ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Farrenkopf/Peter Friedmann (Hrsg.), Die Grubenkatastrophe von Courrières 1906. Aspekte transnationaler Geschichte (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum, Bd. 164), Deutsches Bergbau-Museum Bochum, Bochum 2008, 546 S., geb., 35,00 €.

Dass das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum 100 Jahre nach der verheerenden Schlagwetterexplosion im nordfranzösischen Courrières zu diesem Thema eine viel beachtete Sonderausstellung eröffnete und vom 17. bis 19. März 2006 ein wissenschaftliches Symposium veranstaltete, mag auf dem ersten Blick verwundern. Der von Michael Farrenkopf und Peter Friedemann herausgegebene Tagungsband verweist mit seinem Untertitel „Aspekte transnationaler Geschichte“ auf ein weitgehend vergessenes Kapitel deutsch-französischer Geschichte.

Am 10. März 1906 ereignete sich in Courrières im Nord/Pas-de-Calais eine Schlagwetterexplosion von bislang nicht für möglich gehaltenen Ausmaßes. 1099 der zur Schicht angefahrenen 1700 Bergleute fielen dem Unglück zum Opfer. Schon aufgrund dieser Dimensionen erregte die Katastrophe über die Grenzen Frankreichs hinaus große öffentliche Aufmerksamkeit. Besondere Beachtung wurde in diesem Kontext jedoch dem Einsatz deutscher Rettungsmannschaften beigemessen, die aus dem Ruhrgebiet nach Nordfrankreich fuhren, um unterstützend einzugreifen. Die Legende dieser „Helden von Courrières“, die scheinbar ungeachtet der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs zur Rettung ausrückten, prägte nachhaltig die Rezeption der Katastrophe und bot letztlich auch den Anlass für die internationale Tagung, deren Beiträge nunmehr in dem vorliegenden Band veröffentlicht sind.

Der Tagungsband gliedert sich in zwei Hauptteile: Während der erste die Beiträge der Tagung umfasst, bietet der zweite eine mehr als die Hälfte des Gesamtumfangs des Bandes ausmachende Sammlung von Quellen und Literatur zur Katastrophe und ihren Auswirkungen. Im Anhang finden sich neben dem Autoren-, Tagungsteilnehmer-, Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis auch die Reden der Bochumer Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz zur Eröffnung des Symposiums und des deutsch-französischen Schriftstellers Georges-Arthur Goldschmidt zur Eröffnung der Ausstellung. Goldschmidts Rede spannt den Bogen von den „schlesischen Webern“ Heines über Zolas „Germinal“ bis in unsere Zeit und öffnet so einen anregenden Blick auf die Aspekte transnationaler Geschichte und Solidarität.

Die 16 Beiträge sind in vier Themenblöcken gegliedert. Unter dem Schwerpunkt „Dimensionen des Risikos“ stellt Michael Farrenkopf das Explosionsrisiko im Steinkohlenbergbau als europäisches Problem dar. Hierbei greift er auf die Ergebnisse langjähriger Forschungsarbeit am Deutschen Bergbau-Museum zurück, die auch die wesentliche Grundlage für die Realisierung des Courrières-Projekts in Bochum waren. Marie-France Conus und Jean-Louis Escudier schildern, dass Courrières bis zur verhängnisvollen Explosion als eine der am wenigsten gefährlichen Zechen galt, die Verantwortlichen aber, anders als etwa im deutschen Steinkohlenbergbau, kaum gegenüber den Gefahren von Kohlenstaubexplosionen sensibilisiert waren. Dass, wie nach den Erfahrungen von Courrières geschehen, derartige Katastrophen zum Ausgangspunkt systemischer Verbesserungen wurden, kann, wie Uli Barth ausführt, hinsichtlich der Entwicklung der Grubensicherheit und des Explosionsschutzes durchaus verallgemeinert werden. Helmuth Trischler erweitert diesen Ansatz, indem er untersucht, inwieweit Katastrophenerfahrungen wie die von Courrières über den sicherheitstechnischen und administrativen Bereich hinaus auch den gesellschaftlichen Wandel beeinflussen. Tatsächlich wirken Katastrophen, so Trischler, in zweierlei Richtung als auslösendes Moment für Wandlungsprozesse: durch die öffentliche Aufmerksamkeit in einer „medialisierten Wissensgesellschaft“ (S. 68) sowie durch die Generierung technischen Wissens im Kontext durch Katastrophen erkannter Risiken. Mit einer Untersuchung über die Folgen des Erdbebens von Messina 1908 beschreibt Rolf Wörsdörfer an einem weiteren Fallbeispiel derartige gesellschaftliche Verarbeitungs- und Transformationsprozesse.

Der folgende Schwerpunkt „Bergarbeiterschaft an der Ruhr und im Nord/Pas-de-Calais“ bietet mit Aufsätzen von Klaus Tenfelde und Jean-François Eck Milieustudien der beiden bedeutenden Bergbauregionen. Die Autoren verweisen so abermals auf transnationale Forschungsfragen, die im folgenden Abschnitt „Grenzen transnationaler Solidarität vor 1914“ verdichtet werden. So analysieren Günter Brakelmann den wilhelminischen Kriegsprotestantismus und Marie-Emmanuelle Reytier den französischen Sozialkatholizismus als zwei bedeutende gesellschaftliche Strömungen der Zeit vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Peter Friedemann und Nicolai Hannig untersuchen die medialen Auswirkungen des Unglücks. Während Friedemann auf der Grundlage von deutschen und französischen Presseberichten die Grenzen internationaler Solidarität deutlich herausarbeitet, stellt Hannig das Unglück in den Kontext der internationalen Massenpresse. Vor diesem Hintergrund charakterisiert er die Legende von Courrières als „regional verhaftetes Phänomen“ (S. 173), das letztlich keine größere Wirkmächtigkeit entfaltete.

Gerade diese Legende war es jedoch, die Georg Wilhelm Pabst 1931 zu seinem viel beachteten Film „Kameradschaft“ inspirierte. Diesem Film widmen sich im Schwerpunkt „Rezeption und Funktion“ die Aufsätze von Stefan Przigoda und Rudolf Tschirbs. Während Przigoda die Entstehung und Rezeption des Films beschreibt, analysiert Tschirbs die Unterschiede zwischen der Realität und der filmischen Bearbeitung. Eine interessante Perspektive öffnet der Beitrag von Manfred Hildebrandt. Er schildert anhand der Städtepartnerschaft zwischen Herne und Hénin-Beaumont, deren Ursprung in der Vorbereitung des 50. Jahrestags des Unglücks lag, ein gelungenes Beispiel europäischer Verständigung. Dies scheint jedoch zunächst einer These Barbara Stambolis entgegenzustehen, es gäbe keine „lebendigen Legenden um Courrières als Erinnerungsort deutsch-französischer Verständigung“ (S. 227). Letztlich geht ihre Forderung, sich stärker den „regionalen Erinnerungsorten“ (S. 228) zuzuwenden, aber genau in diese Richtung. Der abschließende Aufsatz von Rainer Slotta über die Denkmäler der Katastrophe von Courrières, die er auch mit deutschen Bergbaudenkmälern in Bezug setzt, zeigt eindrücklich einen möglichen Ansatz zur weiteren Beschäftigung mit transnationalen und regionalen Erinnerungskulturen auf.

Aufgrund ihrer Vielfalt an interdisziplinären Fragestellungen, Perspektiven und Methoden stellen die Beiträge des Symposiums nicht nur eine anregende Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen der Schlagwetterexplosion von Courrières dar. Vielmehr tragen sie dazu bei, derartige Katastrophen innerhalb komplexer systemischer, technischer, gesellschaftlicher und regionaler Strukturen zu begreifen.

Olaf Schmidt-Rutsch, Dortmund


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