Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Frank Werner (Hrsg.), Schaumburger Nationalsozialisten. Täter, Komplizen, Profiteure (Kulturlandschaft Schaumburg, Bd. 17), 2. Aufl., Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2010 (zuerst 2009), 663 S., geb., 29,00 €.
Schaumburg, das im Fokus des vorliegenden Sammelbandes steht, ist ein geografisches Gebilde mit einer verwickelten Geschichte. Seit 1500 Teil des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises, wurde diese Grafschaft im Jahre 1648 zwischen den Fürstenhäusern Braunschweig-Lüneburg, Hessen-Kassel und Lippe geteilt. Seitdem existierten Schaumburg-Lippe, das nach 1918/19 zum Freistaat avancierte und zum Land Lippe gehörte, und die Grafschaft Schaumburg als zwei separate Verwaltungseinheiten. Schaumburg-Lippe, das 1934 insgesamt 340 Quadratkilometer mit 50.000 Einwohnern umfasste, zählte zur Provinz Westfalen, die Grafschaft Schaumburg, deren Einwohnerzahl fast identisch war, hingegen seit 1932 zur Provinz Hannover. Eine geografische Einheit Schaumburg gab es in der NS-Zeit nicht (der heutige Landkreis, der diesen Namen trägt, wurde erst 1977 gegründet). Lediglich für den Bereich der NSDAP lässt sich eine solche konstatieren, weil sowohl Schaumburg-Lippe als auch die Grafschaft Schaumburg im Gau Westfalen-Nord lagen, wo sie zwei Parteikreise bildeten.
In seiner präzisen Einleitung, die sich auf dem neuesten Stand der NS-Forschung bewegt, skizziert der Herausgeber Frank Werner zunächst einmal das Erkenntnisinteresse und die Kriterien für die Auswahl der Personen. Im Zentrum des Bandes steht die soziale Praxis der Schaumburger Nationalsozialisten", worunter Werner zwei Gruppen subsumiert: das heimische NS-Establishment, also die Funktionsträger vor Ort, sowie diejenigen Schaumburger, deren Karrieren sich im Wesentlichen außerhalb der engeren Grenzen dieser Region vollzogen. Als übergreifende Klammer, die alle Beiträge verbinde, sieht er die Verstrickung in Verbrechen", die sich für alle hier vertretenen Personen nachweisen lasse (S. 14). Es geht also offensichtlich um deren Beteiligung am NS-Terror und an Gewalthandlungen, mit anderen Worten: um eine Analyse, die der Täterforschung zuzurechnen ist. In dieser relativ engen Fragestellung unterscheidet sich der Sammelband von anderen Regionalstudien, die ebenfalls mit einer biografischen Herangehensweise arbeiten, diese jedoch in der Regel ergebnisoffener einsetzen. Die Fokussierung auf Täterschaft ist allerdings angesichts der lange Zeit apologetischen Lokalgeschichtsschreibung durchaus geboten. Auch im Fall Schaumburgs kann nämlich von einer kritischen historiografischen Annäherung an die NS-Zeit bislang nur in Ansätzen die Rede sein.
Der Sammelband beinhaltet 15 teils überlange Aufsätze, die, bis auf zwei Ausnahmen, allesamt über 100 Endnoten umfassen. Kein anderes Werk über eine regionale NS-Elite kann mit einer so hohen empirischen Sättigung aufwarten. Die Beiträge sind sehr einheitlich gestaltet, was ihre Vergleichbarkeit untereinander erhöht und den Band konzise erscheinen lässt. Jeder Aufsatz beginnt mit einer Fotografie und einem tabellarischen Lebenslauf des Protagonisten, gefolgt von einer ausführlichen Analyse seiner institutionellen Tätigkeiten in der NS-Zeit, der Entnazifizierung und der Nachkriegskarriere. Zu diesem Zweck haben die Autoren alle nur erdenklichen Dokumente in ihre Betrachtung einbezogen: amtliche Korrespondenzen, regionale Tageszeitungen (eine oftmals vernachlässigte Quellengattung), nach dem Kriegsende entstandene Rechtfertigungsschriften sowie viele Materialien aus privaten Nachlässen. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein ausführliches Orts- und Personenregister erleichtert es dem Leser, sich im Netzwerk der Schaumburger Nationalsozialisten zurechtzufinden.
Inhaltlich sind die Beiträge durchweg als gelungen zu bewerten. Insgesamt zwei Aufsätze befassen sich mit Alfred Meyer, dem Gauleiter von Westfalen-Nord, der am 16. Mai 1933 zum Reichsstatthalter für Lippe und Schaumburg-Lippe und am 4. November 1938 auch noch zum Oberpräsidenten der Provinz Westfalen ernannt wurde. Stefan Brüdermann widmet sich Meyers Aktivitäten als Reichstatthalter im Hinblick auf Schaumburg-Lippe, wogegen Herausgeber Werner dessen Rolle als Ständiger Vertreter des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg skizziert. In dieser Funktion, die er seit dem 17. Juli 1941 innehatte, nahm Meyer auch an der Wannsee-Konferenz teil und war direkt in die Durchführung des Holocaust involviert. In zwei weiteren ertragreichen Beiträgen schildert Werner noch den Lebensweg Karl Dreiers, des Landespräsidenten von Schaumburg-Lippe, und die Aktivitäten der Komplizen an der Basis", die er anhand von Denunziationen und der antijüdischen Gewaltpraxis der NS-Aktivisten verdeutlicht. In den Aufsätzen von Wilhelm Gerntrup und Karsten Klaus steht die Amtsführung der Bürgermeister von Bückeburg und Rinteln, Albert Friehe und Karl Wachsmuth, im Mittelpunkt. Friehe, ein ideologischer Heißsporn par excellence, trieb die NS-Verfolgungspolitik mit eigenmächtigen Initiativen voran; Wachsmuth hingegen, ein eher bürgerlicher Honoratiorenpolitiker, hielt sich bei der Diskriminierung von Juden und NS-Gegnern an einen (pseudo)legalen Kurs. In ihren Resultaten unterschieden sich die beiden Verfahrensweisen kaum voneinander. Mit Adolf Manns, dem Schriftleiter der NS-Zeitung Die Schaumburg", und Gerhard Rose, einem Tropenmediziner, der 1943 zum Vizepräsidenten des renommierten Robert-Koch-Instituts aufstieg, präsentieren Tanja Theiß und Christine Wolters schließlich zwei besonders radikale Nationalsozialisten. So forderte Manns in einem Artikel vom 18. Juli 1935, einen der Rassenschande beschuldigten Juden einfach aufzuhängen, und Rose wurde für seine Beteiligung an NS-Menschenversuchen im Nürnberger Ärzteprozess im August 1947 zu lebenslanger Haft verurteilt. Beide führten nach ihrer Entlassung aus dem Internierungslager beziehungsweise dem Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg seit Mitte der 1950er Jahre wieder ein auskömmliches bürgerliches Leben.
Es gibt allerdings auch einige Aufsätze, in denen das Paradigma der NS-Täterforschung nicht trägt. Am deutlichsten ist dies in Michaela Kipps Beitrag über Schaumburger Frauen im Nationalsozialismus zu erkennen, der mit dem Satz beginnt Dieser Aufsatz handelt von Frauen und Vernichtungspolitik (S. 585). Tatsächlich geht es darin um typisch weibliche Aktionsfelder in Haushalt, Erziehung, Kirche und Landwirtschaft sowie die Veranstaltungsaktivitäten der NS-Frauenorganisationen, die zumeist aus einschlägigen Presseankündigungen rekonstruiert werden. Von Täterschaft weit und breit keine Spur. Aber auch Jan Wendorfs Aufsatz über Gustav Reineking, den NSDAP-Kreisleiter in Rinteln, begnügt sich, bis auf einen wichtigen Abschnitt über die exzessive Schutzhaft"-Praxis, damit, dessen Konflikte mit anderen regionalen NS-Größen zu referieren. In Thomas Riechmanns instruktivem Porträt über Friedrich Christian zu Schaumburg-Lippe, einen Angehörigen des dortigen Fürstenhauses, der bereits 1929 in die NSDAP eintrat und es nach der Machtübernahme bis zum Adjutanten von Joseph Goebbels brachte, sucht man ebenfalls vergeblich nach einer Beteiligung an NS-Verbrechen. Dieser ideologisch besonders fanatische Nationalsozialist fungierte eher als repräsentative Galionsfigur des NS-Regimes.
Der vorliegende Sammelband zeigt sowohl Reichweite als auch Grenzen biografischer Annäherungen an die regionale NS-Geschichte. Erfolgt diese einzig und allein über das Paradigma der Täterschaft, so könnte die Gefahr entstehen, die Grenze zwischen Tätern und Mitläufern unnötig zu verwischen. Der Vorteil dieses Ansatzes, der in erster Linie nach der persönlichen Verantwortung fragt, besteht jedoch in der Möglichkeit, Person und Institution miteinander zu verzahnen, und dies ist den meisten Autoren außerordentlich gut gelungen. Es bleibt zu hoffen, dass sich bald einmal - vielleicht auf der Basis der in diesem Band versammelten Fachkompetenz - die Gelegenheit bietet, eine kritische Gesamtgeschichte Schaumburgs in der NS-Zeit zu verfassen. Der Grundstein dazu ist jedenfalls gelegt.
Armin Nolzen, Warburg