ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Carsten Dutt (Hrsg.), Die Schuldfrage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit, Manutius Verlag, Heidelberg 2010, 247 S., brosch., 34,00 €.

Auch wenn die Geschichtswissenschaft immer neue Details über die einstige Nähe von gesellschaftlichen Teilbereichen, Institutionen, Gruppen und Einzelpersonen zum Nationalsozialismus und seinen Menschheitsverbrechen zutage fördert, erhitzt die Frage der deutschen Schuld heute kaum mehr die Gemüter. Der zeitliche Abstand und das mit ihm einhergehende Verschwinden der Tätergeneration haben dazu geführt, dass der umstrittene Schuldbegriff in der Öffentlichkeit hinter die ubiquitäre Rede von einer besonderen deutschen Verantwortung zurückgetreten ist. In der Zeitgeschichtsforschung hat sich währenddessen im Anschluss an die Erkenntnis, dass ein Kollektivschuldvorwurf nach dem Krieg von alliierter Seite nie offiziell erhoben wurde, die These festgesetzt, er sei aus entlastungsstrategischem Kalkül heraus überhaupt erst von den Deutschen selbst erfunden worden. (1) Hieran lassen sich indessen berechtige Zweifel anmelden. (1)

Auch Carsten Dutt wendet sich in seinem Vorwort zum vorliegenden Band dagegen, aus der Nichtexistenz einer offiziellen Verlautbarung zu folgern, es seien keinerlei Vorwürfe in jene Richtung vertreten worden. (Gedruckte Äußerungen etwa von prominenten Emigranten, verbreitete Plakataktionen oder Pflichtbesuche in Konzentrationslagern lassen es in der Tat als begründet erscheinen, dass die Kollektivschuldthese unmittelbar nach dem Krieg auf die Deutschen zukam.) Zudem hätten den „Versuchen zur Eskamotierung oder Depotenzierung der Schuldfrage“ seinerzeit in „beachtlicher Anzahl Anstrengungen zu ihrer begrifflichen und empirischen Durchdringung“ gegenübergestanden, die es erst noch zu untersuchen gelte: „Das Spektrum der einschlägigen Texte, zu denen neben expositorischen auch literarische zählen, harrt einer differenzierten Vermessung“ (S. 10).

Der Anspruch, diese Aufgabe erfüllt zu haben, wäre für die zwölf hier versammelten Beiträge aus dem erweiterten Umfeld der Heidelberger Germanistik und Philosophie zu hoch gegriffen. Eher lose zusammengefügt als auf eine übergreifende Fragestellung hin konzipiert, versucht der Band gar nicht erst, forschungspragmatisch über seine Herkunft aus einer universitären Vortragsreihe hinauszuwachsen. Dennoch: Die zum Teil sehr lesenswerten Aufsätze entwerfen ein erhellendes Panorama des intellektuellen Schulddiskurses der unmittelbaren Nachkriegszeit, das auch einer alten Debatte noch neue Akzente zu verleihen vermag.

So arbeitet Reinhard Laube in seinem prägnanten Beitrag über Dolf Sternberger heraus, dass dessen in der Pflicht zum genauen Eingedenken der NS-Verbrechen und ihrer Vorgeschichte zentrierte „Erinnerungsmoral“ „nichts weniger als die Umkehr einer durch Nietzsche geprägten Unterordnung der Erinnerung unter das ‚Leben`, wie sie für die deutsche Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts auf fatale Weise prägend war", geleistet habe (S. 136) und mit Sternbergers normativem Rückgriff auf „verschüttete Konzepte von Bürgerlichkeit und bürgerliche Öffentlichkeit“ in unauflöslichem Zusammenhang stand (S. 140). Von dieser Einsicht könnte auch der gegenwärtige Bürgerlichkeitsdiskurs profitieren, der sich nicht selten in der Beschwörung verloren geglaubter Lebensformen und vermeintlich zeitunabhängiger Topoi aus der neuaristotelischen Mottenkiste zu erschöpfen droht. Dies gilt zumal, wenn man sich - wie Martin Tavakolian es zu Beginn seiner subtilen philosophischen Begriffsanalyse tut - vor Augen führt, dass da, wo der „inkriminierte Begriff der Kollektivschuld“ gemieden wird, der Grund der in offiziellen politischen Stellungnahmen „beschworenen gemeinsamen Verantwortung“ umso dunkler erscheinen muss (S. 68).

Als horizonterweiternd für die zeithistorische Diskussion um die Schuldfrage erweisen sich nicht zuletzt die Beiträge aus der Literaturwissenschaft. Während der Tübinger Germanist Jürgen Schröder in seiner Untersuchung der frühen deutschen Nachkriegslyrik zu dem ernüchternden Befund kommt, dass die Zeit, „eine neue, eine andere poetische Sprache angesichts der ungeheuren Verbrechen des Hitler-Regimes zu finden und zu sprechen", noch nicht gekommen war (S. 164), zeigt sein Heidelberger Kollege Carsten Dutt anhand von Elisabeth Langgässers 1947 erschienener Prosasammlung „Der Torso", dass dergleichen damals durchaus möglich war: „Langgässers Kurzgeschichten provozieren Fragen nach Schuld, ohne sie ausdrücklich zu stellen, geschweige denn selbst zu beantworten, und just dadurch machen sie den Leser zum eindringlich Befragten“ (S. 171). Die heute außerhalb von Fachkreisen nahezu vergessene Schriftstellerin nimmt freilich eine „singuläre Sonderstellung unter den einschlägigen Publikationen der Nachkriegszeit ein“ (S. 184) - auch indem sie in ihren Texten die Verstrickung der deutschen Zivilbevölkerung in die Judenverfolgung explizit zum Thema machte. Ganz im Schneckenhaus des Impliziten verharrte demgegenüber Ernst Jünger, dessen Umgang mit der Schuldfrage Helmuth Kiesel würdigt. Kiesels Aufsatz verdeutlicht, dass die von Jünger bereits seit 1939 („Auf den Marmorklippen") entwickelte Vorstellung einer „kulturellen Schuld“ einerseits gar nicht so weit von der einer „Kollektivschuld“ entfernt war und in ihrer modernitätskritischen Grundierung die späteren Positionen von Zygmunt Bauman und anderen vorwegnahm, andererseits aber doch der spezifischen Schuld der Deutschen aus dem Wege ging.

Gegenüber Jünger, der mit seiner „kulturellen Schuld“ dem in rechtskonservativen Kreisen gängigen Diskurs der Technik- und Fortschrittskritik verhaftet blieb und sich dabei durch die Fixierung auf strukturelle Bedingungszusammenhänge gleichsam aus der individuellen Verantwortung stahl, erscheinen die ethischen Implikationen von Karl Jaspers inzwischen klassischem Traktat über „Die Schuldfrage“ in der Lesart von Dominic Kaegi als sehr viel weiterführender. Angesichts der „grundsätzlichen Unzulänglichkeit des moralisch Gebotenen“ erkennt Kaegi in Jaspers Konzept einer über moralische, politische und kriminelle Schuld hinausgehenden metaphysischen Schuld ein nicht zeitgebundenes Bewusstseinskorrektiv: „Es gibt ein Niveau der Rechtfertigung - Kant spricht von ‚Selbstzufriedenheit‘ -, auf dem das ‚Ich habe getan, was ich sollte‘ dem ‚Ich habe getan, was ich konnte‘ gleichkommt. Daß beides nicht von Schuld entlastet, darin besteht die Moral der metaphysischen Schuld“ (S. 113). So gesehen, führt die „Schuldfrage“ weit über die geistige Situation der deutschen Nachkriegszeit hinaus.

Jan Eike Dunkhase, Berlin

Fußnoten:


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