute mit einem Durchgang, damit die Partnerfamilien sich austauschen konnten, mal eine Stunde zum Friseur gehen oder am Wochenende. Ich glaube davon gibt es höchstens 10 Häuser, obwohl sie offiziell als sehr positive Lösung angesehen worden sind. Aber dadurch wurde die Konkurrenz noch größer und viele Gemeinden, auch die Bürgermeister, weil sie ja ihren Präfekten nicht verstimmen wollten, sind dann auch lieber gar nicht so eingestiegen.

A. Braun: Heimplätze kann man auch besser vorzeigen als Bürgermeister.

H. Jani: Ja, klar, besonders wenn es dann mindestens gut aussieht.. Die Pflegewahl, also, ich glaube, sie gibt es nicht. Einmal, weil das Angebot nicht groß genug ist, weil das Angebot der Qualität nicht groß genug ist. Der Heimeintritt ist psychisch hoch negativ belastet. Das ist so ein Zwangsvollzug, nun geht es nicht mehr anders. Und diese Resignation, die dahintersteht, geht zum größten Teil, vielleicht mehr von den

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alten Menschen selber, als auch von der Familie aus. Wobei die alten Menschen dann die Komplizen der Situation sind, das heißt, es wird überhaupt nicht ausgehandelt. Die Familie will das Beste, denen dreht sich der Magen rum, daß jetzt der Heimeintritt notwendig ist. Und dann versuchen sie nach bestem Wissen und Gewissen das Richtigste zu finden, wissen aber noch nicht einmal, daß wir heute gar keine Wartelisten mehr haben. Und sind dann froh, daß sie irgendwo ein Bett finden, obwohl es dieses gar nicht zu sein brauchte, denn es gibt viele Betten heute. Information fehlt, Information für die Familie, die Älteren sind etwas mehr informiert, weil die von ihren Kassen die ganzen Informationen bekommen. Es könnten sicherlich mehr Wahlmöglichkeiten bestehen, theoretisch. Aber es ist dieser psychologische Prozeß: man meint, man hat keine Wahl, weil nun das Schreckliche wirklich geschieht, nämlich der Heimeintritt.

Zwischenruf: Könnten solche Institutionen, wie die, für die Sie arbeiten, eigentlich nicht mehr Information an die Bevölkerung geben; wenn Sie eben beanstandet haben, daß es zuwenig Informationen gibt?

H. Jani: Ich glaube, da muß ich schon wieder etwas Grundsätzliches vorab sagen:. Ich bin ein sehr kritischer Mensch und ich denke, wenn jemand von mir Informationen haben möchte, wie Sie in diesem Forum zum Beispiel, dann ist meine Darstellung immer eher kritisch meinem eigenen Land gegenüber, statt daß ich Ihnen die vielen auch sehr positiven Dinge vorstelle. Weil ich meine Arbeit so konzipiere, daß sie dazu beitragen soll, all das Negative endlich wegzubekommen.

Aber meine Forschungsarbeit ist grundsätzlich nicht so angelegt, daß unser Zentrum an eine breite Öffentlichkeit, an Sie herantritt, um besseres Wissen zu verbreiten. Wir arbeiten nur für andere Professionelle, für die Kassen, für alle möglichen Anbieter, für die Ministerien. Und da sagen wir genau das, was ich eben gesagt habe. Das heißt, wir kritisieren sehr stark, aber was letztlich dann entschieden wird, das ist ein zweiter Schritt. Ich glaube, gerade auf dem Gebiet der Information da haben wir nicht soviel geleistet, weil jedenfalls diese Art von Information, nicht unsere Aufgabe ist. Aber sonst haben Institutionen wie unser Zentrum schon dazu beigetragen, daß die Dinge in 30 Jahren doch sehr

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viel weitergegangen sind, daß heute Lebensqualität eine allgemein verbreitete Anforderung ist, die an die Heime gestellt wird. Was mir dabei fehlt ist nur, daß z.B. die älteren Menschen nicht in irgendeiner Form kritisch - es brauchen ja nicht gleich die wilden Grauen Panther zu sein - die Altenvereine, die alten Menschen selbst, die Seniorenvereine, die es bei uns auch nicht so viele gibt, daß die alten Menschen selbst endlich auftreten und sagen, da wollen wir nicht hin. Ihr wollt da ja auch nicht rein. Jetzt macht doch mal was anderes. Das ist die Arbeit, die mich interessiert und die meine Aufgabe ist. Ich weiß nicht, ob ich Ihre Frage beantwortet habe.

A. Braun: Ich habe noch eine Wortmeldung.

Frage: Nochmals zu einem Sonderproblem, zum Stichwort multikulturelle Gesellschaft. In Frankreich gibt es doch das Problem der zahlreichen Einwanderer aus Nordafrika; was passiert mit denen; gibt es da schon Erkenntnisse, wie die im Alter leben werden? Etwas ähnliches wird auch auf uns zukommen, es gibt ja das Problem der Russland-Deutschen, die hier alt werden. Wie lassen die sich integrieren oder setzt sich die Tendenz durch, daß die wieder zurückwandern nach Rußland.

Hannelore Narr: Ich hätte zu den Kleinstheimen die Frage: welche Personen sollen der idealen Vorstellung nach dort als Hausmutter oder als pädagogischer Begleiter arbeiten? Was für Menschen sind da notwendig, um dieses Zusammenleben zu begleiten?.

A. Braun: Letzte Wortmeldung.

Nachfrage: Was mich besonders interessiert, war Ihre kurze Einleitung, daß die Älteren in Frankreich hauptsächlich weiblichen Geschlechts seien, die größte Zielgruppe seien „weibliche Witwen". Das bitte ich, noch näher auszuführen.

H. Jani: Zu der multinationalen Gesellschaft. Die Migranten, die heute alt sind in Frankreich, sind hauptsächlich Menschen, die der Arbeiterklasse angehören. Und im Besonderen sind es die Bauarbeiter gewesen,

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die in dem damaligen Bauboom, 50er, 60er, Anfang 70er Jahre nach Frankreich geholt worden sind bzw. die aus den arabischen Ländern aus anderen Gründen nach Frankreich übersiedelten und dann auch sehr häufig in der Baubranche gearbeitet haben. Das heißt, daß das Problem heute, weil sie nun alt geworden sind, insbesondere ein Problem der Bauarbeiterkasse ist.

A. Braun: Ein Problem der Rentenkasse der Bauarbeiter.

H. Jani: Ja, die Zusatzkasse, bei uns ist die ganze Struktur der Kassen anders.

A. Braun: Und die Rentenkassen in Frankreich haben auch etwas mit dem Bau und dem Betrieb von Alteneinrichtungen zu tun.

H. Jani: Diese Zusatzkassen sind obligatorisch und sind zum Teil an Berufsgruppen - bzw. an Branchengrenzen entlang strukturiert. Das ist z.B. der Fall bei der Zusatzrentenversicherung der Bauarbeiter. Die müssen 1 % der Einkommen als Einzahlungen in den Sozialfond nehmen und dieser Sozialfond muß jeweils jährlich auch wieder ausgegeben werden. Und da hat gerade die Kasse der Bauarbeiter sehr früh, nämlich Mitte der 60er Jahre, angefangen, auf dem Gebiet. Die haben eigentlich die Sozialgerontologie in Frankreich initiiert, haben Programme aufgelegt, Heime gebaut, die ein völlig neues Konzept hatten. Haben das wissenschaftlich begleiten lassen, das heißt, daß die Migrationsprobleme dieser alten Menschen z.B. von dieser Kasse weitgehend getragen und gelöst werden.

Migranten, das gilt nicht nur für die sehr hohe Anzahl der Nordafrikaner, die wir haben, die kommen ja auch aus anderen Departements aus Übersee, das sind ja echte Franzosen, die teilweise schwarze Bevölkerung, die wir in Frankreich haben. Die haben andere Familienstrukturen, die sie mit eingeführt haben. Und dadurch haben wir uns, auch das ist etwas zynisch meinerseits, haben wir uns den Luxus leisten können, das ein Gebiet der Sozialgerontologie sein zu lassen, das sehr wenig erforscht worden ist. Essen auf Rädern hat sich bis heute kaum damit beschäftigt, daß diese Menschen anders essen. Sie hat sich kaum damit

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beschäftigt, daß z.B. Migranten-Frauen eine weitaus schamhaftere Einstellung zu ihrem Körper haben als weiße Frauen; auch Asiaten. Wir haben ja sehr viele Vietnamesen in Frankreich. Selbst meine junge Sekretärin von 35 Jahren hat mich gefragt, warum haben Sie mir nicht gesagt, daß ich mich beim Arzt ausziehen mußte, da hätte ich mich vorher darauf einstellen müssen. Das sind also völlig andere Lebensgewohn-heiten und Traditionen, die dahinter stehen, die von den Franzosen in der Sozialgerontologie bis heute auch deshalb wenig behandelt worden sind, weil die Migration häufig im Familienclan läuft, so daß da vielleicht auch eine gewisse Abschottung ihrerseits besteht, daß auch kein Vertrauen besteht in diese helfende europäische Gesellschaft. Ich glaube, das ist ein sehr interaktives Feld; wir haben jetzt die erste Anfrage für eine solche Studie. Seit 30 Jahren, 35 Jahren arbeite ich auf diesem Gebiet. Das finde ich signifikant. Daß wir noch nie darüber haben arbeiten sollen. Ich mache ja nur Auftragsforschung.

Die andere Frage war die Hausmutter. Es ist effektiv eine Hausmutter, die in diesen kleinen Einheiten arbeitet. Sie ist die Schlüsselperson, nach welchen Kriterien wird sie ausgesucht? Das ist sehr unterschiedlich. Wenn ich an die eher idealen denke, an die Ur-Cantous, wie ich sie nenne - diese Einheiten heißen „Cantous". Die ersten, die gegründet worden sind und die sehr sozialgerontologisch orientiert sind, versuchen immer sich selber weiter zu entwickeln. Dort ist die ideale Hausmutter ein warmherziger Mensch, - es ist egal, welche Ausbildung er/sie hat -, der hier und jetzt auf die Bedürfnisse des Individuums antworten kann. Und das sind bei dementen Menschen, sie in den Arm nehmen, sie zu trösten, eine innere Ruhe und Gleichgewicht zu haben. Es sind keine professionellen Kenntnisse; die kriegen natürlich Schulung, aber es ist nicht die professionelle Ausbildung, die ist völlig sekundär dabei. Es sind menschliche Qualitäten, die in den Vordergrund gestellt werden sollten.

Der letzte Punkt, ich hätte ihn fast vergessen, weil der mir so selbstverständlich vorkommt. Es ist ein rein demographisches Faktum, daß in der Altenbevölkerung - je höher man die Altersberechnungsgrenze setzt -, um so mehr eine weibliche Witwenbevölkerung überwiegt.

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Zwischenruf: Und sonst stehen keine weiteren Gedanken dahinter?

H. Jani: Es stehen viele Gedanken dahinter. Es steht z.B. dahinter der Gedanke, inwieweit ist das negative Altersbild in der Gesellschaft nicht ein negatives Bild der verwitweten Frauen? Aber das ist Luxusforschung heute, so etwas. Damit kann man praktisch in der Sozialarbeit nichts anfangen. Und darum wird sie so wenig betrieben.

A. Braun: Vielen Dank. Jetzt sind wir gerade glücklich mit nur sechs Minuten Verspätung bei der Kaffeepause angekommen.. Da oben steht der Kaffee, wir treffen uns wieder um 11 Uhr.


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