ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dieter Düding, Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1980. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag (Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Droste Verlag, Düsseldorf 2008, 823 S., geb., 88,00 €.

Was im Parlament des bevölkerungsreichsten Landes der Bundesrepublik passiert, hat bis in die Gegenwart immer wieder große Bedeutung für die Bundespolitik, und die Bundespolitik beeinflusst immer auch die Landespolitik. In Auseinandersetzung mit dem angenommenen Bedeutungsverlust der Landtage betrachtet Dieter Düding die Entwicklung des Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen von der Entstehung des Landes bis 1980 und damit die Phase der Konzentration des Parteiensystems und der Durchsetzung der nordrhein-westfälischen Sozialdemokratie.

Das Buch ist recht dick geraten, durch die Schilderung von Schlüsselszenen und wichtigen Rededuellen bietet es neben Analyse und Darstellungen farbige Eindrücke vom Geschehen im Parlament, manchmal mit ganz leisem ironischem Unterton geschildert. Beeindruckend ist die aus den Quellen und vor allem den Nachlässen erarbeitete Schilderung von konkreten Entscheidungsprozessen bis zur in rational orientierten Darstellungen bestenfalls als Restkategorie betrachteten Gefühlswelt und den Animositäten zentraler Akteure. Düding schreibt als intimer Kenner des nordrhein-westfälischen Landesparlamentarismus insgesamt gelassen und elegant und manchmal geradezu ‚locker`, so dass auch ein ‚verschlingbares`“ Buch ohne Verkrampfungen entstanden ist. Indem Strukturen sichtbar gemacht werden und gleichzeitig erzählt wird, hat Düding große Geschichtsschreibung produziert, die leider selten geworden ist.

Als Untersuchung der Politik des nordrhein-westfälischen Landesparlaments und der von diesem kontrollierten und von deren Mehrheit getragenen Landesregierung handelt es sich um eine klassische, chronologisch vorgehende Politikgeschichte. Düding, der sich schon in der Vergangenheit mit dem Landesparlamentarismus intensiv befasst hat (1) und auch auf Fraktionsgeschichten der anderen Parteien (2) sowie wichtige landesgeschichtliche Untersuchungen zurückgreifen kann, verfolgt unter intensiver Nutzung der Parlamentsüberlieferung Denken und Handeln der führenden NRW-Parlamentarier und hat damit eine wichtige landesgeschichtliche Untersuchung vorgelegt.

Immer wieder stellt Düding das parlamentarische Spitzenpersonal vor, in der zutreffenden Erkenntnis, dass jenseits der strukturellen Faktoren solche „Eliteparlamentarier“ Charakter und Qualität des Geschehens im Parlament mitbestimmen. Hier geht es um die wichtigsten und vielfach ausweislich der ausführlichen Zitate beeindruckenden Redner, Mitglieder in den zentralen Parlamentsausschüssen, zentralen Mandats- und Entscheidungsträger in den Fraktionen. Über die Nichtberücksichtigung mancher Person beziehungsweise über die weitergehende Berücksichtigung manchen Parlamentariers ließe sich vielleicht streiten, die wichtigsten Akteure werden jedenfalls behandelt. Es zeigt sich am Beispiel der behandelten Personen, dass schon vor dem Medienzeitalter wenige zentrale Persönlichkeiten den nordrhein-westfälischen Parlamentarismus prägten. In den zahlreichen Biografien, der Einordnung der Porträtierten und auch der Schilderung der physiognomischen und charakterlichen Eigenarten zeigt sich Düdings beeindruckende Kenntnis der Landesgeschichte. So behandelt der Autor die vielfach eher übersehene bedeutende Rolle Konrad Adenauers in der Anfangsphase des Landes, wobei „der Alte“ hier auch als raffinierter und intriganter Taktierer sichtbar wird, der gezielt Neuordnungsbestrebungen, die zumindest in den frühen Jahren nach der Befreiung vom Nationalsozialismus von einer breiten Mehrheit gefordert und befürwortet wurden, verhinderte.

Zentrale Debatten vor allem in der Anfangsphase des nordrhein-westfälischen Parlamentarismus, etwa um die Sozialisierung der Grundstoffindustrien oder die stets umstrittene Schulpolitik, rekapituliert Düding ausführlich mit dem Verhalten von Parteien, Fraktionen, Spitzenpolitikern. Da natürlich selektiv vorgegangen werden muss, wird manche interessante Debatte leider in eine knappe Skizzierung in die Fußnoten ‚verbannt‘ - manchmal würde man gern mehr lesen, aber das hätte wohl nicht mehr zwischen die Buchdeckel gepasst.

Wegen der Mehrparteien-Regierungen auf breiter Grundlage, der wechselnden Koalitionen, der Notwendigkeiten der Nachkriegszeit sowie Parteigrenzen übergreifender Gemeinsamkeiten war es im NRW-Parlament bis in die 1960er Jahre durchaus üblich, auch mit wechselnden und dann oft sehr breiten Mehrheiten zu agieren, wobei die Parlamentsmehrheiten nicht unbedingt identisch mit den Regierungsmehrheiten waren, beispielsweise in der so zentralen Frage der Sozialisierung des Steinkohlenbergbaus und sogar bei der Landesverfassung. Argumentationen von Oppositionsfraktionen fanden auf diese Weise recht unaufgeregt Eingang in die Entscheidungen. Klar konkurrenzdemokratisches Oppositionsverhalten oder Obstruktion waren jenseits der 1954 aus dem Parlament ausgeschiedenen Kommunisten eher selten.

Auf einigen Politikfeldern blieb es allerdings weitgehend bei grundlegenden Unterschieden - beispielsweise prallten in der Schul- beziehungsweise Bildungspolitik die bis in die Gegenwart bekannten Gegensätze zwischen konfessionellem Egoismus und Verteidigung des sozial selektiven dreigliedrigen Schulsystems auf der einen Seite und den Bemühungen um mehr Chancengerechtigkeit durch Bildungsreformen auf der anderen Seite aufeinander.

Aber auch in der Regierungszeit der sozial-liberalen Koalition ab 1966 wurden zentrale landespolitische Entscheidungen bei aller notwendigen Inszenierung von Meinungsverschiedenheiten im Konsens oder doch in weitgehender Kooperation herbeigeführt, so in zentralen Fragen wie der Bildungsreform, der Bewältigung der Bergbaukrise im Ruhrgebiet, der kommunalen Gebietsreform und Neugliederung. In den 1970er Jahren, wohl auch insgesamt in einem reformorientierten politischen Klima, wurde dann im Landtag öffentlichkeitswirksam kontroverser gestritten, wobei selbst die die Landesregierung tragenden Fraktionen durchaus nicht nur die Politik der Exekutive ‚abnickten`. Vor dem Hintergrund der differenzierten Darstellung der Parlamentsreformen der 1960er Jahre mit Ausweitung der Kontrollrechte bei gleichzeitiger Etablierung eines kooperativen Föderalismus, der eher die Exekutiven stärkte und die Handlungsspielräume der Länder beziehungsweise Länderparlamente begrenzte, mag Düding zu Recht für Nordrhein-Westfalen insgesamt nicht von einem Bedeutungsverlust des Länderparlamentarismus reden.

Die große Studie zum Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen zeigt die Relevanz der Entscheidungen auf der subnationalen, gewissermaßen regionalen Landesebene und sollte zu weiteren (vergleichenden) Untersuchungen anregen. Bei Nordrhein-Westfalen bleibt es interessant, ob man hier weiter Politikmodelle und Modellpolitiken für den Bund anbieten kann. Das Buch Dieter Düdings zeigt einmal mehr Sinn und Notwendigkeit von Landesgeschichte, die leider ganz im Unterschied zu süddeutschen Ländern in dem vergleichsweise neuen, aber mittlerweile doch auch schon gereiften Land Nordrhein-Westfalen, zumindest an den Universitäten, kaum berücksichtigt wird.

Stefan Goch, Gelsenkirchen

Fußnoten:


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