ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ignacio Olmos/Nikky Keilholz-Rühle (Hrsg.), Kultur des Erinnerns. Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland, Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2009, 197 S., brosch., 18,00 €.

Vergleiche schärfen den Blick für das Eigene. In dem vorliegenden Sammelband werden zwei europäische Erinnerungskulturen, die spanische und die deutsche, zueinander in Beziehung gesetzt, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben.

Der Band, hervorgegangen aus einem Symposium des Goethe-Instituts und des Instituto Cervantes von 2006, vermittelt einen Überblick über den damaligen Stand der jeweiligen vergangenheitspolitischen Debatten, ohne die beiden nationalen Entwicklungen direkt miteinander zu vergleichen. Die Auswahl der Autoren (Historiker, Soziologen, Philosophen, Journalisten und Vertreter der Zivilgesellschaft) korrespondiert mit dem, was die Herausgeberin und der Herausgeber als Anspruch in der Einleitung formuliert haben: dass solche Begegnungen das Bewusstsein für politische und gesellschaftliche Verhältnisse schärfen sollen. Dementsprechend ist die ausdrückliche Zielsetzung des Dialogs, gemeinsame Konsequenzen zu ziehen, wie es Nikky Keilholz-Rühle (Goethe-Institut) in ihrem Vorwort darlegt.

Was sich aus den sehr unterschiedlichen Beiträgen über die spanische Erinnerungskultur (Reyes Mate, Santos Juliá, Alberto Reig Tapia, Walther L. Bernecker) extrahieren lässt, ist die zentrale Bedeutung der „transición“, des Übergangs von der Diktatur nach Francos Tod, und der Etablierung der Demokratie. Im Mittelpunkt steht die Bewertung des sogenannten „Pakts des Schweigens“, was bedeutete, dass die Ereignisse, die zum Bürgerkrieg und der Nachkriegsdiktatur führten, nicht als politische Argumente in der aktuellen Politik benutzt wurden. Die Kontroverse, die sich in Ansätzen in diesem Band widerspiegelt, dreht sich um die Anerkennung der Opfer, dem (moralischen) Kern jeder Vergangenheitsdebatte. So fragt Alberto Reig Tapia danach, welche Zugeständnisse die demokratische Seite machte, um den Pakt des Schweigens zu erfüllen. Sein Vorwurf, sich nicht der demokratischen Erinnerung versichert, sondern einer Relativierung des Militärputsches und seiner Folgen zugestimmt zu haben, richtet sich an die Regierung von Felipe Gonzales. Emilio Silva Barrera, Initiator und Organisator einer zivilgesellschaftlichen „Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica“ (Vereinigung zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung), tritt darüber hinaus als engagierter Vertreter der Opfer der Franco-Diktatur auf. Demgegenüber argumentiert Santos Juliá in seinem Beitrag, dass der Deutungsstreit über die „transición“ und dem Schweigepakt ein Indiz für die politische Kultur Spaniens sei, gesellschaftlich ein solcher Pakt allerdings nie existiert habe, da in der Literatur und in dem Gedächtnis der Menschen diese Zeit immer gegenwärtig gewesen sei. Was sollte durch die öffentlich-politische Bekundung, ein solcher Pakt existiere, also verhindert werden? Die Anerkennung der Opfer? Oder war es, wie er schreibt, ein Abwehrreflex gegenüber der Angst vor einem erneuten Militärputsch? Zugleich führt Juliá die Kategorie der Generation ein: die Enkelgeneration, die ihre Erzählung, nämlich die Amnesie als einen Verrat an den Opfern zu deuten, als eine Gegenerzählung zu dem Schweigepakt der Elterngeneration setzt.

Nicht nur hier würde sich ein Vergleich mit Deutschland anbieten, wie in den Beiträgen zur deutschen Erinnerungskultur deutlich wird.

Harald Welzer, in der Erinnerungsdebatte bekannt geworden durch die von ihm mitverfasste Studie „Opa war kein Nazi“ (1), gibt eine Kurzfassung seiner in dieser Studie herausgearbeiteten Ergebnisse: Er setzt kollektives Gedächtnis und familiäre Überlieferung in einen Zusammenhang. Sein Befund lautet, dass auch die dritte Generation in der Familienerzählung die Verbrechen leugnet. Dieser eher polemische als analytische Einwand wird von ihm noch durch den Verdacht gegenüber der Kriegskindergeneration, einen neuen Opferstatus zu beanspruchen, verstärkt.

Norbert Frei wiederum stellt die These, dass sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen ein entscheidender Bestandteil der deutschen politischen Kultur sei, nicht infrage und sieht auch nach dem Einschnitt 1989 keinen Bruch in dieser „politisch-kulturellen Selbstidentifikation“ (S. 88). Allerdings diagnostiziert er eine Umkodierung, die er mit einem Vergleich der öffentlichen Reaktion auf den Irak-Krieg und den Kosovo-Einsatz deutlich macht: von einem „Nie wieder Krieg“ zu einem besonders von dem damaligen Außenminister Joschka Fischer politisch propagierten und instrumentalisierten „Nie wieder Auschwitz“. Die internationale Menschenrechts- und Völkerrechtsdebatte beeinflusste die Interpretation der deutschen Geschichte. Parallel dazu konstatiert Frei bei den um 1965 und 1985 Geborenen zwei Generationen, die mit einer Erinnerungskultur (anstelle einer umkämpften Erinnerungspolitik) aufgewachsen sind. Diese Kultur ist ein fester Bestandteil deutschen öffentlichen (Staats-)Gedenkens geworden.

Und der Osten? Bernd Faulenbach und Annette Leo skizzieren in ihren jeweiligen Beiträgen die Unterschiede in den beiden deutschen Erinnerungskulturen, die eine Anpassungsleistung einseitig vom Osten forderten, die sich in der Veränderung der Formensprache ausdrückte, wie Leo an einigen Beispielen in Ostdeutschland zeigt. Faulenbach verweist darauf, dass damit die Asymmetrie im Ost-West-Verhältnis eher verstärkt als beseitigt wurde und dass eine gesamtdeutsche Meistererzählung nach 1989 nicht entstanden ist.

Leider ist es im Rahmen dieses Bandes nicht gelungen, die Erinnerungskulturen in Spanien und Deutschland weiterführend in Beziehung zu setzen. Was bedeutet es, wenn in beiden Staaten ein „Nie wieder“ beschworen wird? Welche Folgen hat eine Geste der nationalen Versöhnung auf der einen Seite und das deutsche Verantwortungspathos auf der anderen Seite? Welche Rolle spielt die viel beschworene Zivilgesellschaft in dem Anerkennungskampf der Opfer? Spanien eine Art nachholende Entwicklung gegenüber der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung zu attestieren, wie Joachim Gauck das in seinem Beitrag vornimmt, verkennt die nationalen Besonderheiten auf der Iberischen Halbinsel wie die koloniale Vergangenheit, wie die Nationalismen der autonomen Regionen oder den Einfluss des Nationalkatholizismus; Faktoren, die in dem Band nur am Rande erwähnt werden. Wie prekär der demokratische Konsens einer pluralen Erinnerungspolitik in Spanien noch ist, zeigt der Fall des Richters Baltasar Garzón, dessen juristische Karriere aufgrund seines Engagements für die Opfer des Franco-Regimes beendet wurde. Er beweist, mit welcher Vehemenz um die Deutungsmacht und damit verbunden um die juristische Aufarbeitung und die faktische Anerkennung der Opfer gerungen wird. Durch diese aktuelle Entwicklung erscheint die in dem vorliegenden Band von verschiedenen Autoren geforderte Anerkennung des Leidens aller Opfer und ein Pluralismus der Geschichtserzählungen als frommer Wunsch. Zugleich wird deutlich, wie wichtig solche Begegnungen und ihre Dokumentation für eine an menschenrechtlichen Standards orientierte europäische Erinnerungskultur ist.

Marianne Zepp, Berlin

Fußnoten:


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