ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Pierre Bezbakh, Geschichte des französischen Sozialismus. Von der Französischen Revolution bis 2008, vorwärts buch Verlag, Berlin 2009, 502 S., brosch., 29,80 €.

1994 veröffentlichte Pierre Bezbakh, Dozent für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Paris IX, in der Reihe „Les Compacts“ ein Buch mit dem Titel „Histoire et figures du socialisme français". Wie die übrigen Bände dieser Reihe, „Les grandes figures de la Bible“ oder „Les grandes figures du surréalisme“ bot es den Lesern eine kompakte Einführung, die gerade für Studenten der Anfangssemester nützlich sein konnte. Ohne wissenschaftlichen Anspruch geschrieben, verzichtete es auf Literaturhinweise, Belege und auf jegliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand. 2005 wurde dieses Buch unter dem Titel „Histoire du socialisme français“ von Larousse wieder aufgelegt, ergänzt um ein Kapitel, das die Jahre 1995 bis 2005, also die Jahre nach dem Ende der Präsidentschaft und dem Tod François Mitterands umfasst. Dieses Buch liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor, wobei die Übersetzer das Schlusskapitel noch einmal erweitert haben, so dass es jetzt „die Entwicklung der PS bis zum Parteitag in Reims 2008“ abdeckt.

Bezbakh gliederte das Buch ursprünglich in zwei große Teile, „Der Anarcho-Socialismus, 1789-1889“ und „Der Staatssozialismus, 1889-1994", um die Vielfalt des sozialistischen Denkens vorzustellen und den „libertären“ Sozialismus des 19. Jahrhunderts dem „etatistischen“ Sozialismus des 20. Jahrhunderts entgegenzusetzen, der „die legale Eroberung der Macht im Staat zum vorrangigen, ja sogar einzigen Ziel“ erhoben und zuletzt darauf verzichtet habe, die Grundlagen des Kapitalismus infrage zu stellen. In der Ausgabe von 2005 erscheinen dann die Jahre ab 1981 als eigener dritter Teil unter dem Titel „Le socialisme gestionnaire et le défi européen“ (wörtlich: „der geschäftsführende Sozialismus und die europäische Herausforderung").

Die Ambition des Autors, eine Diskussion über die Zukunft des französischen Sozialismus anzustoßen, steht allerdings im Widerspruch zum Lehrbuchcharakter des Buchs. Es behandelt in chronologischer Folge die einzelnen Abschnitte der französischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, beginnend jeweils mit einer Chronologie, gefolgt von einem Abriss der politischen Entwicklung. Daran schließt sich jeweils eine Darstellung der wirtschaftlichen Situation und der Lage der Arbeiter an, bevor endlich diejenigen Ereignisse und Personen geschildert werden, die zur Geschichte des Sozialismus gehören. Dieser Aufbau entspricht dem eines konventionellen Schulbuchs, über das die „Geschichte des Sozialismus“ in den ersten beiden Teilen auch inhaltlich nicht hinausgeht. Die umfangreiche Forschung zur politischen, sozialen und kulturellen Geschichte Frankreichs, der Arbeiterbewegung, der Parteien und Gewerkschaften wird an keiner Stelle reflektiert. Man muss nur einen Blick in die 2004 erschienene zweibändige „Histoire des gauches en France" (1) werfen, um zu sehen, wie weit Bezbakh hinter dem Stand der historischen Forschung zurückbleibt. Thematisch aufgebaut, finden sich hier alle großen Forschungsfragen, an denen Bezbakh vorbeiläuft: die Frage nach dem kulturellen Gedächtnis der Revolution, nach den Formen politischer Mobilisierung und Geselligkeit im 19. Jahrhundert, nach der Rolle der aufständischen Gewalt, des allgemeinen Wahlrechts, der Pressefreiheit, die Frage nach den Entstehung eines französischen Marxismus.

Dem Titel der ursprünglichen Version des Buchs entsprechend, präsentiert Bezbakh vor allem die großen Gestalten des Sozialismus, daneben auch Sympathisanten, zu denen Bezbakh großzügig alle Schriftsteller zählt, die ein Herz für die Armen hatten. Da er keine Überlegungen darüber anstellt, wen man sinnvollerweise als Sozialisten bezeichnen könnte, findet man auch Abschnitte über François Raspail, Victor Hugo und Henri Rochefort, sowie ein großes Kapitel über Pierre Mendès-France.

Für den deutschen Leser mag der dritte Teil des Buchs, der die jüngste Vergangenheit behandelt, der interessanteste sein, da er einen Überblick über alle Personen, Gruppierungen und Strömungen gibt, die in der Sozialistischen Partei nach 1981 eine Rolle spielten. Auch hier stützt sich der Autor freilich weder auf eigene Recherchen oder Interviews noch auf Forschungen zum Wahlverhalten oder zur Parteiensoziologie, sondern beschränkt sich darauf, die aus seiner Sicht wichtigsten Ereignisse zu rekapitulieren. Der Fall der Mauer gehört übrigens nicht dazu und wird mit keinem Wort erwähnt; die Perspektive ist entschlossen innerfranzösisch. Nur der Vertrag von Maastricht und das „Nein“ zur europäischen Verfassung werden kurz dargestellt.

Die Übersetzer haben sich große Mühe gegeben, dieses Buch für deutsche Leser zu erschließen, indem sie Hunderte von Anmerkungen angefügt haben. Jeder französische Begriff wird übersetzt, jeder Name wird kommentiert, so dass selbst ein Leser, der nicht wüsste, dass „résistance“ „Widerstand“ bedeutet oder wer François Guizot war, sich informieren könnte. Auch bei größtem Fleiß muss ein Versuch, die ganze französische Geschichte in Anmerkungen zu packen, freilich an seine Grenzen stoßen. Hilfreicher wäre es gewesen, wenn der Autor selbst versucht hätte, das Geschehen zu erklären, statt Namen und Daten aneinanderzureihen. Der einfache Hinweis darauf, dass bis 1901 keine Vereinigungsfreiheit bestand, politische Parteien in Frankreich also erst nach 1901 gebildet werden konnten, hätte zum Verständnis der Parteienentwicklung mehr beigetragen als die Nacherzählung der Legislaturperioden der III. Republik.

Es muss Freundschaft und die Sympathie für die sozialistische Sache gewesen sein, die Maurice Agulhon bewogen haben, ein Vorwort für dieses Buch zu schreiben. Was das französische Ministerium für Kultur und Kommunikation und das Außenministerium bewogen hat, die Übersetzung dieses Buchs zu fördern, darüber kann man nur spekulieren.

Sabine Rudischhauser, Brüssel

Fußnoten:


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