ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Frank Uekötter, Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft (Umwelt und Gesellschaft, Bd. 1), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010, 524 S., geb., 49,90 €.

Im Schnittbereich von Agrar-, Wissenschafts- und Umweltgeschichte siedelt Frank Uekötter seine „Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft“ an. Damit beackert der Autor wissenschaftliches Neuland, erfordert ein solches Vorhaben doch die Verschränkung von bislang weitgehend getrennt voneinander laufenden und - wie er harsch kritisiert - ‚betriebsblinden‘ Strängen der Geschichtsforschung: der Agrargeschichte, deren politisch-ökonomischer Fokus die wissenschaftlich-technische Entwicklung als Black Box erscheinen lasse, sowie der Wissenschaftsgeschichte, die sich für die Agrarwissenschaften und deren alltägliche Aneignung nur mäßig interessiere. Uekötters Gegenstand ist die „agrarische Wissensgesellschaft“ (S. 21), die sich über Verhandlungen der „Schlüsselressource Wissen“ (S. 24) zwischen asymmetrisch aufeinander bezogenen Akteursgruppen - Wissenschaftlern, Agrarbürokratie, Industrievertretern, Lehrern und Beratern sowie praktischen Landwirten - herstelle.

Nach Ausbreitung der theoretisch-methodischen Werkzeuge zeichnet der Autor in chronologischer Abfolge vier Entwicklungsphasen der agrarischen Wissensgesellschaft vom ausgehenden 19. bis ins beginnende 21. Jahrhundert am Beispiel des Bodens nach: die „Formierungsperiode“ (S. 133) im Kaiserreich, in der zentrale Akteursgruppen, etwa das agrarische Forschungs- und Bildungswesen, unter dem holistischen Leitbild des „Ganzen Landwirts“ (S. 170) institutionalisiert wurden; die „Sattelzeit“ (S. 183) der Zwischenkriegszeit und der beiden Weltkriege, in der die intellektuellen Weichen in Richtung der Intensivlandwirtschaft gestellt wurden - ohne dass sich die Landwirtschaftspraxis bereits radikal veränderte; die „stille Revolution“ (S. 331) der Nachkriegsjahrzehnte, die den Durchbruch zur Intensivlandwirtschaft unter dem Diktat von Produktivitätssteigerung, Betriebskonzentration und Spezialisierung brachte; schließlich die wachsende Reflexivität seit den 1980er Jahren, in der die blinden Flecken der vorangegangenen Agrarrevolution mehr und mehr ins Bewusstsein traten. In einem quer zu den chronologischen Kapiteln angelegten Längsschnitt charakterisiert der Autor den eigensinnigen „Maschinenfetischismus“ der Landwirte als Kompensation der Übermächtigung durch eine „betriebsfremde Expertenklasse“ (S. 23).

Die zentrale Erkenntnis des Buchs, die der Autor in einer prägnanten, manchmal zur Überspitzung neigenden Sprache aus seinem Quellenmaterial herausschält, erschüttert die gängige Ansicht einer durchgängigen „Verwissenschaftlichung“ der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert: Die Agrarrevolution der Nachkriegszeit fußte auf einem selektiven Wissen, das produktivitätssteigernde Elemente - vor allem die Agrikulturchemie - einschloss, während damit unverträgliche Elemente - etwa Bakteriologie, Bodenkunde und biologisch-dynamische Lehre - ausgeschlossen wurden. Folglich erscheint der Übergang zur Intensivlandwirtschaft als Beginn eines „Blindflugs“ (S. 391), der erst im ausgehenden 20. Jahrhundert - nicht von innen, sondern von äußeren Anstößen her - langsam zu einem Ende gekommen sei. „Verwissenschaftlichung und Wissenserosion“ (S. 435), so der Autor in seinem Resümee, bedingten einander wechselseitig in den Nachkriegsjahrzehnten gemäß der Logik, wonach „einfach und falsch“ vor „kompliziert und richtig“ gehe.

So überzeugend die These der agrarischen Wissensselektion insgesamt auch entfaltet wird - sie wirft im Detail einige Probleme auf. Dazu zählt erstens die von Otto Brunners „Ganzem Haus“ inspirierte Formel vom „Ganzen Landwirt". Die wortreichen Versuche des Autors, den damit verbundenen Fallstricken, etwa der patriarchalischen Fixierung auf den „Hausvater", zu entgehen, vermögen nicht vollends zu überzeugen; denn letztlich rechtfertigt er den Fokus der Studie auf den männlichen Betriebsleiter mit dem Argument, dieser habe „in ziemlich weitreichender Autonomie die zentralen Entscheidungen treffen“ (S. 177) können. Damit wird ein mögliches Resultat der Untersuchung - die männliche Dominanz in den alltäglichen Entscheidungssituationen auf den Höfen - schlichtweg als gegeben vorausgesetzt. Das führt zu einem zweiten Problem: Wie die Männer und Frauen auf den Höfen das durch Medien und Mediatoren vermittelte Agrarwissen der Experten im Alltag deuteten, dieses verhandelten und in der Landwirtschaftspraxis umsetzten, gerät in der Studie nur am Rande in den Blick. Der Anspruch, die agrarische Wissensgesellschaft in ihrer Gesamtheit, unter Einschluss der bäuerlichen Akteure, zu erfassen, wird nicht voll eingelöst - und kann mittels des verwendeten Quellenkorpus nicht voll eingelöst werden. In den Quellen - Fachbüchern, Agrarzeitschriften, Sitzungsprotokollen und so fort - sprechen nur ausnahmsweise die Betriebsleiter selbst; in der Regel wird von anderen über sie gesprochen. Die Vermengung von Fremd- und Selbstbeschreibung lässt die agrarische Wissensgesellschaft letztlich als eine auf innerem Konsens beruhende, nach außen hin abgeschlossene „panagrarische Vertrauensgemeinschaft“ (S. 445) erscheinen. Daraus erwächst die Gefahr, das Gemeinschaftskonstrukt des agrarischen Expertensystems zu einem wirkmächtigen Kollektivakteur unter Vernachlässigung der Bruchlinien zwischen den Fraktionen der Agrargesellschaft zu essentialisieren.

Diese beiden Probleme vermögen den überzeugenden Gesamteindruck jedoch kaum zu trüben: Die Studie überwindet in der Tat Engführungen agrar- und wissenschaftshistorischer Ansätze; sie zeichnet in bislang unerreichter Breite den Agrardiskurs in Deutschland vom späten 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert am Beispiel des Bodens nach. Dabei stehen, bedingt durch den weiten Raum- und Zeitausschnitt, Spezial- und Interdiskurse des Agrarapparats im Mittelpunkt, während bäuerliche Alltagsdiskurse nur gestreift werden. Somit eröffnet das Buch einen anregenden Bezugsrahmen für vertiefende Fallstudien, die mittels Ego-Dokumenten der alltäglichen Aneignung des agrarischen Expertenwissens in kleinräumigeren und kurzzeitigeren Kontexten nachspüren - und auf diese Weise die Landwirtschaftspraxis als zentrales Element der agrarischen Wissensgesellschaft erschließen. Was kann man sich von einer Studie, die einer ambitionierten Buchreihe gewissermaßen als ‚Flaggschiff‘ voransegelt, mehr wünschen?

Ernst Langthaler, Wien/St. Pölten


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