ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolfgang Hardtwig, Macht, Emotion und Geselligkeit. Studien zur Soziabilität in Deutschland 1500-1900, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2009, 231 S., kart., 48,00 €.

Das Assoziationswesen ist seit dem einschlägigen Aufsatz von Thomas Nipperdey zum „Verein als soziale Struktur im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert“ (1972) ein Dauerthema der Geschichtswissenschaft. Nationalismus- und Bürgertumsforschung, Arbeitergeschichtsschreibung, Studien zur Aufklärung, zu „sozial-moralischen Milieus", politischer Kultur, Freizeit, Philanthropie und Zivilgesellschaft haben der Assoziation als einer multifunktionalen, in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen und sozialen Schichten verbreiteten Organisationsform große Bedeutung beigemessen. Der Berliner Historiker Wolfgang Hardtwig hat die deutsche Vereinsforschung mit zahlreichen Untersuchungen zum Assoziationswesen von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert vorangetrieben und mit geprägt. Der vorliegende Sammelband enthält neun seiner Studien zum Thema, die abgesehen von Veränderungen einiger Titel in der Fassung der Erstpublikation abgedruckt sind. Acht Texte erschienen erstmals zwischen 1984 und 1994 als Artikel in Zeitschriften, Sammelbänden und Zeitungsbeilagen; der jüngste Beitrag basiert auf einem Vortrag aus dem Jahr 2008. Vorangestellt ist den Studien eine kurze Einleitung, welche die Texte in der Forschung zu Soziabilität und Vereinswesen verortet.

Grundsätzlich sieht Hardtwig seine Arbeiten der dominierenden, an der Frage der Politisierung in und durch den Verein interessierten Vereinsforschung verpflichtet. Diese Forschungsrichtung betrachtet freiwillige Zusammenschlüsse als Sozialisationsinstanzen, in denen sich durch die Erfahrung demokratischer Selbstorganisation und des egalitären Umgangs ein bürgerliches Selbstbewusstsein verdichtete, das aus den Beschränkungen von Ständegesellschaft und Absolutismus herausdrängte und schließlich gegen den Druck staatlicher Verbote politische Ansprüche artikulierte. Die vertraute Geschichte von der Etablierung des Vereinsprinzips im Bereich von Wissenschaft und Bildung im 17. und 18. Jahrhundert, dem Umschlag von „kryptopolitischen“ Vernunft- und Moralitätsforderungen in offen politische Emanzipationsansprüche unter dem Eindruck von Französischer Revolution und Restauration, der Radikalisierung dieser Ansprüche in der nationalen und der Arbeiterbewegung sowie der funktionalen Differenzierung und massenhaften Ausbreitung des Vereinsprinzips in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzählen die beiden wohl bekanntesten der versammelten Studien, nämlich der in den Geschichtlichen Grundbegriffen erstmals - unter einem etwas anderen Titel - veröffentlichte Artikel „Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft“ (1990) und der in dem von Otto Dann herausgegebenen Sonderheft von „Geschichte und Gesellschaft“ zum Vereinswesen in Deutschland zuerst publizierte Aufsatz „Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789-1848“ (1984).

In anderen Beiträgen erweitert Hardtwig die Perspektive von der Analyse der politischen Sozialisation um Aspekte der Soziabilität, indem er einen „Wandel der Gefühlskultur“ (S. 10) herausarbeitet. Dies geschieht vor allem in den beiden Studien zu Wertewandel und Sozialverhalten von Studenten, die nachzeichnen, wie sich verstärkt nach 1770 das Selbstverständnis der akademischen Jugend veränderte. War bis dahin das Studium ein Lebensabschnitt gewesen, der von studentischem „Korpsgeist“ und einer mit „akademischer Freiheit“ legitimierten Zügellosigkeit gekennzeichnet war, rückten nun moralische und intellektuelle Bildung, rastloses Streben nach Selbstverbesserung, Affektkontrolle und Freundschaftspathos als Handlungsorientierungen in den Vordergrund. Hardtwig verbucht diesen Bewusstseinswandel nicht einfach als Begleiterscheinung eines ideengeschichtlichen Wandels, sondern erklärt ihn als Anpassung der Studenten an konkrete gesellschaftliche Umstände, nämlich die verschärfte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, die das Leistungsethos der Studierenden gefordert habe, sowie allgemein die „wachsende Komplexität der ökonomischen, sozialen und politischen Beziehungen in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 74), die eine Zivilisierung der Umgangsformen erzwang.

Hardtwig gelingen in diesem Zusammenhang Beschreibungen von Handlungsorientierungen, die für Historikerinnen und Historiker mit Interesse an der Erforschung moderner Selbstverhältnisse von Belang sein dürften. (Gleiches gilt für den kurzen Aufsatz zur „Lebensbilanz“ Adolph von Knigges, der erstmals 1988 erschienen ist und die Verhaltenslehren des Freiherrn einer differenzierten Betrachtung unterzieht.) Darüber hinaus eröffnet die Fokussierung auf Soziabilität, die auf Veränderungen in der sozialen, ökonomischen und politischen Umwelt reagiert, der Vereinsforschung eine Perspektive, die über die üblichen Fragen nach der Genese eines politischen Selbstbewusstseins hinausweist. Denn die Studentenvereinigungen werden als Experimentierräume erkennbar, in denen Menschen die durch den Zerfall alter Ordnungen in Bewegung geratenen sozialen Beziehungen austarierten und neue Verhaltensorientierungen ausbildeten. Dieses Verständnis von der Assoziation ist grundlegender als das Modell des spezifisch neuzeitlichen „bürgerlichen Vereins“ und ermöglicht somit, nach Kontinuitätslinien zu suchen, die von der Vormoderne in die Neuzeit reichen. Eine solche „chronologische Tiefenerstreckung“ (S. 9) von Soziabilität und Vereinswesen ist das explizite Interesse Hardtwigs und ein weiterer Gesichtspunkt, mit dem er die gängige Forschung erweitern will.

Dem Kontinuitätsaspekt ist vor allem der Vortrag zur „,Genossenschaft‘ in der deutschen Geschichte“ (2008) gewidmet. Darin zeigt Hardtwig, dass Gesellenbruderschaften, religiöse Laienverbindungen, Schützengesellschaften und Genossenschaften manche Elemente des modernen Vereins vorwegnahmen und „Gesellungsformen der ständischen Welt in der Frühen Neuzeit mitunter offener waren als man vielfach gemeint hat“ (S. 25). Dies ist ebenso wie die lange Überlebensdauer von quasi-ständischen lokalen Brauchtumsvereinen ein Argument dafür, den Übergang von der „alten Welt“ in die Neuzeit und von der Korporation zur Assoziation weicher zu zeichnen als bisher in der Vereinsforschung geschehen.

Klaus Nathaus, Bielefeld


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