ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Benjamin Seifert, Träume vom modernen Deutschland. Horst Ehmke, Reimut Jochimsen und die Planung des Politischen in der ersten Regierung Willy Brandts (Göttinger Junge Forschung, Bd. 2), ibidem-Verlag, Stuttgart 2010, 153 S., kart., 24,90 €.

Die Geschichte der politischen Planung in der Bundesrepublik der 1960er Jahre hat in den vergangenen zehn Jahren das große Interesse der zeithistorischen Forschung gefunden. Präsentierte Michael Ruck in einem Aufsatz von 2000 in dem Sammelband „Dynamische Zeiten“ erstmals systematisierende Perspektiven, so haben nach ihm unter anderem Wilfried Süß, Alexander Nützenadel und die Rezensentin das Gebiet gründlich ausgeleuchtet. Benjamin Seifert greift diese Forschungen nun auf in einem schmalen Bändchen der neu etablierten Reihe „Göttinger Junge Forschung", mit der das dortige Institut für Demokratieforschung jüngeren Wissenschaftlern ein Forum zur Präsentation ihrer Arbeiten bieten möchte. Sie sollen hier zeigen, so der Reihenherausgeber in seinem ausführlichen Vorwort, „dass sie die Techniken wissenschaftlichen Arbeitens beherrschen - und gleichzeitig zu farbigen und ausdrucksstarken Formulierungen fähig sind“ (S. 1).

Unter der Überschrift „Zeitgeist“ erläutert Benjamin Seifert, wie sich im Laufe der 1960er Jahre die politische Planung aus der Tabuzone des politischen Diskurses in dessen Zentrum schob. Einflüsse von außen - das Memorandum der EWG-Kommission von 1962 wird auch hier als wichtige Legitimationsressource für die Planer gewertet -, die steigende Anerkennung der Handlungsrelevanz (sozial-)wissenschaftlichen Wissens bis hin zur Durchsetzung des Zauberworts „Rationalität“ im Reden über politische Entscheidungsprozesse führten dazu, dass der „Planungs"-Begriff von den negativen Konnotationen des NS-Plans beziehungsweise der Planwirtschaft staatssozialistischer Prägung befreit wurde und bald als zeitgemäßer Ausdruck zukunftsorientierten und -gestaltenden politischen Handelns galt. Mit Karl Schillers Programm (und Versprechen) der „Globalsteuerung“ der Wirtschaft erreichten planerische Konzeptionen erstmals die Regierungsebene, zeitgleich wurden erste Planungsstäbe - unter anderem in Kiesingers Kanzleramt - installiert.

Vollends ins Zentrum politischen Handelns rückte die Planung dann mit dem Regierungswechsel von 1969. Seifert zeigt am Beispiel seiner beiden Protagonisten, Horst Ehmke, der Chef des Kanzleramts wurde, und Reimut Jochimsen, des Leiters des Planungsstabs im Kanzleramt, wie fest die Assoziation von „Planung“ und „Modernisierung/Modernität des Regierens“ 1969 war. Besonders Jochimsen war von den steuerungspolitischen Phantasien Karl Schillers inspiriert, während Ehmke stärker den für die Umsetzung von Planungsvorhaben notwendigen Umbau der Institutionen, allen voran des Kanzleramts zur modernen Regierungszentrale, im Blick hatte. Beide verband ihre Zugehörigkeit zur „45er"-Generation, beide hatten während des Studiums US-amerikanische Einflüsse in sich aufgenommen und beide teilten überaus optimistische Machbarkeitsvorstellungen, die, so Seifert, über das bloße Ziel der Krisenbewältigung beziehungsweise der Krisenantizipation und -abwehr hinausgingen.

Die Politik der inneren Reformen, die sich das sozial-liberale Kabinett auf seine Fahnen geschrieben hatte, war in den Augen Ehmkes und Jochimsens nur in einer „untrennbaren Einheit“ mit „Planung“ denkbar (S. 74). Entsprechend richtete sich ihr Ehrgeiz darauf, das Kanzleramt und die Ministerien auf die Erfordernisse politischer Planung einzustellen, verkrustete Strukturen aufzubrechen, moderne Verwaltungsmethoden bis hin zu Managementtechniken und elektronischer Datenverarbeitung durchzusetzen. Im ersten Jahr der Regierung Brandt wurde das Frühkoordinierungssystem eingeführt und das Arbeitsprogramm entwickelt, daraufhin richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Formulierung einer langfristigen Aufgabenplanung, die dann, in einem dritten Schritt, in die Bund-Länder-Koordination überführt wurde. Die letzte Phase der Planung im Kanzleramt bis zu den Neuwahlen 1972 bestand darin, „die neuen handlungsleitenden Maximen [der Gesamtproblemanalyse als Orientierungshilfe für zukünftiges Handeln]“ auf das „bis dahin vernachlässigte Arbeitsprogramm“ zu übertragen (S. 133). Insgesamt, so Seiferts Fazit, ließen sich die hochgesteckten Ambitionen von 1969 im Kanzleramt nicht umsetzen, strukturelle, personelle und am Ende auch finanzielle Probleme verhinderten dies.

Wissenschaftlichen Standards entspricht Seiferts Bändchen ohne Zweifel, „farbige Formulierungen“ sind indes eher nicht seine Stärke. Stattdessen referiert er im Wesentlichen den Stand der Forschung, ein eigenständiges Profil oder Ansätze einer Neubewertung der Planungsgeschichte sind schwer zu erkennen. Im Großen und Ganzen wird die Arbeit ganz vom Duktus einer studentischen Abschlussarbeit bestimmt. Die Chance etwa, aus einer sorgfältigen Auswertung des Nachlasses das Profil von Reimut Jochimsen gegenüber Horst Ehmke weiter zu schärfen, hat Seifert nicht genutzt. Über die Befunde der eingangs genannten Forschungsarbeiten geht seine Studie an keiner Stelle hinaus, in mancher Hinsicht bleibt sie eher dahinter zurück (was beispielsweise internationale Einflüsse betrifft). Wenn sie nur diese Form erreicht, sieht die „junge Forschung“ ganz schön alt aus.

Gabriele Metzler, Berlin


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 14. März 2011