ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Mir Tamim Ansary, Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010, 367 S., geb., 24,90 €.

Die Weltgeschichte ist im Zentrum sowohl der deutschen als auch der internationalen Geschichtsforschung angekommen. Deutlich wurde dies unter anderem auf dem 48. Deutschen Historikertag, der Ende September 2010 in Berlin stattfand; unter dem Motto „Über Grenzen“ stand er ganz im Zeichen der Weltgeschichte. Zu Recht, denn so wichtig die deutsche und europäische Geschichte zweifellos sind, sie sind nicht das Maß aller historischen Dinge. Auch anderen Weltregionen haben eine Geschichte, und sie wird für uns umso bedeutsamer, je mehr jene Prozesse voranschreiten, die man in der Bezeichnung „Globalisierung“ bündelt. Es ist daher kein Zufall, dass das Interesse an vielen dieser Weltregionen sowie an der Weltgeschichte insgesamt seit den Ereignissen des 11. September 2001 sprunghaft zugenommen hat.

Zudem ist es nur konsequent, dass nun erstmals auch eine Weltgeschichte aus islamischer Sicht in deutscher Sprache vorliegt; geschrieben hat sie der in Kabul geborene, mittlerweile in Kalifornien lebende Autor Tamim Ansary. Und die Lektüre lohnt sich, wenngleich (oder vielleicht gerade weil) es sich bei Ansarys Buch nicht um ein streng-wissenschaftliches Werk handelt - Ansary betont selbst, dass er kein Historiker ist -, sondern vielmehr um eine über weite Strecken gut lesbare Erzählung, in der auf akademisch-theoretische Höhenflüge ebenso verzichtet wird wie auf die Anführung ausufernder Querverweise; im Anhang finden sich lediglich einige wenige ausgewählte Hinweise für eine vertiefende Beschäftigung mit den unterschiedlichen Themen der insgesamt 17 Kapitel.

Ansarys Ausgangspunkt lautet wie folgt: Über lange Zeit hätten sich der Westen und die islamische Welt wie zwei unterschiedliche Universen verhalten. Erst das 17. Jahrhundert habe wegen des zunehmenden Austausches zwischen den Kulturen zu einer gewissen Überschneidung der bestehenden Geschichtserzählungen geführt. Dabei jedoch habe sich der Westen als der mächtigere erwiesen, und in der Folge die islamische Sicht der Geschichte unterdrückt - über Jahrhunderte, bis in unsere Zeit. Kein Zweifel: Man muss dieser These nicht folgen; zumal kein Westen der Welt sich in das eingemischt hat, was an den historischen und kulturwissenschaftlichen Fakultäten der Hochschulen in der islamischen Welt erforscht und gelehrt wurde; dasselbe gilt für die publizistische Tätigkeit muslimischer (oder auch nicht-muslimischer) Wissenschaftler und Autoren. Kurzum, Ansarys Ansatz greift hier nicht nur zu kurz, er geht auch von Prämissen aus, die - obwohl zweifellos populär - historisch und wissenschaftsgeschichtlich so nicht haltbar sind.

Gleichwohl bekommt Ansary rasch die Kurve und verliert sich nicht, wie zumindest anfänglich kurzzeitig zu befürchten stand, in einer (postmodernen) Anklageschrift gegen die westliche Geschichtsforschung. Vielmehr versucht er die Geschichte der islamischen Welt als eine Alternative zur Weltgeschichte des Westens zu begreifen, wobei er jedoch auch auf zahlreiche Parallelen hinweist: Etwa den Umstand, dass eine zentrale Erkenntnis der europäischen Reformatoren, nämlich dass es für das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen nicht zwangsläufig der Vermittlung einer übermächtigen Kirche bedurfte, in der muslimischen Welt seit jeher als eine Selbstverständlichkeit galt. Jedoch betont Ansary auch, dass sich - im Gegensatz zur westlichen Entwicklung seit dem Mittelalter - in der islamischen Welt bis in die Gegenwart keine wirklich diskursive Trennung von Theologie und naturwissenschaftlicher Forschung herausgebildet hat; für ihn liegt darin eine Hauptursache für das zweifellos vorhandene Modernitätsdefizit in diesem Teil der Welt.

Den heutigen Konflikt zwischen der westlichen Welt und den fundamentalistischen Kräften des Islam will Ansary jedoch ausdrücklich nicht als einen „Kampf der Kulturen“ verstanden wissen. Vielmehr kommt er zu dem Ergebnis, dass es sich dabei um die „Reibung zwischen zwei aufeinandertreffenden, aber nicht aufeinanderpassenden Weltgeschichten“ handele. Beide Seiten seien eben in unterschiedliche Richtungen unterwegs gewesen, als sich ihre Wege kreuzten, so Ansary. Was sich allerdings aus dieser etwas kryptischen Zustandsbeschreibung für die Gegenwart ableiten ließe, wird dem Leser nicht verraten. Nur so viel wird deutlich (und hier spricht der in den USA sozialisierte Laizist Ansary): Will die islamische Welt sich in Zukunft nicht gegen den Verlauf der Geschichte stellen, muss sie ihren Zivilisationsbegriff der Zeit anpassen. Denn eine einheitliche Gesellschaft, in der ein Teil der Menschen der Ansicht ist, die Welt sollte in einen (privilegierten) männlichen und einen (diskriminierten) weiblichen Bereich aufgeteilt werden, wird es nicht geben.

Folgt man dem Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel, so ist das Ziel der Weltgeschichte die „Entprovinzialisierung“ der Geschichtsforschung. Tamim Ansary hat hierzu mit seinem lesenswerten Buch einen wichtigen Beitrag geleistet.

Florian Keisinger, Berlin


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 4. April 2011, Korrektur: 10.8.2011