ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Matthieu Leimgruber/Martin Lengwiler (Hrsg.), Umbruch an der „inneren Front". Krieg und Sozialpolitik in der Schweiz 1938-1948, Chronos Verlag, Zürich 2009, 195 S., kart., 24,50 €.

Dem Sammelband liegt die Gründung des „Netzwerks schweizerische Sozialstaatsgeschichte“ im Jahr 2005 zugrunde. Dieser institutionellen Neuerung folgte zwei Jahre später auf den ersten Schweizerischen Geschichtstagen eine Sektion zur Geschichte der eidgenössischen Sozialversicherung im Zweiten Weltkrieg, deren Ergebnisse nun präsentiert werden. Auch für die Schweiz lässt sich der Krieg als Scheidepunkt zwischen der Gründungsphase des Sozialstaats und dem Übergang zur sozialstaatlichen Expansion interpretieren. Die Herausgeber, ausgewiesene Kenner des Themenfelds, leiten den Band mit einer umfassenden Darstellung der Transformationsphase unter Berücksichtigung der internationalen Zusammenhänge ein. Am Anfang der Betrachtungen steht eine grundlegende Neuinterpretation der älteren Auffassung Paul Bairochs zur Entwicklung der Sozialausgaben der Schweiz. Die Neuberechnung der Sozialquote zeigt, dass der Anteil der Sozialleistungen am Sozialprodukt im Betrachtungszeitraum immer mehr stieg und nicht - so die ältere Auffassung - stagnierte. Insofern fügt sich die Schweiz in das Bewegungsmuster der westeuropäischen Sozialstaatlichkeit ein: Zumindest kann man von einer moderaten Ausweitung der zentralstaatlichen Ausgaben sprechen. Im Gegensatz zu den Vergleichsstaaten bewegte sich die Sozialquote aber auf einem außerordentlich niedrigen Niveau von vier bis neun Prozent. Erst Ende der 1950er Jahre erreichte sie den Höchststand von 1944 wieder. Daran zeigt sich, dass die Bundesregierung viel weniger als in anderen Ländern sozialpolitisch aktiv war. Das Sozialsystem blieb zersplittert und beruhte in vielen Bereichen auf privater Trägerschaft.

Trotz der Neutralität traten in der Schweiz wesentliche Effekte der Kriegswirtschaft auf. Die finanzielle Last der Mobilmachung führte zu fiskalpolitischen Staatsinterventionen, die Kaufkraft der Bevölkerung verringerte sich, und es herrschte ein Mangel an Arbeitskräften. Die wichtigsten sozialpolitischen Maßnahmen richteten sich auf die zum Militär eingezogenen männlichen Arbeitskräfte. In Zentrum stand die Lohn- und Verdienstersatzordnung, die - mit einem Höchststand 1944 - den größten Anteil an der Ausdehnung der staatlichen Sozialausgaben hatte. Dieses Gesetz bildete zusammen mit der Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung, die per Volksentscheid im Juli 1947 angenommen wurde, das Kernstück der vom Krieg induzierten Sozialgesetzgebung.

Adrian Zimmermann geht in seinem Beitrag zur Arbeitskräftebeschaffung, kollektivem Arbeitsrecht und Lohnpolitik von den zentralstaatlichen Mobilisierungsmaßnahmen aus. Ihn interessieren vor allem die Auswirkungen auf die Nachkriegszeit, als die ad-hoc-Entscheidungen des Kriegs langfristig einen gesetzlichen Niederschlag fanden. Die etwas sprunghafte Darstellung weist auf die Schrittmacherfunktion des Kriegs hin, obwohl sich die organisierten Arbeiterinteressen nur bedingt Geltung verschaffen konnten. Mitherausgeber Matthieu Leimgruber kennzeichnet die erwähnte Erwerbsersatzordnung als „umwälzende Innovation“ (S. 76), die ein neues Zeitalter der Sozialversicherung eingeleitet habe. Die Finanzierung von Tagegeldern und Familienzulagen erfolgte über Betriebskassen, die sich aus Beitragszahlungen der Lohnempfänger sowie staatlichen Zuschüssen finanzierten. Die Arbeitgeber behielten auch in der Nachkriegszeit die Kontrolle über dieses dezentrale System, was als eine „widersprüchliche Beschleunigung der sozialpolitischen Entwicklung“ (S. 99) gedeutet wird.

Carola Togni zeigt, dass die schweizerische Arbeitslosenversicherung durch ein System branchenspezifischer Kassen geprägt war, das maßgeblich in den Händen der Gewerkschaften lag. Manche Kassen waren auch paritätisch geleitet, andere hatten wiederum einen kantonalen Zuschnitt. Ein Beispiel für beides war die Paritätische Kasse der Basler Chemischen Industrie mit rund 2.000 Versicherten. Die geringe Leistungsfähigkeit dieser Klein- und Kleinstkassen führten zu einer Krisenanfälligkeit des Systems. Ein Reformgesetz des Bundes garantierte 1942 eine staatliche Finanzierungssicherung mittels eines Ausgleichsfonds, dem die Arbeitgeber skeptisch gegenüberstanden. Die Lösung war von einer einheitlichen Arbeitslosenversicherung noch weit entfernt; erst 1974 wurde sie - mit gleicher Beteiligung der Arbeitgeber - eingeführt. Ein zweiter Beitrag Leimgrubers liefert eine genaue Untersuchung der Auseinandersetzung um das zentrale Gesetzeswerk der Altersversicherung von 1947. Der technokratische Apparat der Kriegswirtschaft führte zu einer starken Berücksichtigung der industriellen Arbeitgeberinteressen. Der Sozialpolitiker Walther Stampfli, „Wirtschaftsgeneral“ im Bundesrat (S. 130), richtete das Gesetz auf den Idealtypus eines „Arbeiter-Bürger-Soldaten“ aus. Somit zeichnete sich eine Diskriminierung der sozialstaatlichen Leistungen für Frauen ab. Dennoch erreichte man zum ersten Mal in der Schweizer Geschichte eine Inklusion der Mehrheit der Bevölkerung in die Altersversicherung.

Beatrice Schumacher betrachtet die familienpolitischen Weichenstellungen der Jahre 1930 bis 1945. Sie bestätigt die in dem Band mehrfach verifizierte These der privatwirtschaftlichen Dominanz im Sozialsystem. In der Schweiz galt das Axiom, dass die Familie Privatsache sei. Dies führte nicht nur zu einer besonderen Zurückhaltung in der zentralstaatlichen Gesetzgebung, sondern festigte auch das patriarchalische Gefüge, nach dem traditionell der Vater als Alleinernährer galt. Beispielsweise wurden keine Sozialleistungen für die Kindererziehung eingeführt. Eine eher negative Bilanz zieht auch Mitherausgeber Martin Lengwiler in seinem Beitrag über die Krankenversicherung zwischen 1938 und 1949. Das Kassensystem war privatwirtschaftlich dominiert, und im Vergleich zu den 1930er Jahren wurden gesundheitspolitische Bundeskompetenzen sogar abgebaut. Das schweizerische Modell stand in starkem Kontrast zu dem anderer europäischer Staaten, die eine einheitliche Krankenversicherung oder sogar - wie in Großbritannien - ein staatliches Gesundheitssystem einführten. Eine kurzlebige Debatte um den Beverdige-Plan ebbte schon 1943 ab, so dass zentralgesetzlich nur die Einhaltung von Mindeststandards verankert wurde. Eine Volksabstimmung von 1949 lehnte eine Geringverdienern vorbehaltene nationale Tuberkuloseversicherung ab. Wie in den anderen betrachteten Bereichen blieb es bei der starken Zersplitterung und der Arbeitgeberfreundlichkeit des Sozialleistungssystems.

Der Band liefert einige Argumente zur Reevaluation des sozialstaatlichen Sonderfalls Schweiz. Auch wenn die Gesamtsicht immer noch auf einen gebremsten Eintritt in die Ära der sozialstaatlichen Expansion deutet, gibt es Hinweise für eine Neueinordnung in das europäische Muster. Dies betrifft vor allem die Bewegungsrichtung des schweizerischen sozialstaatlichen Ausbaus, der stärker als bisher angenommen dem westeuropäischen Weg entsprach. In komparativer Perspektive lassen neuere Forschungen zu den Vergleichsländern aber auch erkennen, dass dort der Wandel keineswegs so ausgeprägt war, wie früher die Verfechter der Strukturbruchtheorie - mit dem Bild der „Stunde Null“ im Jahr 1945 - erklärten.

Marcel Boldorf, Frankfurt (Oder)


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