ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Kerstin Theis/Jürgen Wilhelm (Hrsg.), Frankreich am Rhein. Die Spuren der „Franzosenzeit“ im Westen Deutschlands, Greven Verlag, Köln 2009, 303 S., geb., 32,00 €.

Am Anfang war die Revolution - Napoleon stand noch in den politischen Kulissen. Die sogenannte „Franzosenzeit“ begann im Rheinland mit der Eroberung des linken Rheinufers durch die französischen Revolutionstruppen im Jahr 1794. Das Rheinland erlebte und erlitt sodann die Folgen des Aufstiegs von General Bonaparte zum Ersten Konsul und zum Kaiser, der erst von den militärischen Niederlagen Napoleons I. der Jahre 1813 und 1814 jäh gebremst wurde. Für die Bevölkerung im Rheinland waren diese fast 20 Jahre Fremdherrschaft bekanntlich eine Zeit der Neuerungen auf vielen Gebieten: Wirtschaft, Verwaltung, Recht; alles wurde umgekrempelt, vieles davon wurde und wird bis heute Napoleon Bonaparte zugeschrieben.

Der vorliegende Sammelband, vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) veröffentlicht, führt Fragestellungen und Ergebnisse zusammen, die im Kontext eines mehrjährigen Projekts des LVR zu den Auswirkungen der französischen Zeit im Rheinland entstanden sind. Die Herausgeber sind die Historikerin Kerstin Theis, bis 2007 wissenschaftliche Volontärin in der Fachstelle für Regional- und Heimatgeschichte des Landschaftsverbands, und Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Landschaftsversammlung Rheinland, Vorsitzender der kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und Geschäftsführer des Deutschen Entwicklungsdiensts. Beide haben sich vorgenommen, einen „Eindruck von der Vielfalt der französischen Einflüsse und der Prägekraft, welche die ‚Franzosenzeit‘ unmittelbar besaß“ (S. 15), zu vermitteln. In 13 überwiegend essayistischen Beiträgen geht der Band somit der Frage nach den Auswirkungen der Fremdherrschaft auf das heutige Rheinland nach.

Ansprechend ist die interdisziplinäre Zusammenstellung der Autoren und Themen aus den Bereichen der Geschichtsforschung, Literatur-, Rechts- und Sozialwissenschaften. Jürgen Wilhelm thematisiert zunächst die napoleonischen Mythen im Rheinland und sieht hier wesentliche Voraussetzungen für die langfristige Rezeption der „Franzosenzeit". Napoleon Bonapartes Reise in die Rhein- und Moselumgebung 1804 stehen im Mittelpunkt der Ausführungen von Alain Ruiz. Sein Beitrag behandelt an diesem Beispiel die Anfänge des Napoleonkults im Rheinland. Der Sprachwissenschaftler Georg Cornelissen klopft vermeintlich ‚franzosenzeitliche‘ Lehnwörter auf ihre historischen Ursprünge ab. So manche liebgewonnene Geschichte um das rheinländische „Faible für Fisimatenten“ wird dabei als Legende entlarvt.

Zwiespältig war das Verhältnis deutscher Literaten zu Napoleon und dem neuen Wind, der aus Frankreich ins Rheinland wehte; dies zeigen Wulf Wülfing in seinem Beitrag zu Heinrich Heine und Napoleon und Barbara Beßlich, die über Karl Immermanns Napoleon-Imaginationen und das Epigonenbewusstsein im 19. Jahrhundert schreibt. Beide Beiträge zeugen davon, wie groß der Platz war, den Napoleon und die „Franzosenzeit“ im 19. Jahrhundert im kulturellen Gedächtnis der Deutschen einnahmen, zum einen am Beispiel von Immermanns sentimentaler Rückschau und seiner Kritik an der prosaischen Restaurationszeit, zum anderen an Heines durchaus zwiespältiger Deutung Napoleons - mythische Verklärung der kaiserlichen Person und Ernüchterung angesichts der Auswirkungen der napoleonischen Kriege auf die rheinländische Bevölkerung schlossen sich im Werk des Autors nicht aus.

Die Funktion des rheinischen Karnevals als politisches Instrument und Spiegel der Napoleon-Rezeption im 19. Jahrhundert untersuchen Matthias von der Bank, Hildegard Brog und Marcus Leifeld. Die unpolitische Inszenierung des organisierten Karnevals ab 1823 sowie preußische Zensurbestimmungen waren unter anderem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gründe dafür, dass Napoleon und Frankreich hier kaum thematisiert wurden.

Der „Reiter in der Glockengasse“ und die „Franzosenzeit“ in der Werbung nach dem Zweiten Weltkrieg stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Julia Kaun, die hier ein interessantes Stück Wirtschaftsgeschichte am Beispiel der Marketingstrategien für das Produkt „4711 Echt Kölnisch Wasser“ nachzeichnet.

Gleich mehrere Essays widmen sich den wirtschaftlichen und rechtlichen Auswirkungen der „Franzosenzeit“ auf das Rheinland. Walter Rummel betrachtet das Nachwirken der französischen Herrschaft auf Gerichts- und Verwaltungsebene sowie den zwiespältigen und widersprüchlichen Umgang mit dem französischen Rechtserbe im preußischen Rheinland. Die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Industrie- und Handelskammern als Einrichtungen, die unter französischer Herrschaft etabliert wurden, stehen im Zentrum des Beitrags von Ulrich S. Soénius. Dieter Strauch zeichnet den Kampf um das „rheinische Recht“ und die Reform der Gerichtsbarkeit im Rheinland nach und betrachtet sie vor dem Hintergrund der Rechtsentwicklung im 19. Jahrhundert, bis hin zum - wenn auch begrenzten - Eingang französischer Institutionen in das Bürgerliche Gesetzbuch.

Erinnerungskulturen aus der Nah- und Fernsicht, so ließen sich die Beiträge von Eckhard M. Theewen und Kerstin Theis übertiteln. Theewen geht auf die Rezeption der „Franzosenzeit“ durch die napoleonischen Veteranen und deren Vereins- und Denkmalkultur im 19. Jahrhundert ein und sieht die Veteranen als wesentliche gesellschaftliche Bewahrer der französischen Zeit in den Rheingebieten. Theis eröffnet eine Perspektive auf die Kulturlandschaft nach dem Ersten Weltkrieg und untersucht beispielhaft die Rezeption der „Franzosenzeit“ in Filmen der Weimarer Republik sowie im Rahmen der Rheinischen Jahrtausendfeier 1925. Der Journalist Gérard Foussier rundet die Beiträge mit seinen abschließenden Betrachtungen ab, teils als Fazit, teils als persönlicher grenzüberschreitender Erfahrungsbericht.

Der Sammelband stellt lesenswerte Fallstudien zur Wirkungs- und Nachwirkungsgeschichte der „Franzosenzeit“ zusammen, die einen detaillierten Blick auf die rheinländische Geschichte, auf langlebige Mythen und Aneignungsstrategien erlauben. Viele Illustrationen nehmen den Leser mit auf die Reise; die umfangreichen Anmerkungen sowie Register zu Autoren, Orten und Personen gestalten das Arbeiten mit diesem Buch angenehm.

Von einem interdisziplinären Sammelband lässt sich schlichtweg nicht verlangen, dass er allen Leserwünschen gerecht wird und jedes Thema gleichgewichtig abhandelt, so kommt aus historischer Perspektive das 20. Jahrhundert als Untersuchungszeitraum insgesamt recht kurz: Der Schwerpunkt der Beiträge liegt auf der Rezeptionsgeschichte des 19. Jahrhunderts, ganz nah also am Puls der „Franzosenzeit".

Heidi Mehrkens, Braunschweig


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