ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Matthias Röhrs, I Tedeschi. Das Bild der Deutschen in italienischen Kriegserinnerungen (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 107), tvv-Verlag, Tübingen 2009, 583 S., kart., 34,00 €.

Auch 65 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs stehen die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zwischen Italien und Deutschland, und so sehr das gute Verhältnis der beiden Gründungsmitglieder der Europäischen Union immer wieder beschworen wird, so oft zeigen sich die Narben der Vergangenheit bei Themen wie Besatzungsherrschaft, Kriegsverbrechen, Deportation und Internierung. Ihren sichtbarsten Ausdruck fand diese Entwicklung darin, dass die Bundesrepublik die Urteile italienischer Gerichte zur Entschädigung der Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft Ende 2008 mit einer Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag beantwortete, wobei sie sich auf den Grundsatz der Staatenimmunität berief.

Als besonderes Reizthema im deutsch-italienischen Verhältnis erwies sich dabei der Partisanenkrieg auf der Apennin-Halbinsel, der diesseits und jenseits der Alpen als Eckstein des kollektiven Gedächtnisses der Kriegsgeneration gelten muss. Auf deutscher Seite beklagte man, Opfer heimtückischen Verrats geworden zu sein, was wiederum die erfolgreiche Verdrängung der Tatsache ermöglichte, dass zwischen 1943 und 1945 unter dem Deckmantel der Partisanenbekämpfung auch ein erbarmungsloser Krieg gegen die Zivilbevölkerung geführt wurde. In Italien überhöhte man den Kampf der Resistenza gegen die deutschen Streitkräfte dagegen zu einem Befreiungskrieg des ganzen italienischen Volks. Dieses Narrativ machte unangenehme Fragen nach der eigenen faschistischen Vergangenheit ebenso überflüssig wie Fragen nach der Kollaboration oder nach dem Stellenwert des gewalttätigen Spätfaschismus unter dem Banner der Republik von Salò, ganz zu schweigen von Fragen nach Übergriffen von Partisanen im Zuge der sogenannten wilden Säuberungen zwischen 1944 und 1946. Alles in allem liegt zwischen Deutschland und Italien bis heute ein geschichtspolitisches Minenfeld, aufgeladen durch zählebige Stereotype, die ihre Brisanz nach wie vor nicht vollständig verloren haben.

Auf dieses schwierige Terrain wagt sich Matthias Röhrs mit seiner Dissertation über das „Bild der Deutschen in italienischen Kriegserinnerungen“, die 2004 an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen angenommen wurde. Der Autor hat Geschichte und Volkskunde studiert; seine Dissertation im Fach empirische Kulturwissenschaft beruht auf einer fruchtbaren Kombination von Quellenstudium und Feldforschung. Röhrs macht keinen Hehl daraus, dass er sich den Kämpfern der Resistenza in aufrichtiger Bewunderung verbunden fühlt und insbesondere die Ideale der antifaschistischen Linken teilt. Neben dieser politischen Affinität stand der Zufall Pate für diese Dissertation. Eine Wanderung, die der Autor 1988 von Mössingen nach Rom unternahm, konfrontierte ihn immer wieder mit den Zeugnissen der deutschen Besatzungsherrschaft und mit Erzählungen von Freunden und Gastgebern über die dunklen Monate zwischen Herbst 1943 und Frühjahr 1945. Dabei erfuhr er auch von deutschen Deserteuren, die ihre feldgraue Uniform an den Nagel gehängt und auf der Seite der italienischen Partisanen gegen ihre einstigen Kameraden gekämpft hatten. Diese Erzählungen, die für den geschichtspolitischen Mainstream in Deutschland wie Italien gleichermaßen unbequem waren, ließen Röhrs nicht mehr los, und so war es nur folgerichtig, dass er sich bemühte, mehr darüber herauszufinden, als er seine Dissertation in Angriff nahm. Sein Ziel war es dabei zunächst, Widersprüchen zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis nachzuspüren und herauszufinden, warum ehemalige Partisanen zwar über deutsche Kombattanten sprachen, sich deren Spuren aber in der offiziellen Erinnerungskultur fast vollständig verloren hatten. Dann stellte er die Frage nach den Wurzeln und der politischen Funktion von Stereotypen wie dem „guten Italiener“ und dem „bösen Deutschen“, um schließlich der Geschichte und der Erfahrungsgeschichte des Kriegs in Italien neue Facetten hinzuzufügen.

Röhrs stützt seine Darstellung zum einen auf lebensgeschichtliche Interviews mit (italienischen) Aktivisten der Resistenza und mit ehemaligen KZ-Häftlingen, die zwischen 1943 und 1945 aus politischen Gründen aus Italien in die Lager des ‚Dritten Reichs‘ deportiert worden waren. Zum anderen hat er Dokumente in staatlichen und nichtstaatlichen Archiven in der Emilia-Romagna, im Piemont und der Lombardei ausgewertet, wobei dem Netzwerk der Resistenza-Institute und dem dort verwahrten Schriftgut der Partisanenformationen besondere Bedeutung zukommt. Bestände aus deutschen Archiven, etwa aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv, hat Röhrs dagegen nicht herangezogen.

Seine Darstellung zerfällt in drei große Teile: die Spurensuche nach deutschen Deserteuren und - damit verbunden - die Rekonstruktion der Erinnerung von Partisanen an Deutsche und italienische Faschisten; die Schilderung der Erfahrungen italienischer Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern und die Rekonstruktion ihrer Erinnerung an „böse“ und „andere“ Deutsche beziehungsweise an „gute“ Landsleute und ihre faschistischen Antipoden; eine analytische Synthese zum „Deutschenbild im kollektiven Gedächtnis Italiens“, wobei er insbesondere die politische Funktion von Stereotypen und Feindbildern thematisiert.

Den größten Neuigkeitswert besitzt die Dissertation an jenen Stellen, an denen von deutschen (und österreichischen) Deserteuren und Kombattanten in den Reihen der Resistenza die Rede ist. Über dieses Thema ist bisher nicht viel geschrieben worden, und man weiß nur wenig über die Zahl, die Motivlagen und die Geschichte der deutschen Überläufer. Durch die Kombination von Interviews und Archivquellen kann Röhrs in den norditalienischen Provinzen, die er untersucht hat, immerhin rund 200 Angehörige der Wehrmacht namhaft machen, die zwischen 1943 und 1945 die Seiten gewechselt haben, sei es aus politischer Überzeugung, sei es aus der Gewissheit heraus, der Krieg sei unwiderruflich verloren. Oft sind es nur Fragmente von Lebensgeschichten, die Röhrs dem Leser nicht zuletzt durch ausführliche Zitate aus seinen Interviews nahebringt; doch bereits diese Fragmente werfen viele Fragen auf, denen man weiter nachgehen sollte: die Bedeutung der regionalen Herkunft eines Soldaten für die Disposition zur „Fahnenflucht“; die Bandbreite der Unterstützung der Resistenza von der Übermittlung von Informationen bis zum aktiven Kampfeinsatz; das Verhältnis zwischen Deserteuren und Partisanen, das von unauslöschlichem Misstrauen ebenso geprägt sein konnte wie von echter Kameradschaft; das weitere Schicksal der Überläufer während des Kriegs und nach der Heimkehr.

Es ist zu einem guten Teil diesen Deserteuren zu verdanken, so Röhrs, dass die befragten Partisanen nicht alle Deutschen über einen Kamm schoren und sich durchaus der Tatsache bewusst waren, dass die „tedeschi“ nicht zwangsläufig auch „nazisti“ sein mussten. Diese Erkenntnis verlor sich freilich, je weiter sich der Autor bei den Recherchen von seinen Gesprächspartnern entfernte und je höher er die Treppe der offiziellen Gedenk- und Erinnerungskultur hinaufstieg. Die Erklärung für diese Kluft zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis liegt für Röhrs in der Tatsache begründet, dass die nach 1945 konstruierte Meistererzählung vom Kampf der Resistenza als nationalem Befreiungskrieg eines ganzen Volks gegen die nazifaschistischen Besatzer der Erinnerung an die „anderen“ Deutschen keinen Raum ließ, zumal diese Meistererzählung nicht zuletzt dazu diente, möglichst viel Distanz zwischen dem neuen Italien und seiner faschistischen Vergangenheit zu legen, zu der auch das deutsch-italienische Bündnis gehörte.

Matthias Röhrs ist ein - auch politisch - engagierter Autor, dessen Herz links schlägt, der aus seiner Bewunderung für die Widerstandsbewegung (vor allem für die sozialistisch-marxistisch inspirierte) keinen Hehl macht und bei seinen Forschungen, wie er - für eine Dissertation mehr als ungewöhnlich - breit darlegt, keinem Konflikt aus dem Weg ging. Dem wissenschaftlich gebotenen kritischen Umgang mit eigenen Werturteilen ist dieses Engagement nicht immer förderlich (man beachte etwa die unreflektierte Übernahme von Narrativen italienischer Partisanen über ihre Erfahrungen als Soldaten des königlichen Heeres); zuweilen verführt ihn sein Eifer sogar zu bemerkenswerten sprachlichen Entgleisungen, wenn er etwa die Fotoserie über die Hinrichtung eines faschistischen Funktionärs mit den Worten kommentiert, die Exekution sei mit einem „Fangschuss“ (S. 432) beendet worden. Mehr Nüchternheit und Selbstreflexion hätten diesem interessanten Buch sicher nicht geschadet.

Thomas Schlemmer, München/Berlin


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