ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

John Darwin, The Empire Project. The Rise and Fall of the British World-System, 1830-1970, Cambridge University Press, Cambridge/New York 2009, XIII + 800 S., geb., 25,00 £.

John Darwin war seiner Zeit voraus. Als er 1988 eine Studie über „Britain and Decolonization“ veröffentlichte, wurde die Geschichte der europäischen Imperien bestenfalls auf Sparflamme gekocht, in der Regel aber gänzlich ignoriert. Die ideologisch zugespitzten Dauerkontroversen über die Entwicklungspolitik in den 1970er und 1980er Jahren haben ihren Teil dazu beigetragen, dass auch das akademische Interesse am Kolonialismus und dessen Abwicklung allmählich einschlief. Und als dann 1989 unversehens die Geschichte Mittel- und Osteuropas ihre Schleusentore öffnete, wurden die historischen Disziplinen mit einer solchen Fülle an Themen überflutet, dass an eine Renaissance der Empireforschung nicht zu denken war. Allerdings wendete sich Mitte der 1990er Jahre das Blatt, als der Diskurs über die Globalisierung deren vermeintliche Einzigartigkeit auf den Prüfstand stellte und das imperiale Ausgreifen der Europäer im 19. Jahrhundert ebenso ins Visier nahm wie den „Disimperialism“ nach 1945. Zwei Jahrzehnte nach seiner wegweisenden Publikation zieht Darwin nun die Summe der seither geleisteten Forschung über das Britische Empire. Und wie bereits 1988 besticht die souveräne Manier, mit der er verschiedene Entwicklungsstränge miteinander verknüpft und zugleich Schneisen ins Dickicht einer mittlerweile kaum mehr zu überblickenden Forschungslandschaft schlägt.

Darwin konzeptualisiert das britische Imperium als Weltsystem, das aus dem Mutterland, Indien, der „commercial republic", und den Siedlungskolonien bestand. Um dem „chaotic pluralism“ (S. 3) imperialer Interessen Herr zu werden, mussten drei Voraussetzungen gegeben sein: ein passives Ostasien, das Gleichgewicht der Mächte in Europa und benevolente Vereinigte Staaten. Im viktorianischen Zeitalter waren diese Bedingungen erfüllt, so dass sich die Verantwortlichen in London weitgehend damit begnügen konnten, den Freihandel zu fördern, den technologischen Fortschritt zugunsten der britischen Marine einzuspannen und ansonsten wohlwollend den evangelikalen Impetus zu beobachten, der die imperiale Mission legitimieren half. Der „new imperialism of partition“ (S. 69) im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts indes zwang Großbritannien, seine globalen Interessen exakter zu definieren und den politischen Massenmarkt daheim verstärkt in seine Überlegungen einzubeziehen. Bis 1914 gelang es London vor allem dank seiner überragenden Stellung im rapide expandierenden Welthandel, den „imperialism of coexistence“ (S. 109) nach britischen Vorgaben zu orchestrieren. Der Erste Weltkrieg brachte das britische Weltsystem, das seine Stärke und Langlebigkeit aus der komplementären Verschränkung seiner Bestandteile bezog, an den Rand einer Niederlage. Und auch der Sieg über die Mittelmächte, der das Empire territorial weiter wachsen ließ, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Weltsystem nach 1918 stärker exogenen Schocks ausgesetzt war, während gleichzeitig die Londoner City introvertierter wurde. Die 1920er Jahre sahen den langsamen Aufstieg der vorübergehend geschwächten Staaten und fungierten daher als „prelude to a revolutionary age“ (S. 478), das das Empire schließlich in die Knie zwang.

Dass Großbritannien so lange an seiner exzeptionellen Stellung in der Welt festzuhalten vermochte, führt Darwin auf die besondere Rolle der Dominions zurück, die von Teilen der Forschung - zumal im Vergleich zur Bedeutung Indiens als militärischem Reservoir - eher gering eingeschätzt wird. Darwin zeichnet mit großer Präzision den Beitrag der Dominions zur britischen Kriegsführung ab 1914 beziehungsweise 1939 nach und hebt zudem die moralisch-legitimatorische Funktion „kleiner Britanniens“ in Übersee hervor. Vor allem Neuseeland und Australien demonstrierten ihre fast bedingungslose Verbundenheit mit dem Mutterland freilich nicht zuletzt um ihrer ethnischen Homogenität willen. Risse im Weltsystem manifestierten sich unterdessen einerseits in Indien, wo die Sprengkraft des Nationalismus die „platonic guardians of the peasant mass“ (S. 189) in die Schranken wies. Andererseits wirkten die Versuche, die kolonialen Mündel in den afrikanischen Territorien mithilfe erfundener Traditionen in ihrem Status quo zu fixieren, zusehends uninspiriert. Und das Fehlen eines Masterplans, der die überragenden strategischen Interessen Großbritanniens im Nahen Osten mit den nationalen Ambitionen der Menschen vor Ort verknüpft hätte, hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, der im Prinzip bis heute anhält.

Auch wenn Darwin die in der britischen Historiografie mit großer Hingabe diskutierte Problematik des „decline“ als eher randständig erachtet, zeigte sich nach 1939, dass der Sterlingblock die finanziellen Schockwellen eines weiteren Weltkriegs nur noch unzureichend abzufedern in der Lage war. Und als sich das bis dato global wenig agile Ostasien in einen „uncontrollable vortex of anti-Western imperialism“ (S. 513) verwandelte und Großbritannien 1942 in Singapur die Waffen vor den japanischen Aggressoren strecken musste, schlug die Stunde zweier neuer Supermächte. Für einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sah es zunächst so aus, als könnte sich das Empire als dritte Großmacht neben den USA und der Sowjetunion etablieren. Eilends aus dem Boden gestampfte Pläne für die nachholende Entwicklung in den tropischen Kolonien erschienen obendrein als „perfect combination of profit and virtue“ (S. 529). Doch nicht nur kamen diese Bemühungen zu spät: Die nationalistischen Bewegungen in den Kolonien befeuerten sich wechselseitig, während die Verantwortlichen in London mühsam das britische Pfund zu stabilisieren trachteten. Als Großbritannien gemeinsam mit Frankreich und Israel 1956 dem ägyptischen Präsidenten Nasser eine Lektion erteilen wollten, musste London bezeichnenderweise deshalb klein beigeben, weil die US-Regierung ihre finanz- und währungspolitischen Instrumente zeigte und damit zugleich den Briten die internationale Hackordnung drastisch vor Augen führte. Der Aufstieg Westeuropas als Handelsmacht sowie die Entfremdung von den ehemals Kolonisierten, die entweder in ihren unabhängigen Nationalstaaten das Westminstermodell liberalen Regierens zuweilen argen Belastungsproben aussetzten oder als Immigranten die britische Gesellschaft mit deren postkolonialem Erbe konfrontierten, taten ein Übriges, um das Weltsystem Londoner Observanz Anfang der 1970er Jahre endgültig in die Geschichtsbücher zu verbannen. Was Darwin für die Zwischenkriegszeit konstatiert, kann ohne Weiteres auch für die Ära der Dekolonisation nach 1945 gelten: Sie glich nicht selten einer „journey without maps“ (S. 481).

Darwins tour de force durch knapp anderthalb Jahrhunderte britischer Überseegeschichte legt mit akribischer Sorgfalt die Strukturen eines Systems frei, die erst in ihrem Wechselspiel das Empire in seiner singulären Ausdehnung und Stabilität ermöglichten. Insbesondere dem sich um 1900 schürzenden Knoten europäischer Herausforderungen und globaler Antworten widmet Darwin seine ganze narrative Finesse. Und der neue Blick auf die Dominions weist der Forschung ebenfalls innovative Wege. Wenn Darwin den Prozess der Dekolonisation hingegen etwas kursorischer skizziert, liegt dies möglicherweise daran, dass er dazu bereits 1988 eindrücklich Position bezogen hat.

Gerhard Altmann, Korb


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 14. März 2011