ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Andreas Wirsching (Hrsg.), Das Jahr 1933. Die nationalsozialistische Machteroberung und die deutsche Gesellschaft (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 9), Wallstein Verlag, Göttingen 2009, 284 S., kart., 20,00 €.

Als am Abend des 30. Januar 1933 SA-Kolonnen im Fackelmarsch durch Berlin zogen, um dem neu ins Amt berufenen Reichskanzler Adolf Hitler ihre Aufwartung zu machen, war dies das erste Fanal, das den ‚deutschen Sündenfall‘ ankündigte. Dieser martialische Auftakt wies hin auf das, was sich in den nächsten Wochen und Monaten ereignen und die deutsche politische Landschaft radikal verändern sollte: politischer Terror, Unterdrückung, Verfolgung, die Einrichtung von Konzentrationslagern sowie die Unterhöhlung der Verfassung durch Reichstagsbrandverordnung, ‚Ermächtigungsgesetz‘ und Gleichschaltung. Im Jahr 1933 etablierte und verwurzelte sich die NSDAP-Diktatur politisch und gesellschaftlich, und seit ihrem Ende zwölf Jahre später ist es eine der zentralen historischen Forschungsfragen, wie es dazu kommen konnte.

Somit ist das Jahr 1933 ein Gegenstand der klassischen zeithistorischen Forschung, an den das 9. Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte am 11./12. Oktober 2008, ausgehend von älteren Forschungsergebnissen, anknüpfte. Die Beiträge des Symposiums wurden im hier vorzustellenden Sammelband veröffentlicht und um weitere Aufsätze ergänzt. Das Ziel des Buchs fasst der Herausgeber Andreas Wirsching wie folgt zusammen: Der Band fragt „nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung der nationalsozialistischen Machtübernahme, nach der gesellschaftlich-kulturellen Verankerung des Nationalsozialismus und nach der Interaktion zwischen dem sich etablierenden Regime und der sich neu formierenden - und neu geformten - Gesellschaft“ (S. 10).

Wirsching faltet den ‚Machtergreifungsprozess‘ in fünf gesellschaftlich-kulturelle und politische Dimensionen auf, die in den Beiträgen widergespiegelt werden: Charisma, Gewalt, die funktionale und bürokratische Dimension sowie die Indifferenz der Bevölkerung. Anhand dieses theoretischen Konzepts werden die Machtübernahme und anschließende politische Durchsetzung gesellschaftshistorisch hergeleitet. Vier Fragekomplexe sollen die integrierende Dynamik dieses Prozesses sichtbar machen, wie im Folgenden gezeigt wird.

Den ersten Schwerpunkt des Bandes bildet das Thema „Gesellschaftsgeschichtliche Dimensionen der Machtergreifung“ mit Beiträgen von Andreas Wirsching („Die deutsche ‚Mehrheitsgesellschaf‘ und die Etablierung des NS-Regimes im Jahre 1933") und Ulrike Haerendel („Frauen, Männer und die ‚Machtergreifung‘ - Beobachtungen aus der Geschlechterperspektive"). Während Wirsching in seinem Aufsatz entlang des Forschungsstands gekonnt die Fragestellung und die Untersuchungsdimensionen aufreißt, beschreibt Ulrike Haerendel das besondere Verhältnis zum Nationalsozialismus, das Frauen aufgrund der nationalsozialistischen Haltung zu den Geschlechterrollen vor und nach der Machtübernahme hatten. Zwar wurden sie ideologisch in ihren Handlungsfeldern beschränkt, übernahmen in diesen nichtsdestoweniger aber auch das Regime stützende Funktionen.

Das zweite Kapitel betrachtet mit Beiträgen von Wolfram Pyta („Geteiltes Charisma. Hindenburg, Hitler und die deutsche Gesellschaft im Jahre 1933"), Martina Steber („,...dass der Partei nicht nur äußere, sondern auch innere Gefahren drohen`. Die Bayerische Volkspartei im Jahr 1933"), Susanne Wanninger („Nationalsozialistische Pläne zur Regierungsbildung in Bayern. Eine Denkschrift von Rudolf Buttmann vom März 1933") und Joachim Scholtyseck („Die deutschen Eliten 1933: War Widerstand möglich?") „Politiker, Parteien, Eliten".

Pyta untersucht in seinem lesenswerten Aufsatz die Herrschaft der beiden Charismatiker Hitler und Hindenburg, wobei der Erstere in seinem ersten Regierungsjahr enorm an politischem Prestige gewann und durch symbolträchtiges politisches Handeln innerhalb seines Netzwerks schnell ein Profil entwickelte, das sich von jenem des Reichspräsidenten abhob und es überstrahlte. Martina Steber analysiert den Erosionsprozess der noch zu Jahresbeginn 1933 vor Kraft strotzenden Bayerischen Volkspartei (BVP) bis zu ihrer Selbstauflösung im Sommer desselben Jahres. Sie identifiziert die strukturellen Ursachen für die Selbstauflösung im „Zangengriff" von Reich und Region, in dem sich die BVP befand. Durch ihre alten, sie im Handeln lähmenden Strukturen und dem hieraus resultierenden Unvermögen der Partei, angesichts der neuen Machtverhältnisse nach dem 30. Januar 1933 erfolgreiche Handlungsstrategien zu entwickeln, scheiterte sie. Der Aufsatz von Susanne Wanniger stützt sich auf eine Denkschrift Rudolf Buttmanns (1885-1947), des NSDAP-Fraktionsvorsitzenden im Bayerischen Landtag, die dieser ausgearbeitet hatte, um Hitler auf seine Verhandlungen mit der BVP zur Bildung einer Koalition im März 1933 vorzubereiten. Sie zeigt anhand des tatsächlichen Verhandlungsverlaufs deutlich, dass es innerhalb der NSDAP unterschiedliche Auffassungen über den Weg zur Machtdurchsetzung gab und Hitler auch bedeutende Landespolitiker seiner Partei nicht in seine Überlegungen und sein Handeln einbezog. Scholtyseck geht den bürgerlichen Eliten und ihren Möglichkeiten des Widerstands im Jahr 1933 nach. Er betrachtet Kirche, Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Justiz. Für die Eliten in diesen Bereichen stellt er eine jeweils eigene Motivationsgemengelage für Nichthandeln fest, die sich zusammensetzte aus mangelndem Oppositionsgeist, zum Teil Begeisterung für die „nationale Revolution“ und die neue staatliche Autorität und Ordnung, Achtung gegenüber der entscheidungsfreudig wirkenden NS-Regierung sowie „tiefgreifende Orientierungs- und Sprachlosigkeit“ angesichts der raschen Machtdurchsetzung der NSDAP.

Das Kapitel „Repression und Terror“ vereinigt Beiträge von Dirk Schumann („Gewalt als Methode der nationalsozialistischen Machteroberung"), Robert Sigel („Das KZ Dachau und die Konstituierung eines rechtsfreien Raums als Ausgangspunkt des nationalsozialistischen Terrorsystems") und Ludwig Eiber („Gewalt im KZ Dachau. Von Anfang eines Terrorsystems").

Schumann blickt vor allem auf die SA als Trägerin nationalsozialistisch motivierter Gewalt. Letztere gliedert er in verschiedene Arten: „kalkulierte“ Gewalt, von der SA-Basis selbst ausgehende, demnach „eigensinnige“ Gewalt sowie vom Bürgertum „akzeptierte“ Gewalt. Von diesen Spielarten unterscheidet sich tendenziell die vor der Machtübernahme durch die NSDAP und ihre Verbände ausgeübte Gewalt, die trotz der beachtlichen Opferzahlen in ihrem Kern auf Einschüchterung abzielte. Nach dem 30. Januar 1933 entwickelte das NS-Regime seine Gewaltanwendung bis zur Zerschlagung der politischen Gegner phasenweise weiter, bis Hitler im Sommer 1933 die „Revolution“ und damit die „eigensinnige“ Gewalt stoppte und mit der permanenten Einrichtung der Konzentrationslager systematisierte.

Dem auch während des ‚Dritten Reichs‘ bekanntesten Konzentrationslager, dem KZ Dachau, widmet sich der Beitrag von Sigel. Er stellt Dachau als Weiterentwicklung der frühen Konzentrationslager, der sogenannten Wilden Lager dar, und damit als Etablierung einer systematisierten staatlichen Gewalt- und Terroranwendung, die auch in der zeitgenössischen Presse und damit in der Öffentlichkeit ihren Widerhall fand. Durch staatsanwaltliche Ermittlungen nach ersten Todesfällen im Frühjahr 1933 in Dachau initiiert, entwickelte die Lagerleitung eine Lagerordnung, die Dachau zum Musterlager für das, spätestens nach der Ermordung der SA-Spitze um Ernst Röhm, nun fest in der Hand der SS liegende KZ-System machte.

Eiber lokalisiert das KZ Dachau in der deutschen Lagergeschichte, aber auch innerhalb der besonderen politischen Verhältnisse im bayerischen Freistaat des Jahres 1933. Dabei arbeitet er sorgfältig die besonderen Unterstellungsverhältnisse im Zusammenspiel zwischen staatlichen und NSDAP-Institutionen heraus und beschreibt das KZ Dachau anhand von Beispielen der Gewaltanwendung als „Laboratorium für Formen der Gewalt".

Den Abschluss des Bandes bildet der Themenkomplex „Ambition und Interesse“ mit Beiträgen von Frank Bajohr („Ämter, Pfründe, Korruption. Materielle Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung"), German Penzholz („Die bayerischen Bezirksämter und die nationalsozialistische Machtübernahme"), Caris-Petra Heidel („Ärzte und Zahnärzte im Jahr 1933 - Bedingungen und Formen ihrer Teilhabe am NS-Regime") und Jürgen Finger („Konkurrenzkampf und Richtungsstreit im Prozess der ‚Gleichschaltung`. Der Nationalsozialistische Lehrerbund in Bayern 1933/34").

Bajohr zeichnet in seinem Beitrag die personellen Bindungen der NS-Funktionäre zu Hitler und deren cliquenähnliche Netzwerkstrukturen nach, um an diesen die Mechanismen von Korruption und Versorgungsmentalität - „Ämterjagd und Pfründenwirtschaft“ - aufzuzeigen. Dabei skizziert er die strukturellen Veränderungen nach der Machtübernahme, führt anschaulich typische Beispiele und die schnell entstehende Konkurrenz zwischen alten und neuen Parteigängern an und erweitert diese Betrachtungen mit den nach anfänglicher Kritik rasch in Gleichgültigkeit umschlagenden Reaktionen der Öffentlichkeit.

Penzholz analysiert in seinem Beitrag zur Machtübernahme in den Bayerischen Bezirksämtern die Bedeutung der guten Beziehungen zur (lokalen) Verwaltung, welche die NSDAP rasch erkannt hatte, als „Ziel und Katalysator“ der nationalsozialistischen ‚Machtergreifung`. Unter Berücksichtigung der Zeit vor 1933, in der nicht selten ein angespanntes und distanziertes Verhältnis zwischen den jeweiligen Kreisleitern der NSDAP und den bayerischen Bezirksamtsvorständen begründet lag, konstatiert er für die Bezirksämter ein hohes Maß an Kontinuität hinsichtlich des Personals und des Verwaltungshandelns. Gleichzeitig radikalisierte sich die Haltung leitender juristischer Beamter innerhalb der Verwaltungen, die den politischen Willen der NSDAP mit Überwachung, Verfolgung, ‚Arisierung‘ und Deportation der jüdischen Bevölkerung in ihren Bezirken durchsetzten.

Caris-Petra Heidel beschreibt die Ärzteschaft im Nationalsozialismus, gestützt auf statistisches Material, als elitäre, bildungsbürgerliche Berufsgruppe, die einen hohen politischen Organisationsgrad aufwies. Sie leitet her, dass die zu konstatierende Nähe zum Nationalsozialismus aus ökonomischen, berufsständischen, aber auch aus von der eigenen sozialen Stellung abgeleiteten moralischen Motiven resultierte. Das neue Regime als Chance begreifend, stellten sich die ärztlichen Selbstverwaltungsorgane in den staatlichen Dienst und unterstützten den Umbau des Gesundheitswesens im NS-Sinne.

Einer berufsständischen Vertretung widmet sich Finger mit seinem Aufsatz zum Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB). Er stellt dar, wie sich der NSLB bis 1934 im Prozess der Gleichschaltung gegen seine Konkurrenzverbände durchsetzte, und untersucht hierbei verschiedene Konkurrenzsituationen: erstens, die regionaler Schwerpunkte im NSLB; zweitens, die Konkurrenz um einzelne Tätigkeitsfelder; drittens, die zu gleichgeschalteten alten Verbänden und viertens, die Konkurrenz um Organisationsformen und Funktionen des Lehrerbunds. Dabei beleuchtet Finger als Einziger der Autorinnen und Autoren alle von Wirsching umrissenen fünf Dimensionen der nationalsozialistischen Machtdurchsetzung.

Aufgrund der Konzeption und der Themenauswahl kann der hier besprochene Band als gelungen bezeichnet werden. Die intendierte Variation in der Betrachtungsschärfe auf unterschiedlichen gesellschaftlich-politischen Untersuchungsebenen erlaubt es in der Tat, die Dynamik des Jahres 1933 auf verschiedene Art und Weise nachzuvollziehen und eine Vorstellung von der Handlungsbreite der Akteure zu gewinnen. Letztlich beschreibt der Sammelband vielfältig die Verschiebung des „Referenzrahmens“ (Harald Welzer) und damit der Reflexionsränder menschlichen Handelns im ‚Dritten Reich`.

Kritisiert werden muss, dass es leider versäumt worden ist, die Ergebnisse der Beiträge zu den vier Untersuchungsfeldern und den von Wirsching aufgeworfenen fünf Dimensionen der nationalsozialistischen Machtdurchsetzung in einem resümierenden Text zusammenzuführen und diese Gelegenheit zu nutzen, um Reflexionen über die Konzeption der Fragestellungen beziehungsweise des Bandes anzustellen. Hier wird der Leser alleingelassen. Diese in früheren Sammelbänden noch selbstverständliche Form der Gesamtschau ist in neuen Publikationen dieser Art bedauerlicherweise immer seltener zu finden, was vielleicht auch dem immer größer werdenden Publikationsdruck geschuldet ist, der ein Innehalten beim Abschluss von Publikationsprojekten kaum noch zulässt. Angesichts der erhellenden Hinführung zu Untersuchungsgegenstand und -perspektiven durch den Herausgeber hätte ein Resümee den Band abgerundet.

René Rohrkamp, Aachen


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 14. März 2011