ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Klaus auf dem Garten/Peter Kuckuk, Bürgerliche Jugendbewegung in Bremen. Vom Wandervogel zur Bündischen Nachkriegsjugend (1907-1960) (Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens, H. 25/26), Edition Temmen, Bremen 2009, 395 S., kart., 19,90 €.

Der Titel des Buchs verrät, dass es sich um ein ehrgeiziges Projekt handelt: Über fünf Jahrzehnte der Geschichte der bürgerlichen Jugendbewegung in Bremen stellen Klaus auf dem Garten und Peter Kuckuk dar. Die sozial- und regionalgeschichtliche Arbeit beginnt mit der Gründung der ersten Gruppe des „Wandervogel DB e.V.“ in Bremen (1907) und endet in den späten 1950er Jahren. Da es bereits Publikationen zu den nationalen Jugendorganisationen und der Hitlerjugend in Bremen gibt, galt es in Hinblick auf die bürgerliche Jugendbewegung eine Forschungslücke zu schließen.

Die Relevanz des Untersuchungsgegenstands ergibt sich, so Auf dem Garten und Kuckuk, aus der Tatsache, dass „aus dem Wandervogel und der Bündischen Jugend der Hansestadt einige Personen stammten, die später in der regionalen Politik eine erhebliche Rolle spielen sollten“ (S. 11), zum Beispiel Christian Paulmann (SPD) oder Ernst Albrecht (CDU). Neben ihrem historischen Interesse verheimlichen Auf dem Garten und Kuckuck ihre subjektive Perspektive auf die bürgerlichen Jugendbewegung in Bremen nicht. Denn beide gehörten in den frühen 1950er Jahren den Nachkriegsorganisationen der Bündischen Jugend in der Freien Hansestadt an. Vor diesem Hintergrund unterstreichen die beiden Autoren, dass sie der Neugründung nach 1945 besondere Aufmerksamkeit schenken möchten.

Das Buch gliedert sich insgesamt in drei Abschnitte, die jeweils in größere und kleinere Unterkapitel unterteilt sind. Der erste Hauptteil trägt den Titel „Die historische Dimension". Dem zweiten Abschnitt mit der Überschrift „Die lebensgeschichtliche Dimension in Selbstzeugnissen“ folgt der dritte Teil, der schlicht mit „Dokumente“ betitelt ist. In dem Abschnitt „Die historische Dimension“ wird in chronologischer Reihenfolge die Geschichte der bürgerlichen Jugendbewegung und ihrer verschiedenen Gruppierungen in Bremen zwischen 1907 und circa 1960 dargestellt. Dabei konzentriert sich Kuckuk auf den Wandervogel vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, während Auf dem Garten sich der Frühphase des Wandervogels in Bremen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegsgeschichte der bürgerlichen Jugendbewegung nach 1945 widmet. Für den Leser sind vor allem die einführenden Kapitel sehr hilfreich, die zu Beginn der einzelnen Unterkapitel Einblicke in die allgemeine Geschichte der bürgerlichen Jugendbewegung geben, bevor sich der Bremer Entwicklung zugewendet wird.

Der zweite Abschnitt, auf den sich teilweise bereits in der ersten Passage bezogen wird, thematisiert „Die lebensgeschichtliche Dimension in Selbstzeugnissen". Die persönlichen Erinnerungen stammen ausschließlich von Personen, die erst nach 1945 einer Gruppe der Bündischen Jugend in Bremen angehörten. Sie unterstreichen, welche Bedeutung das Gruppenleben für jeden Einzelnen besaß.

Der dritte Abschnitt verspricht dem Leser „Dokumente". Die abgedruckten Primärquellen sind sehr heterogen: von der „Führerordnung des Bremer Wandervogel DB e.V.“ über einen „Bericht über illegale Tätigkeit 1934/38“ aus einer Wiedergutmachungsakte bis hin zu Einträgen aus Fahrtenbüchern. Der letzte Abschnitt ist definitiv der schwächste: Denn nicht in allen Fällen sind in den Anmerkungen die notwendigen Angaben zu Herkunft und Datierung der Quellentexte schlüssig angegeben. Bei den „Erinnerungen an unsere Lappland-Fahrt - zusammengestellt von Peter Kuckuk“ fehlen sie zum Beispiel gänzlich.

Für ihre Publikation werteten Auf dem Garten und Kuckuk zahlreiche Quellen aus dem Staatsarchiv Bremen, dem Archiv der deutschen Jugendbewegung, dem Stadtarchiv Bremerhaven sowie dem Freischar-Archiv im Wandervogelhof Reinstorf aus und sammelten lebensgeschichtliche Berichte - eine Leistung, die positiv zu würdigen ist. Bei ihren Recherchen trugen die beiden Autoren nicht nur viele Dokumente, aus denen sie - manches Mal etwas zu langatmig - zitieren, sondern auch Fotos, Zeichnungen, Plakate, Deckblätter von Liederbüchern und Ähnliches zusammen. Als gestalterisches Element lockern sie die Textfülle des Buchs auf.

Die beiden Autoren sind selbst durch die Bündische (Nachkriegs-)Jugend geprägt und erlebten, wie die Erneuerung der bürgerlichen Jugendbewegung angesichts der Amerikanisierung und Kommerzialisierung der westdeutschen Jugendkultur, der Entwicklung neuer Jugendbewegungen und Protestformen, die attraktiver waren, in den 1950er und 1960er Jahren nicht gelang. Die Reorganisation der Bündischen Jugend stand zudem unter keinem gute Stern: Spätestens seit der Veröffentlichung von Howard Beckers „German Youth. Bond or Free“ (1946; deutsche Übersetzung von 1949: Vom Barette schwankt die Feder. Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung) galt vor allem die Bündische Jugend der 1920er Jahre als Wegbereiterin der Hitlerjugend. Während die meisten Männer und Frauen, die vor 1933 den traditionellen Bünden angehörten, welche sich wiederum in der Deutschen Freischar zusammengefunden hatten, diese Bewertung strikt ablehnten, schlossen sich einige Jungen, die erst nach 1945 zu einer bündischen Gruppierung stießen, dieser Kritik in den 1950er Jahren an. Erwähnt sei hier der Jungenschaftler Arno Klönne. Er erklärte 1953: Die Bündische Jugend habe „dem Nationalsozialismus einen guten Teil seines bürgerlichen Bodens bereitet und die Hitlerei salonfähig gemacht" (1). Trotz dieses selbstkritischen Ansatzes überwog - zumindest im Kreise der Dabeigewesenen - lange Jahre ein nostalgischer bis apologetischer Blick auf die Geschichte der bürgerlichen Jugendbewegung.

Vor diesem Hintergrund ist der Anspruch von Auf dem Garten und Kuckuk - einen „Beitrag zur historischen ‚Aufklärung‘ über einen nicht immer von mystifizierenden Behauptungen und Bewertungen freien Gegenstand“ (S. 11) leisten zu wollen - durchaus positiv zu bewerten. Doch sie können ihn nicht konsequent einlösen, wie folgendes Beispiel zeigt: Zwar räumen sie ein, dass die Bündische Jugend nach dem Ersten Weltkrieg „keinen wirklichen Zugang zur modernen Industriegesellschaft und zum parlamentarischen System der Weimarer Republik“ (S. 78) fand, doch bleiben die Autoren dabei, dass die Nationalsozialisten bündische Elemente in die Hitlerjugend geschickt übernahmen und sie missbrauchten. Fest steht, dass die Nationalsozialisten vieles aus anderen Bewegung in ihre Weltanschauung und Organisationen integrieren konnten. Dass dieser „Missbrauch“ niemals möglich gewesen wäre, wenn die Zustimmung zur ersten, deutschen Demokratie stärker als ihre Ablehnung gewesen wäre, kann jedoch nicht ignoriert werden. Zwar klingen bei Auf dem Garten und Kuckuk immer wieder kritische Zwischentöne an - wie zum Beispiel bei der Frage des Geschlechterverhältnisses im Wandervogel während des Ersten Weltkriegs: „Im Geschlechterverhältnis hatte sich der Begriff der ‚Kameradschaft‘ etabliert, der alles Sexuelle, da angstbesetzt, ausklammerte.“ Die Autoren scheuen sich auch nicht, den Weg eines Bremer Bündischen in die Hitlerjugend (S. 137ff.) darzustellen. Wirklich einlassen auf die Diskussion über die antidemokratischen, antiliberalen, antifeministischen Potenziale der bürgerlichen Jugendbewegung tun sich die beiden Autoren aber letztlich nicht.

An dieser Stelle darf allerdings nicht übergangen werden, dass einige „Bündische“ ihr Gruppenleben nach 1933 fortsetzten und dadurch ins Visier der nationalsozialistischen Machthaber gerieten. Das galt auch für einzelne Bündische in Bremen - wie Auf dem Garten und Kuckuk belegen können (S. 143).

Auf dem Garten und Kuckuk, die den Niedergang der Bündischen Jugend in Bremen miterlebten, gedachten mit ihrem Buch „auch neugierige junge Leserinnen und Leser zu gewinnen.“ Ob sie allerdings dieses Ziel erreichen können, ist fraglich. Im Ergebnis nehmen die Details, die vielleicht für die ehemaligen Mitglieder der bürgerlichen Jugendbewegung interessant sein mögen, für andere in der Fülle ermüdend werden können, zu viel Raum ein.

Schon die Eltern der beiden Autoren waren in der bürgerlichen Jugendbewegung (im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts) aktiv. Auf dem Garten und Kuckuk gehörten dann als Jugendliche in der frühen Bundesrepublik Deutschland der Bündischen Jugend in Bremen an. Vor dem Hintergrund dieser engen familiären Bindungen an die bürgerliche Jugendbewegung ist es verständlich, dass sie ihre Sicht und ihre Lebenswelt 50 Jahre später für die Nachwelt festhalten wollen. Dies erschwert aber, den erwähnten Anspruch der „historischen Aufklärung“ einzulösen. Auch wenn die beiden Autoren sich bemüht haben, ihre subjektive Perspektive zu kompensieren, indem sie immer wieder Forschungsergebnisse hinzuzogen, entgeht dem aufmerksamen Leser nicht, dass hier die eigenen Erinnerungen „historisiert“ werden sollen.

Ann-Katrin Thomm, Köln

Fußnoten:


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