ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Alfred Bauer, Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im Hunsrück zwischen Tradition und Innovation (1870-1914) (Trierer Historische Forschungen, Bd. 64), Kliomedia, Trier 2009, 507 S., geb., 76,00 €.

Ein umfangreiches Werk über die Landwirtschaft und die ländliche Gesellschaft im Hunsrück hat Alfred Bauer vorgelegt. Die mehr als 400 Seiten Ausführungen ergänzt und belegt er im Anhang mit 30 Seiten Dokumenten, Tabellen, Grafiken und 50 Seiten Quellen und Literatur. Aber auch im vorangegangenen Text findet man allenthalben erläuternde Tabellen und Grafiken. Oder umgekehrt: Bauers zitatenreiche Forschungen machen die Zahlen lebendig. Der Autor betrachtet die einzelnen Kapitel als geschlossene Einheiten, als „Solitäre“ (S. 54); die kleinschrittige Inhaltsangabe lädt zu punktuellem Lesen ein. Der Gymnasiallehrer Alfred Bauer hat seiner Heimat mit diesen Forschungen ein Geschenk gemacht und damit sein Vermächtnis hinterlassen. Er starb im Sommer 2008, noch bevor er sein an der Universität Trier 2006 als Dissertation eingereichtes Werk publizieren konnte.

Bauer setzt bei dem „alles überragenden epochalen Einschnitt“ an, der Reichsgründung 1870/71, die das Signal für einen entscheidenden Industrialisierungsschub wie für die Agrarschutzpolitik gab. Der Autor beschließt seine Studie mit dem Kriegsbeginn 1914, der wiederum Menschen, Verwaltung, bäuerliche und industrielle Betriebe vor übergroße Herausforderungen stellte, um den massenhaften Nahrungsmangel und Hungersnöte zu bewältigen. Doch über dieses knappe halbe Jahrhundert der Agrarmodernisierung, der staatlichen Subventionen, des landwirtschaftlichen Strukturwandels hinaus schreitet der Verfasser den gesetzten zeitlichen Rahmen weit aus. Nicht selten geht er Jahrzehnte zurück, manchmal bezieht er die jüngste Gegenwart mit ein.

Hunsrück? Gibt diese entlegene Landschaft, zudem ein begrenzter Zeitraum, so viel Stoff her? Der Zweifel erlischt angesichts des ausgeschöpften sozial- und kulturgeschichtlichen Ansatzes. Agrargeschichte hat seit gut zehn Jahren wieder Konjunktur. Doch während einige Landschaften wie Westfalen und Ostdeutschland mit ihren Großbetrieben variantenreich untersucht wurden, liegen manche Regionen immer noch abseits des historiografischen Interesses; dazu zählen für das südliche Rheinland der Hunsrück, der Westerwald und der Taunus. Auf der historischen Landkarte füllt Bauer nun zumindest einen der weißen Flecke. Das Lesepublikum, dem eher Städte wie Koblenz, Bad Kreuznach, Trier oder Weinorte an Mosel, Nahe und Rhein bekannt sind, erfährt nun Einzelheiten unter anderem aus Fronhofen, Kastellaun, Kisselbach, Külz, Kirn, Thalfang, Todenroth und Womrath.

Den Hunsrück bezeichnet der Autor als eine „agrare Problemregion“ (S. 46), zum einen wegen der geologischen Verhältnisse mit Quarzitrücken, Schieferhochflächen und tiefen Taleinschnitten, zum anderen wegen der kaum variierenden kalkarmen Bodenqualität. Stickstoff und Phosphor fehlten; erst der Bau der Eisenbahn sicherte die Einfuhr von Dünger. In den Tälern wurde ausschließlich Grünfutter angebaut. Aber das Wetter brachte mit zu trockenen Frühjahren und Sommern oft Einbußen und gefährdete in zu nassen Jahren die Getreideernten. Das wirkte sich auf die Viehbestände aus.

Bauer offenbart selbstkritisch, seine Biografie sei Teil des Untersuchungsgegenstands (S. 39). Er habe persönlich auf einem mittleren Bauernhof in den 1950er und 1960er Jahren „Aufstieg und Fall der Hunsrücker Landwirtschaft“ im eigenen Elternhaus erfahren. Seine emotionale Betroffenheit beeinflusse notwendigerweise die Darstellung, die trage teilweise subjektive Züge. Sein elterlicher Betrieb wurde nämlich 1984 nach der ersten Kontingentierungswelle der Milchproduktion aufgegeben. Milch bot seit Ende des 19. Jahrhunderts im Hunsrück dank der neuen Molkereigenossenschaften eine hoffnungsvolle Ertragsbasis für viehbesitzende Haushalte (S. 227). Die Vermarktung von Butter brachte Geld ein. Zu loben - weil nicht selbstverständlich in der Geschichtsschreibung - ist hier Alfred Bauers Hervorhebung der enormen Arbeitsleistung von Bäuerinnen in der Milchwirtschaft: Kälberaufzucht, Melken, Buttern und Käsen war weitgehend Frauensache. Molkereien bedeuteten eine erhebliche Arbeitserleichterung.

Persönliche Nähe zum Forschungsthema von Autorinnen und Autoren wie bei Alfred Bauer kann von Nutzen sein, wenn sie darauf achten, nicht heimat- und dorfgeschichtliche Klischees und Stereotypen zu bedienen, die eine lange, zähe Tradition haben. Ein in der Region ansässiger Forscher genießt oft einen Vertrauensvorsprung; ihm werden private Quellen gegeben, und nicht selten ermöglicht man ihm den Zugang zu nicht aufbereiteten Dorfakten. Aufgrund der ihm bekannten Verhältnisse konnte Bauer durch die Methode der Oral History manchen Befunden Lebendigkeit und Farbe geben.

Der Autor betont, er habe „die Agrarlandschaft des Hunsrück mit Blick auf die Erkenntnis leitenden Fragestellungen entlang theoriegeleiteter wirtschafts-, gesellschafts-, alltags- sowie frauen- und geschlechtergeschichtlicher Herangehensweise“ analysiert und beschrieben, und zwar in „Kombination quantitativer und qualitativer methodischer Verfahren“ (S. 50). Das kling vielversprechend: Regionalgeschichte als Sozialgeschichte. Bauer nutzt die in den letzten Jahren aktuell entstandene Literatur zum Untersuchungsfeld „Regionalgeschichte als Landesgeschichte“ und erfüllt sein methodisches Versprechen, „pragmatisch und funktional“ vorzugehen.

Doch die bewusst vernachlässigten politisch-administrativen „Raumkoordinaten“ wären politikgeschichtlich interessierten Rezipienten von Nutzen. Sie sind ebenso wie konfessionelle Gegebenheiten eher stichwortartig umrissen (S. 47). Für das Untersuchungsgebiet war es entscheidend, dass es mit dem Wiener Kongress 1815 preußisch wurde und auf der Verwaltungsebene Landkreise die überkommene Kleinstaaterei beendeten. Zwar betrieben schon die kleinen Territorialstaaten Pfalz, Pfalz-Zweibrücken und Baden eine konsequente Agrarpolitik - etwa mit dem Kartoffelanbau -, aber mit der Bismarckschen Reichsgründung kam es gebietsweise „zu einer nie da gewesenen Verdichtung agrarpolitischer Innovationen“ (S. 24). Die seit 1900 systematische Förderung der „bedürftigen“ Unter-Zwei-Hektar-Betriebe banden diese loyal an den preußischen Staat.

Im Mittelpunkt steht denn auch der bäuerliche Familienbetrieb, der die strukturellen Umbrüche verkraften musste und somit als Spiegelbild der ökonomischen und politischen Herausforderungen erscheint. Legt man die statistische Größe von Landwirtschaftsbetrieben zugrunde, gelten 2 bis 5 Hektar als kleinbäuerlicher Betrieb, 5 bis 20 Hektar als mittelbäuerlich. Demnach war der Hunsrück ein Gebiet der Familienbetriebe mit bescheidener landwirtschaftlicher Nutzfläche von maximal 10 Hektar; die meisten Höfe lagen jedoch darunter (S. 97).

Während im ersten Kapitel unter verschiedenen Gesichtspunkten Rechtsnormen eher spröde skizziert werden, untersucht der Autor im zweiten Hauptkapitel „Ländliche Gesellschaft“ facettenreich Sozialgruppen, Besitzverhältnisse, Verwandtschaften, Wanderungsbewegungen, familiale Abhängigkeiten, konfessionelle Heiratsstrategien. Wir erfahren, dass sich 1898 ein Knecht aus Ostpreußen per „Mieths-Schein“ ein Jahr „für sämmtliche in der Landwirtschaft vorkommende Arbeiten“ auf einen Hof „vermiethete“ (S. 157). Selbst der Hunsrück litt um 1900 wegen hoher Abwanderungsquoten unter Landarbeitermangel. Deshalb war hier eher die längerfristige familiäre Einbindung des Gesindes (als „Zubehör") in den bäuerlichen Haushalt die Regel.

Wie angedeutet, widmet sich der Autor dankenswert in einem längeren Abschnitt dem Leben und Arbeitsalltag von Frauen in der Dorfgesellschaft, obwohl in den Hunsrück-Quellen „Frauen im Allgemeinen wie speziell Frauen in der Landwirtschaft nicht vor[kommen]", noch weniger Selbstzeugnisse (S. 184ff.). Dies korrespondiert mit anderen deutschen Gebieten, wie neuere Untersuchungen ergaben. (1) Zeitraubende Recherchen waren dafür notwendig. Es erstaunt nicht, dass sich Bauern im Hunsrück um 1900 vehement und konsequent gegen eine haus- und landwirtschaftliche Aus- und Fortbildung ihrer Töchter wandten, weil diese zu Hause als Arbeitskräfte unabkömmlich waren. Es hieß: „Die Frau und der Ofen gehören ins Haus". Mangel an Arbeitskräften, Fortschrittsfeindlichkeit, Furcht vor städtischen Einflüssen, ein patriarchales Verständnis - viele ländliche Stereotype verfestigten hier die „Hunsrücker Lebensart". Der Wert der Frauen wurde an ihrer Fähigkeit „zum Schaffen“ gemessen. In einer Landschaft, in der „Acker zu Acker und Land zu Land heiratete", war die Bäuerin Handelsware (S. 192). Ihr Arbeitsalltag in Hof, Stall, Feld und Haushalt fiel um 10 Prozent länger aus als der des Bauern.

Ein Abschnitt erhellt das landwirtschaftliche Vereinswesen, das seit Ende des 19. Jahrhunderts als Schrittmacher der Agrarmodernisierung galt (S. 200ff.). Einher mit den Vereinsinteressen der ausschließlich männlichen Mitglieder gingen die neuen landwirtschaftlichen Winterschulen - für die männliche Landjugend. Der Lehrplan verband landwirtschaftliche Fachbildung gleichermaßen mit Charakter- und Allgemeinbildung. Wie sich herausstellte, bestand der Bildungstransfer von agrartechnischem Wissen auch in der dörflichen Kommunikation der Bauernsöhne und war so Teil der „Dorfpolitik". Die 1898 in Ostpreußen gegründeten Landwirtschaftlichen Hausfrauenvereine, die sich im Deutschen Reich erfolgreich verbreiteten, blieben im Hunsrück lange unbekannt. Sie waren Basis der modernen Landfrauenvereine (mit heute 500.000 Mitgliedsfrauen) und hätten schon damals auch im Hunsrück die weibliche Landbevölkerung qualifizieren und damit die Wirtschaftserträge der Höfe steigern können.

Die Bilanz des Autors fällt für die „Agrarlandschaft Hunsrück“ positiv aus: auf dem Gebiet der Bildung wie für das agronomische Wissen der Landbevölkerung, in der Pflanzenkunde, in der Vieh- und Veredelungswirtschaft, bei der Flurbereinigung, der Seuchenbekämpfung und der familialen Arbeitsverfassung (S. 422f.). Heute geltende wirtschaftliche Erfolgskriterien wie marktorientierte und zukunftsträchtige innerbetriebliche Weichenstellungen waren auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine Seltenheit. Kleine Bauernhöfe konnten die Menschen ernähren und im Ersten Weltkrieg gebietsweise staatliche Abgabenzwänge übererfüllen; Familienbetriebe waren zu technischem Fortschritt und größerer Produktion durchaus fähig.

Nicht alle Facetten dieses Buchs können hier gewürdigt werden. Alfred Bauers verdienstvolle Ausführungen sind ein Bekenntnis zur bäuerlichen Familienwirtschaft; sie geben der Agrarhistoriografie viele Anregungen und liefern auch der Heimatforschung im Hunsrück manches Anknüpfungsdetail zum Graben an den Wurzeln.

Anke Sawahn, Hannover

Fußnoten:


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