ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Tobias Hoymann, Der Streit um die Hochschulrahmengesetzgebung des Bundes. Politische Aushandlungsprozesse in der ersten großen und der sozialliberalen Koalition, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, 249 S., kart., 29,95 €.

Die bildungs- und hochschulpolitischen Debatten der 1970er Jahre sind eines der spannendsten Desiderate der Forschung zur Politik- und Gesellschaftsgeschichte der ‚alten‘ Bundesrepublik. Speziell in dem Vorhaben eines Hochschulrahmengesetzes des Bundes verbanden sich der Forschritts- und Planungsoptimismus der 1960er Jahre mit den durch die Studentenbewegung und die sozial-liberale Koalition geweckten Hoffnungen auf innergesellschaftliche „Demokratisierung". Zugleich markiert die siebenjährige Auseinandersetzung um das Gesetz (1969-1976) den Umschlag der bildungspolitischen Reformeuphorie in Reformskepsis und liefert damit Hinweise auf den so schwer fassbaren politisch-kulturellen Mentalitätswandel jener Jahre (Stichwort „Tendenzwende"). Tobias Hoymann hat nun die erste wissenschaftliche Monografie zur Entstehung des Hochschulrahmengesetzes vorgelegt. Fairerweise klärt der Politikwissenschaftler gleich zu Beginn darüber auf, dass eine „historiographische Darstellung“ nicht Ziel seiner Arbeit sei (S. 23). Seine bei der Föderalismus-Expertin Ursula Münch an der Universität der Bundeswehr in München entstandene Promotionsschrift untersucht das Hochschulrahmengesetzgebung vielmehr als Fallbeispiel für die komplexen politischen Aushandlungsprozesse zwischen Bund und Ländern. Immerhin war dem Bund mit der 22. Grundgesetzänderung 1969 (im Zuge der großen Finanzreform) erstmals eine begrenzte Rahmenkompetenz in dem für die Eigenstaatlichkeit der Länder essenziellen Bereich der Kultuspolitik übertragen worden. Zudem waren in den 1970er Jahren erstmals Bundesregierung und Bundestagsmehrheit mit entgegengesetzten parteipolitischen Mehrheiten im Bundesrat konfrontiert.

Hoymann konzentriert sich in seiner Untersuchung explizit auf den formalen Teil des Gesetzgebungsprozesses. Er folgt den diversen Gesetzesentwürfen zur Grundgesetzänderung und zum Hochschulrahmengesetz durch alle Plenen, Ausschüsse, Unterausschüsse und Vermittlungsausschüsse von Bundestag und Bundesrat, ohne ihre Inhalte weiter als unbedingt nötig zu entfalten. Überzeugend argumentiert er, dass die Länder einer Kompetenzübertragung an den Bund im Hochschulbereich nicht zugestimmt hätten (und der Bund mit Rücksicht auf wichtigere Teile der Finanzreform wohl auch nicht auf sie bestanden hätte), wenn nicht 1969 ihre Bemühungen um einen Länderstaatsvertrag gescheitert wären. Der Ländermehrheit ging es danach vor allem darum, das Vorpreschen einzelner Länder bei der Hochschulreform durch eine Rahmensetzung abzufangen. Für die folgenden langjährigen Verhandlungen um das Hochschulrahmengesetz konstatiert der Autor nicht überraschend eine parteipolitische Überlagerung des föderativen Elements. Wie er aber zeigt, war die Reichweite der Rahmenkompetenz für die „allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens“ nicht nur im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft umstritten. Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion interpretierte sie noch 1970 recht großzügig, bevor sie von den unionsregierten Ländern auf gemeinsamen Blockadekurs gegen das Prestigeprojekt der sozial-liberalen Bundesregierung gebracht wurde. Der SPD wiederum ging es spätestens ab 1972 vorrangig darum, das Gesetz überhaupt in irgendeiner Form zu verabschieden. Inhaltlich war insbesondere Bildungsminister Klaus von Dohnanyi schließlich zu fast jedem Kompromiss bereit. Warum der zeitweise erwogene alternative Weg nicht beschritten wurde, das Gesetz durch Abspaltung der zustimmungspflichtigen Teile am Bundesrat vorbeizumogeln, kann der Autor leider „nicht eindeutig rekonstruieren“ (S. 165). Stärker als üblich wird die eigenständige Rolle der (traditionell zentralstaatlich orientierten) FDP als Motor einer reformfreudigen Hochschulpolitik des Bundes herausgearbeitet. Allerdings werden hier die Differenzen zwischen den ‚linken‘ Bildungsreformern in der FDP und ihrer eher reformskeptischen Parteiführung übersehen. Am Ende des Gesetzgebungsprozesses stand dann 1976 ein „Allparteienkompromiss", der keinen großen Einfluss mehr entfalten konnte - so Hoymanns Fazit (S. 217). Schon auf S. 218 widerspricht er dem allerdings selbst mit der bemerkenswert undifferenzierten These, das Hochschulrahmengesetz habe zu einem angeblichen Abstieg der deutschen Hochschulen in die internationale „Mittelmäßigkeit“ beigetragen.

Einen Beitrag zur politikwissenschaftlichen Theoriebildung oder auch nur ein speziell politikwissenschaftliches methodisches Herangehen vermag der (allerdings fachfremde) Rezensent in der Arbeit nicht zu entdecken. Der in den „Vorüberlegungen“ eingeführte Vetospieler-Ansatz nach George Tsebelis (1) (S. 54ff.) taucht erst in der Schlussbetrachtung wieder auf, erhellt dort jedoch nur wenig (S. 225). Letztlich ist Hoymanns Methodik (abgesehen von der nicht durchgängig chronologischen Erzählweise) konventionell politikgeschichtlich - daran gemessen allerdings basiert sie auf einer recht dürftigen Quellenauswahl. Hat der Autor insbesondere die Archivbestände der damaligen Bundestagsfraktionen akribisch durchforstet, wurden schon die Akten der dazugehörigen Parteivorstände nicht miteinbezogen. Andernfalls wäre wohl etwa das Bild der SPD (deren Fraktion in den 1970er Jahren ihre Akten nur mangelhaft führte) nicht so blass geblieben. Gravierender ist, dass Hoymann die in seinem Untersuchungszeitraum äußerst lebhafte öffentliche Debatte um die Hochschulreform komplett ignoriert. Die Einwirkung hochschulpolitischer Interessenverbände (Rektorenkonferenz, Hochschulverband oder Bund Freiheit der Wissenschaft) und anderer Lobbygruppen auf das Hochschulrahmengesetz unterschätzt er signifikant. Die Darstellung bleibt so insgesamt beklagenswert blutleer. Die Akteure in den beleuchteten Politikarenen erscheinen seltsam isoliert, ihre Motive und Gedankenwelten bleiben unklar. Es wäre wünschenswert gewesen, der Autor hätte die komplexe Materie der Hochschulreform auch inhaltlich zu durchdringen versucht und seine Studie zudem stärker historisch kontextualisiert. Bezeichnenderweise fehlen im Literaturverzeichnis nicht nur die meisten ‚kanonischen‘ Texte der historischen Bildungsforschung, sondern auch alle maßgeblichen jüngeren Darstellungen und Interpretationen der bundesrepublikanischen Geschichte. Stattdessen stützt sich der Autor, wo er übergreifende ereignisgeschichtliche Zusammenhänge referiert, auf eine eigenwillige Mischung aus Handbuchwissen und Memoirenliteratur. Einzelne fehlerhafte Details - das NRW-Innenministerium war in den 1970er Jahren FDP- und nicht SPD-geführt (S.123); der dortige Wissenschaftsminister hieß Johannes Rau, nicht Schnoor (ebd.); der erste Versuch zur Abschaffung des HRG scheiterte in der Föderalismuskommission 2004, nicht 2003 (S. 221) - sind immer verzeihlich, kommen aber auch nicht von ungefähr. Insgesamt bleibt das Buch so unter den Möglichkeiten, die sein Gegenstand bietet. Eine historisch adäquate Einordnung des Hochschulrahmengesetzes in die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik, die uns hilft die hitzige politische Atmosphäre der 1970er Jahre besser zu verstehen, kann Hoymann aufgrund der Begrenztheit seines Ansatzes nicht leisten - leider eine vergebene Chance.

Nikolai Wehrs, Potsdam

Fußnoten:


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