ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerda Hofreiter, Allein in die Fremde. Kindertransporte von Österreich nach Frankreich, Großbritannien und in die USA 1938-1941, StudienVerlag, Innsbruck 2010, 133 S., kart., 19,90 €.

Die Rettungsaktionen für jüdische Kinder und Jugendliche nach 1938 sind unter dem Namen „Kindertransporte“ bekannt geworden. Dabei standen bisher vor allem die Kindertransporte nach Großbritannien im Zentrum der Aufmerksamkeit, durch die 10.000 jüdische Kinder und Jugendliche gerettet werden konnten. Zahlreiche der Kindertransport-Teilnehmer haben ihre Erinnerungen niedergeschrieben, und mehrere Dokumentarfilme machten seit Ende der 1990er Jahre auf die Transporte aufmerksam. Dabei geriet in den Hintergrund, dass es auch Transporte nach Schweden, in die Niederlande, Frankreich, in die Schweiz und in die USA gab.

Die österreichische Historikerin Gerda Hofreiter hat eine kleine Studie zu den Kindertransporten aus Österreich in die USA, Großbritannien und nach Frankreich vorgelegt. Dafür wertete sie die Akten der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien aus und nahm mit Zeitzeugen Kontakt auf.

Nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs im März 1938 verschlechterte sich die Situation für jüdische Kinder und Jugendliche dramatisch: Wie ihre Eltern waren sie von den zahlreichen Verfolgungsmaßnahmen betroffen und ab November 1938 vom Schulbesuch ausgeschlossen. Nach den Zerstörungen und Verhaftungen während der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 begann die fieberhafte Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Immer mehr Eltern erwogen dabei auch die Möglichkeit, sich von ihren Kindern zu trennen. In der Wiener jüdischen Gemeinde existierte deshalb eine Abteilung Kinderauswanderung, die Kinder und Jugendliche für Transporte nach Großbritannien und in andere Länder vermittelte.

In die USA konnten Kinder und Jugendliche nur im Rahmen der allgemeinen Quoten einwandern. Zwar gab es einige Debatten über eine pauschale Einreiseerlaubnis, doch die Bemühungen verliefen im Sande. 1939 gelang es der jüdischen Brit-Sholom Loge einmalig, 50 Kinder in die USA zu bringen. Ein wohlhabendes Ehepaar hatte sich als Bürge für die Kinder zur Verfügung gestellt und organisierte den Transport sowie ihre Unterbringung.

Wie Gerda Hofreiter zeigt, gab die US-Regierung erst sehr spät, nämlich 1942, einige Sondervisa frei, mit deren Hilfe mehrere Hundert jüdische Kinder und Jugendliche in die USA einreisen konnten. Verschiedene Flüchtlingsorganisationen, wie zum Beispiel die German Jewish Children's Aid, befassten sich dort mit deren Betreuung und Unterbringung. Dabei stießen sie jedoch auf sehr strikte gesetzliche Vorschriften, die die Vermittlung in Pflegefamilien reglementierten. So mussten die Familien über ein bestimmtes Einkommen und über denselben Glauben wie das aufgenommene Kind verfügen. Außerdem durften nicht mehr als zwei Kinder in einem Zimmer untergebracht sein. Angebote von bereits in den USA lebenden Verwandten der Kinder konnten deshalb oft nicht akzeptiert werden, da sie den erwähnten Kriterien nicht entsprachen.

Da die Verfolgung in Österreich immer stärkere Ausmaße annahm, drängten die Vertreter der Wiener Gemeinde auf eine schnellere Abwicklung und eine lockerere Auslegung der Richtlinien - ein Ansinnen, das zu Konflikten mit den amerikanischen Hilfsorganisationen führte. Insgesamt konnten durch die Kindertransporte in die USA nur 86 Kinder aus Österreich gerettet werden, weshalb Hofreiter die Arbeit der Hilfsorganisationen als „sehr aufwendig, aber wenig erfolgreich“ (S. 75) bewertet. Sie verweist zwar jeweils auf die Einreisebeschränkungen der USA und Frankreichs, hält es jedoch „als Angehörige des schuldtragenden Volkes“ für unpassend, „Fragen an eine Nation zu stellen, die auf diese Schuld zu zögerlich reagiert hat“ (S. 109). Bedauerlicherweise hat Gerda Hofreiter die Ergebnisse der 2006 erschienenen Dissertation von Claudia Curio nicht berücksichtigt, die sich ebenfalls mit den Kindertransporten aus Österreich befasst. (1)

Nach Frankreich konnten bis April 1939 mehrere kleine Gruppen von Kindern und Jugendlichen aus Österreich einwandern. Danach stoppte die französische Regierung die Aufnahme. Im Gegensatz zur Situation in Großbritannien und den USA wurden die Kinder in Frankreich vor allem in Kinderheimen untergebracht. Ihre Betreuung erfolgte über die Organisation OSE (Oeuvre des Secours aux Enfants). Zwei der Kinderheime leitete der österreichische Pädagoge Ernst Papanek, auf dessen Rolle Gerda Hofreiter jedoch nur kurz eingeht.

Die Nordhälfte Frankreichs wurde im Juni 1940 von deutschen Truppen besetzt. Auch die mit dem Nationalsozialismus sympathisierende Vichy-Regierung im Süden des Landes internierte ab 1940 ausländische Juden in Lagern. Ab 1942 begannen die Deportationen. Die OSE versuchte, Kinder und Jugendliche aus den Lagern zu befreien und weitere Fluchtmöglichkeiten ausfindig zu machen. Sie betreute in dieser Zeit insgesamt 5.000 jüdische Familien. 1941/42 gelang es ihr, noch ca. 250 Kindern zur Flucht in die USA zu verhelfen, darunter auch einigen Kindern aus Österreich. Von den in Frankreich zurückgebliebenen Kindern und Jugendlichen überlebten einige in Verstecken, andere konnten noch in die Schweiz fliehen. Viele wurden jedoch deportiert und ermordet.

Neben der Rekonstruktion der verschiedenen Transporte und der Arbeit der Flüchtlingsorganisationen ergänzt Hofreiter jedes Kapitel mit den Biografien einzelner Kinder und Jugendlicher. Über die amerikanische Organisation „One thousand children“ nahm sie mit elf Zeitzeugen engeren Kontakt auf. Aus Briefen, Berichten, Fotos und anderen Dokumenten rekonstruierte sie einige Lebensgeschichten und präsentiert sie auf eine besondere Art und Weise: Es handelt sich um kurze biografische Skizzen, die teils im Präsens und im Stil eines Erlebnisberichts verfasst sind. Manchmal wünscht man sich jedoch, die Autorin hätte stärker die Zeitzeugen selbst zu Wort kommen lassen, statt ihre Erlebnisse in dieser Form wiederzugeben. Der Versuch, den kindlichen Erzählstil nachzuahmen, erscheint fehl am Platz.

Ebenso wenig überzeugen die Aussagen der Autorin zur Integration der Kinder und Jugendlichen. Sie zieht das Fazit, dass „die damaligen Kinder durchwegs ihr Leben erfolgreich gemeistert haben“ und viele „sogar hervorragende Stellungen“ gehabt hätten. Als Begründung führt sie an, dass für die Kindertransporte „ja nur Kinder mit ganz bestimmten Eigenschaften an Intelligenz und Charakter angenommen worden sind“ (S. 107). Auf die „Spuren der Traumatisierung“ (S. 110) geht die Autorin dagegen nur sehr kurz ein. Hier wäre sicherlich eine genauere und differenzierte Analyse vonnöten gewesen. Aus Großbritannien ist bekannt, dass viele der Kinder und Jugendlichen zunächst Schwierigkeiten in der Schule hatten beziehungsweise bereits im Alter von 14 Jahren zu arbeiten begannen. Im Rückblick bewerteten dies viele Zeitzeugen als Einschränkung. Neben den Charaktereigenschaften der Kinder und Jugendlichen wären sicherlich noch viele weitere Einflussfaktoren zu nennen, wie beispielsweise der Einfluss der Erzieher und Pflegefamilien, die Bildungsideale in den österreichisch-jüdischen Familien, die Vorstellungen der Hilfsorganisationen über die Ausbildung der Kinder und die Integrationsmöglichkeiten in die US-amerikanische Gesellschaft. Trotz dieser Kritikpunkte hat Gerda Hofreiter in ihrer Arbeit wichtige neue Informationen über die bisher kaum erforschten Kindertransporte in die USA und nach Frankreich zusammengetragen.

Christiane Berth, St. Gallen

Fußnoten:


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