ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Farrenkopf, Mythos Kohle. Der Ruhrbergbau in historischen Fotografien aus dem Bergbau-Archiv Bochum, Aschendorff Verlag, Münster 2009, 224 S., geb., 29,80 €.

„Mythos Kohle“ - allein der Titel des Buchs von Michael Farrenkopf lässt Bilder von Industrielandschaften, in den Himmel ragenden Fördergerüsten und rauchenden Kaminen, aber auch von Bergleuten unter Tage und nach der Schicht entstehen. Obwohl diese Erwartungen durchaus erfüllt werden, ist das Buch jedoch keinesfalls eine weitere Aneinanderreihung historischer Fotografien aus dem Steinkohlenbergbau des Ruhrgebiets mit Hang zu unkritisch-romantischer Verklärung vergangener montaner Arbeitswelten.

Michael Farrenkopf, Leiter des montanhistorischen Dokumentationszentrums und des Bergbau-Archivs beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum, steht mit seinem Bildband in einer Tradition des Hauses, die in den 1970er und 1980er Jahren mit den beiden überaus erfolgreichen Bänden „Der Arbeitsplatz des Bergmanns in historischen Bildern und Dokumenten“ von Evelyn Kroker und Gabriele Unverferth begründet wurde. Stand zu diesem Zeitpunkt die dokumentarische Aussage der Bilder im Mittelpunkt des Interesses - entsprechend wurden sie auch dokumentiert (S. 19) - so erweitert Farrenkopf diesen Ansatz um eine theoretische und quellenkritische Perspektive. Die Fokussierung der Bildauswahl auf die eigene Sammlung führt in diesem Zusammenhang gleichzeitig zu einer methodischen Trennschärfe und teilweisen inhaltlichen Neubewertung. Den Ursprüngen des Bergbauarchivs des Deutschen Bergbau-Museums entsprechend, das 1969 als zentrales Wirtschaftsarchiv des deutschen Bergbaus eingerichtet wurde, finden sich in den Beständen zum überwiegenden Teil Auftragsarbeiten industrieller Werksfotografie. Hier setzt Farrenkopf auch den Schwerpunkt seiner einleitenden Ausführungen, mit denen er die Fotobestände des Bergbau-Museums über ihre rein technikgeschichtlich-dokumentarische Bedeutung hinausgehend in Wert setzt.

Ausgehend von einem kurzen Abriss der bergbaulichen Entwicklung des Ruhrgebiets, die mit einer tiefgreifenden Veränderung der Landschaft einherging, stellt der Autor fest, dass dieser Wandlungsprozess den Hintergrund bildete, „vor dem sich die Industriefotografie in Abhängigkeit vom jeweiligen Interesse der Auftraggeber, in spezifischen Bildformen und unter Ausnutzung fototechnischer Möglichkeiten [...] bewegte. Werksfotografie diente dabei vorrangig der Dokumentation und werbenden Darstellung der Firmengeschichte sowie Produktwerbung und war nicht vorrangig für die massenmedial verbreitete Imagewerbung einer Region bestimmt“ (S. 12). Dass sich die ausgewählten Fotografien jedoch ohne Weiteres in das „Image“ des Ruhrbergbaus einfügen lassen, ist nicht zuletzt auf die hohe Qualität der Arbeiten als auch auf die kollektiven Erinnerungen der Region zurückzuführen.

Dies wird im umfangreichen Abbildungsteil deutlich. Die in ausgezeichneter Qualität reproduzierten Bilder, 339 Fotos aus den Beständen des montanhistorischen Dokumentationszentrums, werden fünf Hauptabschnitten zugeordnet: Industrieller Aufbruch im Kaiserreich - Erster Weltkrieg und Weimarer Republik - Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg - Der Ruhrbergbau als Basis des Wiederaufbaus - Kohlenkrise, Stilllegungen und Strukturwandel. Die frühen Fotografien stetig wachsender Bergwerke lassen die enormen Entwicklungsschübe der Bergbauindustrie erahnen. Dies verdeutlichen etwa die zwischen 1880 und 1914 entstandenen Aufnahmen des Bergwerks Oberhausen (S. 26f.). Die Fotografien von Zechen, Kokereien, Fördermaschinen, untertägigen Einrichtungen, Arbeitersiedlungen, Verkehrswegen ergänzen sich zu einem Gesamtbild, das durch den fachkundigen Kommentar der Bildunterschriften nie Gefahr läuft, lediglich einen romantisierenden Mythos zu illustrieren. So hält das Buch letztlich deutlich mehr als der Titel verspricht.

Die Auswahl endet mit den 1960er Jahren und dem Beginn der tiefgreifenden Strukturveränderungen des Steinkohlenbergbaus an der Ruhr. Das Foto der Sprengung eines Fördergerüsts der Gelsenkirchener Zeche Graf Bismarck (S. 211) steht exemplarisch für das Ende einer Epoche und die beginnende - erneute - Transformation der Montanlandschaft. Die Arbeiten von Bernd und Hilla Becher (S. 198f.) verweisen auf den Übergang von der qualitativ anspruchsvollen Werksfotografie zur freien künstlerischen Auseinandersetzung mit den Relikten des Industriezeitalters. So spannt sich der Bogen hier letztlich vom Niedergang einer pulsierenden Industrielandschaft zu den Anfängen der Industriekultur.

Der Anhang enthält neben einem bergbauthematischen orientierten Quellen- und Literaturverzeichnis umfangreiche Bilddaten zu jeder gezeigten Fotografie. Neben Angaben zu den Fotografen findet man Hinweise zum Aufnahmedatum, zur Abzuggröße oder Archivsignatur. Leider fehlen weitere Register. So würde etwa ein Verzeichnis der abgebildeten Zechen oder der Fotografen weitere Zugriffsmöglichkeiten eröffnen.

Abschließend kann festgestellt werden, dass der Veröffentlichung ein bemerkenswerter Spagat zwischen wissenschaftlichem Anspruch und der Befriedigung der durchaus gerechtfertigten Schaulust des Betrachters gelingt. Angesichts der nicht zuletzt im Kontext der Kulturhauptstadt 2010 umfangreichen Fülle von Bildbänden unterschiedlicher Qualität ist die Publikation aufgrund des theoretisch-methodischen Ansatzes und der Bildauswahl in Verbindung mit kurzen, kenntnisreich pointierten Texten ein gelungener Versuch, den „Mythos Ruhrgebiet“ in Szene zu setzen. Damit geht sie über den formulierten Anspruch des Autors, das Werk sei „vorrangig ein Bilder-Buch, das [...] einem mehr und mehr auch im Ruhrrevier selbst verblassenden Mythos des Steinkohlenbergbaus als einstigem Leitsektor der Industrialisierung nachspürt“ (S. 22), weit hinaus. Dementsprechend ist das Buch, wie Farrenkopf bemerkt, nicht die „Fotografiegeschichte zum Ruhrbergbau", aber durchaus ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Olaf Schmidt-Rutsch, Dortmund


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