ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Judith Michel, Willy Brandts Amerikabild und -politik 1933-1992 (Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, Bd. 6), V&R unipress/Bonn University Press, Göttingen 2010, 564 S., geb., 67,90 €.

Als Willy Brandt 1961 die Sozialdemokraten in den Bundestagswahlkampf führte, verkörperte er in Stil und Inhalt einen neuen Politikertypus, der nicht sofort, aber im Laufe des Jahrzehnts sowohl der SPD als auch der Bundesrepublik seinen Stempel aufdrücken sollte. Dies hatte viel mit den USA zu tun. In Bezug auf die SPD ging es - schlagwortartig formuliert - um eine konsequente Westernisierung, im Hinblick auf die Bundesrepublik um einen weiteren Schritt der Amerikanisierung. Es ist darum zu begrüßen, dass sich Judith Michel in ihrer Bonner Dissertation der Aufgabe unterzogen hat, Brandts Verhältnis zu den USA zu untersuchen, und sich auch nicht gescheut hat, einen sechs Jahrzehnte umfassenden Zeitraum mit ganz unterschiedlichen historischen Konstellationen und Themen ins Auge zu fassen. Sie setzt mit der Exilzeit ein, für die sie eine „ambivalente Sicht“ (S. 8) auf die USA konstatiert, und endet mit einem längeren Kapitel über den elder statesman und dessen „problematisches Verhältnis zum amerikanischen Bündnispartner“ (S. 503). Dazwischen liegen die Berliner und Bonner Jahre, als Brandt in die höchsten Regierungsämter gelangte und schon deshalb in engstem politischem Kontakt mit der Führungsmacht des Westens stand.

Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Politik, wobei auch die amerikanische Seite intensiv behandelt wird. Vielfach wird Bekanntes in aller Ausführlichkeit und manchmal auch mit Zitaten überfrachtet noch einmal ausgebreitet. Zudem führt die Fokussierung auf Brandt dazu, dass der Zusammenhang mit den öffentlichen Debatten in der Bundesrepublik und dem Entscheidungsprozess in Bonn oft nur schemenhaft sichtbar wird. Darüber hinaus aber ist es verdienstvoll, dass die Verfasserin den Wurzeln nachspürt, auf denen Brandts Wahrnehmung der USA und ihrer weltpolitischen und weltanschaulichen Bedeutung in der Auseinandersetzung zunächst mit dem nationalsozialistischen Deutschland und später mit der Sowjetunion beruhte. Woher Brandts Informationen und Eindrücke über Politik und Gesellschaft der USA kamen, wird für verschiedene Phasen anhand von „Kontaktnetzen“ untersucht, die durch persönliche Begegnungen und Korrespondenzen zustandegekommen sind. Ein methodisches Grundproblem, mit dem sich die Autorin konfrontiert sah, besteht darin, dass die meisten zur Verfügung stehenden Äußerungen Brandts für die Öffentlichkeit bestimmt waren, wo politisches Kalkül und Rücksichten aller Art eine entscheidende Rolle spielten beziehungsweise die amerikanische Bühne für die eigene Imagebildung genutzt wurde.

Brandts Selbstwahrnehmung als demokratischer Sozialist, zu dem er im skandinavischen Exil wurde, und als Politiker in West-Berlin und in der - wie von amerikanischer Seite gelegentlich bedeutet wurde - nur über eine begrenzte Souveränität verfügenden Bundesrepublik führte regelmäßig dazu, dass die USA in erster Linie als Land der Freiheitsrechte und als Garant westberliner und westdeutscher Sicherheit dargestellt wurden. Wo es um Kapitalismus oder Rassismus in den USA ging, orientierte sich der zu Pragmatismus verurteilte Politiker, sofern er Regierungsverantwortung tragen wollte, am Kapitalismus des New Deal mit seinen für amerikanische Verhältnisse ungewöhnlichen staatsinterventionistischen Maßnahmen oder er vertraute den Selbstheilungskräften der amerikanischen Gesellschaft. Die früh gewonnene Einsicht in die Abhängigkeit von den USA war in „Brandts Amerikabild und amerikapolitischem Handeln“ (S. 395) ausschlaggebend und ließ „gute transatlantische Beziehungen zur Staatsräson“ (S. 516) werden. Vor dem Hintergrund des Ost-West-Gegensatzes war dies für Brandt umso leichter, als er „kein Wanderer zwischen den Welten“ (S. 517) war. Insbesondere hing er nicht einer unspezifischen Konvergenztheorie an, sondern erwartete im Rahmen der von ihm verfolgten Transformationsstrategie, „der Osten werde sich vor allem politisch-gesellschaftlich an den Westen angleichen, wodurch ein Wandel innerhalb Europas möglich werden könne.“ (S. 297).

Als Ausgangspunkt mit nachhaltiger Weichenstellung für das Verhältnis Brandts zu den USA muss die 1958 von der Sowjetunion ausgelöste Berlinkrise gelten. Nach dem Bau der Mauer trug der keineswegs dissensfreie Meinungsaustausch zwischen Brandt und John F. Kennedy dazu bei, das deutschland- und ostpolitische Konzept zu entwickeln, das im Laufe der 1960er Jahre zum Tragen kam und zu Beginn der 1970er Jahre in großem Stil international umgesetzt wurde, ehe es in den von Judith Michel allerdings nur gestreiften KSZE-Prozess einmündete. Der Vietnamkrieg, die Ostpolitik und die westeuropäische Integration sind Themen, die im Kontext der Amerikapolitik unter genauer Beschreibung nicht nur der deutsch-amerikanischen Überstimmung, sondern auch der zum Teil heftigen Kontroversen und Interessenunterschiede diskutiert werden. Konnte dem Washingtoner Störfeuer, das sich anfänglich gegen die ostpolitischen Initiativen der sozial-liberalen Bundesregierung richtete, noch vergleichsweise gelassen begegnet werden, so wurde der Ton bald merklich kühler. Brandt wollte im April 1973 nicht mehr von „unseren amerikanischen Freunden“ sprechen und bevorzugte den Begriff „Partner“ (S. 265). Kurz danach sorgte Henry Kissinger für Empörung, als er das „Jahr Europas“ ausrief, mit der von ihm angeregten Neuformulierung des transatlantischen Verhältnisses aber eine Festschreibung älterer Hierarchien meinte. Nach wie vor stellte die Dynamik der Bonner Ostpolitik aus seiner Sicht eine Bedrohung für die Kohäsion des Bündnisses dar. Westeuropa sollte sich mit einer Juniorpartnerschaft abfinden. Dem stand der auch von Brandt vertretene, aber schon infolge der innereuropäischen Meinungsverschiedenheiten unrealistische Anspruch auf gleichberechtigte Partnerschaft entgegen. Spätestens mit dem neuerlichen Nahostkrieg im Oktober 1973 wurde deutlich, wer das Gesetz des Handelns bestimmte: zum einen die arabischen Staaten, von deren Öl die Europäer abhängig waren; zum anderen die USA, die keine Veranlassung sahen, die Europäer in ihre Politik einzubeziehen. Als von Bremerhaven aus ohne Wissen der Bundesregierung Waffen an Israel geliefert wurden, soll Brandt das Gefühl gehabt haben, die Bundesrepublik werde wie eine „Kolonie“ behandelt (S. 373). Aber - wie gesagt - solche Gefühle, auch wenn sich Brandt nach seinem Ausscheiden aus der Regierungsverantwortung freier fühlte, bestimmten nicht die Politik.

Gottfried Niedhart, Mannheim


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 4. April 2011