ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Mathias Albert/Gesa Bluhm/Jan Helmig u.a. (Hrsg.), Transnational Political Spaces. Agents - Structures - Encounters (Historische Politikforschung, Bd. 18), Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2009, 321 S., kart., 29,90 €.

Die Aufforderung, transnationale Perspektiven zu stärken, ist seit einigen Jahren allgegenwärtig. Dabei dominieren in der deutschen Geschichtswissenschaft bisher theoretische und methodische Debatten, während die Zahl empirischer Arbeiten erst allmählich zunimmt. (1) Der interdisziplinäre Sammelband „Transnational Political Spaces“ ist an eben dieser Schnittstelle zwischen Theorie und Empirie angesiedelt. Im Zentrum stehen die Fragen nach der Entstehung, Gestaltung und Erforschung transnationaler politischer Räume. Dabei geht es den Herausgebern, die dem Bielefelder Sonderforschungsbereich „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ beziehungsweise dem dortigen Institut für Weltgesellschaft angehören, nicht um transnationale Beziehungen im Allgemeinen, sondern um Transnationalität, wie sie Hartmut Kaelble definiert hat: Untersucht werden semantische Konstruktionen von Sinnhorizonten und Zugehörigkeitsgefühlen, mithin also kommunikative und symbolische Dimensionen transnationaler politischer Räume. Raum, so wird betont, ist dabei nicht territorial zu verstehen, sondern als soziales und kommunikatives Konstrukt.

Auf die Einleitung, in der die Herausgeber ihren Ansatz in die interdisziplinären Debatten um Globalgeschichte, Weltgeschichte, internationale Beziehungen und den spatial turn einordnen, folgen drei Sektionen zu den Akteuren und Strukturen transnationaler politischer Räume sowie zu den methodischen Implikationen des transnationalen Ansatzes. Christopher Chase-Dunn und Richard Niemeyer beschäftigen sich in ihrem Beitrag, der teilweise appellative Züge aufweist, mit transnationalen sozialen Bewegungen, die der Entwicklung hin zu einer globalen Staatlichkeit Vorschub leisten. Diese Dynamik, so ihre Prognose, wird zu einer noch nicht näher bestimmbaren „world state formation“ (S. 53) führen, mit der die Vorherrschaft von Hegemonialmächten wie den USA enden wird. Wie Staaten einem Bedeutungsverlust von Nationalstaatlichkeit begegnen, erläutert Melissa Aronczyk in ihrem Beitrag über „nation branding“ als Form der Identitätspolitik in einer globalisierten Welt. Sie kann die damit verbundenen Erwartungen und Strategien und auch Grenzen zeigen, doch die angesprochene kommunikative Seite von branding-Prozessen (etwa S. 120, 133) bleibt unklar. Ein Fallbeispiel wäre hier zum bessern Verständnis hilfreich gewesen. Elisa Féron und Brigitte Beauzamy ziehen ein solches Fallbeispiel heran, um zu untersuchen, wie „community conflicts“ internationale und transnationale Dimensionen erreichen können, nämlich den Nordirland-Konflikt. Sie liefern eine Typologie, welche Faktoren und Strategien transnationale Solidarität fördern oder hemmen, und verweisen insbesondere auf den Erfolg sozialer Netzwerke, denen es gelingt, potenzielle Unterstützer auf der emotionalen Ebene anzusprechen.

Leider bleiben die Akteure ausgerechnet in der ersten Sektion, die ihnen besondere Aufmerksamkeit widmet, teilweise recht blass: Sie werden benannt und typologisiert, aber kaum „in Aktion“ gezeigt - auch Féron und Beauzamy belassen es bei gelegentlichen Verweisen auf den nordirischen Fall, ohne diesen näher auszuführen. Stärker akteursbezogen ist hingegen der vierte Beitrag dieser Sektion. Isabella Löhr untersucht, wie in der Zwischenkriegszeit weltweit gültige Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums etabliert wurden, mit der die Institutionalisierung transnationaler Kooperationen auf diesem Gebiet einherging. Sie zeigt auf diese Weise, wie transnationale Kontakte auch in einer Zeit wachsen konnten, die meist als Phase abnehmender transnationaler und globaler Verflechtung gilt.

Die zweite Sektion behandelt transnationale politische Räume als Orte des Kontakts und des Ideenaustauschs. Vorgestellt werden konkrete Orte wie die Weltausstellungen des späten 19. Jahrhunderts (Wolfram Kaiser und Klaus Dittrich), die als Katalysatoren des Politiktransfers im Sozialbereich gezeigt werden, und durch Städtepartnerschaften miteinander verbundene Gemeinden (Andreas Langenohl), über die Vorstellungen und Identitäten von „Europa“ generiert und transportiert wurden. In diesen Teil fallen aber auch Kommunikationssysteme wie das der globalisierten Finanzwelt (Oliver Kessler) oder die staatliche Förderung der Heimatverbundenheit unter italienischen Emigranten zwischen 1870 und 1920 (Mark I. Choate). Gerade letzteres Beispiel zeigt anschaulich den Prozess aktiver Herstellung transnationaler Kommunikationsräume: Wollte der italienische Staat verhindern, dass seine Emigranten mit der Gesellschaft des Einwanderungslandes verschmolzen und als Repräsentanten Italiens verloren gingen, musste er Kanäle etablieren und eine gemeinsame italienische Sprache fördern, über die Italiener im Ausland an ihre Wurzeln erinnert wurden - und zwar so, dass dies für die Ausgewanderten auch attraktiv war. „Italien“ war in dieser Perspektive deutlich größer als sein Staatsgebiet.

Die dritte Sektion widmet sich noch einmal ganz dezidiert theoretischen Fragen. Besondere Beachtung erfährt die Begriffsgeschichte. Jani Marjanen plädiert für eine Untersuchung der grenzüberschreitenden „Wanderung“ von Begriffen, die den Ansatz der histoire croisée nach Michael Werner und Benedicte Zimmermann nutzt, also die Kombination von Transfer- und Vergleichsforschung betont. Marjanen gelingt es gut, das Potenzial einer solchen Begriffsgeschichte aufzuzeigen. Wie auch einige andere Beiträge des Bandes neigt der Text jedoch zu Redundanzen, vielen Zitaten und einer unnötig komplizierten Sprache. Hayo Siemsen begreift die Geschichtswissenschaft unter Bezugnahme auf naturwissenschaftliche und begriffsgeschichtliche Theorien als kognitives Wurmloch (S. 286), die mithilfe von Metaphern und Analogien Brücken zwischen vorher unverbundenen Gegenständen schlagen und transnationales Lernen ermöglichen kann. Knut Martin Stünkel schließlich verweist mit Bezug auf Eugen Rosenstock-Huessy auf die temporale und transzendente Dimension von „Nation“ als einem organisierenden Prinzip. Aus dieser Perspektive werden Nationalstaaten zum folgerichtigen und unabdingbaren Ausgangspunkt transnationaler Geschichte.

Insbesondere die Beiträge der dritten Sektion offenbaren die theoretisch-methodischen Ambitionen, aber auch eine Schwäche des Bandes. Die Beiträge sind inspirierend und ambitioniert, müssen aber häufig einen langen theoretischen Anlauf nehmen, bevor sie - teilweise dann leider nur sehr knapp - auf die Bedeutung ihres Ansatzes für die Leitfrage nach transnationalen politischen Räumen zu sprechen kommen. Bis die Gedankengebäude Rosenstock-Huessys, Ernst Machs oder anderer Theoretiker erläutert sind, bleibt meist nur wenig Platz für eigene Überlegungen der Autoren und eine engere Verzahnung mit Fragen nach Transnationalität. So besteht teils eine gewisse Fallhöhe zwischen den elaborierten Präsentationen solcher Konzepte und den Schlussfolgerungen, die im Bezug auf Transnationalität gezogen werden.

Gleichzeitig muss betont werden, dass der Band eine Fülle an interessanten Fragen, Konzepten und Fallbeispielen präsentiert. Die Fokussierung auf transnationale politische Räume und Kommunikationsprozesse erweist sich als gut geeignetes Organisationsprinzip für einen solchen Sammelband und ermöglicht Untersuchungen auf verschiedenen Ebenen. Das Potenzial transnationaler Perspektiven wird nicht nur aufgezeigt, sondern in vielen Beiträgen auch genutzt.

Reinhild Kreis, Augsburg

Fußnoten:


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