ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifung 1955-1975 (Nassauer-Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Bd. 8), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010, 288 S., brosch., 44,00 €.

Etwas versteckt in der verwaltungsgeschichtlich orientierten Buchreihe „Nassauer Gespräche“ erschien mit Band 8 eine Aufsatzsammlung zur intellectual history der neuesten Zeitgeschichte. Zur „zweiten Gründung der Bundesrepublik 1955 bis 1975“ sind Beiträge versammelt, in deren Mittelpunkt mediale, parteipolitische, wissenschaftliche, literarische und künstlerische Veränderungsprozesse zwischen dem Ende des Wiederaufbaus bis zur Mitte der 1970er Jahre stehen. Die Herausgeber ordnen die Beiträge in den intellektuellen Gründungsprozess und die „Fundamentalliberalisierung“ der Bundesrepublik ein, als deren Dreh- und Angelpunkt sie den Generationswechsel von den 1945ern zu den 1968ern ausmachen. Die Falluntersuchungen differenzieren diese Annahmen, verweisen auf spezifische Rahmenbedingungen für Veränderung und zeigen mit ihrer Spannweite, dass die Zäsuren 1955 und 1975 nur bedingt den intellektuellen Wandel zeitlich erfassen können.

In der ersten Sektion „Medien, Öffentlichkeit, Parteien“ beschäftigt sich zunächst Christoph Hilgert mit dem öffentlich-rechtlichen Jugend-Rundfunkprogramm der 1950er Jahre. Seine Analyse der politischen Aufklärungsambitionen in den Rundfunkredaktionen überzeugt durch eine fundierte Verbindung interner und externer Bedingungen, Inhalte und Biografien. Der Beitrag korrespondiert mit den Ergebnissen Detlef Briesens zum politischen Kabarett der 1950er und 1960er Jahre, dessen teils rigiden Abrechnungen mit der deutschen Vergangenheit durch das neue Leitmedium Fernsehen in die Breite wirken konnten. Marcus M. Payk macht in seinem Beitrag zu den Zeitungsredaktionen von „Die Welt“, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und von „Christ und Welt“ deutlich, dass sich das redaktionelle Selbstverständnis nicht allein durch einen Generationswechsel wandelte. Ähnlich wie die journalistischen Arbeitsweisen veränderte sich das Gemeinschaftsdenken der 1950er Jahre zur Konfrontationsbereitschaft in den 1960er Jahren unter dem Einfluss eines expandierenden und dynamischen Medienmarkts. Peter Hoeres' Blick auf die Anfänge und Aufschwünge der Demoskopie zeigt, dass die Kritik an den von der CDU initiierten und geförderten Meinungsumfrageinstituten EMNID und Institut für Demoskopie aus unterschiedlichen politischen Richtungen und generationellen Kohorten kam. In der Diskussion über den Charakter der öffentlichen Meinung und die legitime politische Willensbildung unterschieden sich Befürworter und Gegner der Demoskopie vor allem anhand eines eher funktionalen oder normativen Öffentlichkeitsbegriffs. Daniel Schmidt zeigt, wie die Union der vermeintlich linken Hegemonie zu begegnen versuchte. Im Übergang zu den 1970er Jahren nutzte die CDU die „Nähe zur Wissenschaft“ (S. 101), einen „wissenschaftlichen Zugang zur Politik“ (ebd.), und sie besetzte Themen bis hin zur „Neuen Sozialen Frage“ (S. 102), um eine konservative Meinungsführerschaft wiederzugewinnen.

Die Sektion „Wissenschaften und Konfessionen“ beginnt Tobias Freimüller mit einer Biografie- und Rezeptionsgeschichte zu Alexander Mitscherlich. Dessen Entwicklung vom elitären Kulturpessimisten zum öffentlichen Demokratiebefürworter fand auf der Grundlage der Überzeugung von der „ideologischen Verführbarkeit der modernen Gesellschaft“ (S. 126) statt. In der öffentlichen Wahrnehmung stand freilich Mitscherlichs Sozialpsychologie im Vordergrund, die zugleich den Übergang zum „Psycho-Boom“ der 1970er Jahre begünstigte. Sodann weitet Klaus Große Kracht den Zeithorizont bis zur unmittelbar nach 1945 einsetzenden „Rechristianisierungswelle“ aus. Die Werdegänge und Netzwerke katholischer Intellektueller im Männerbund „Neudeutschland“, dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken und dem Cusanuswerk verbindet Große Kracht mit ideengeschichtlichen Linien im sich wandelnden Selbstverständnis. Die Protagonisten waren deutlich von den 1920er und 1930er Jahren geprägt und gingen zugleich progressiv mit den Ausdifferenzierungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft um. Etwas aus dem konzeptionellen Rahmen fällt Pascal Eitlers Beitrag zur Politisierung der Religion rund um „1968“, der diskursanalytisch der nach wie vor allein mit linken Bewegungen verbundenen „Gewaltfrage“ nachgeht. Demnach war die begriffliche Konjunktur von Gewalt Ende der 1960er Jahre kein Ergebnis politischer Kommunikation, sondern ein Dispositiv in sämtlichen gesellschaftlichen Systemen.

Die dritte Sektion „Literatur und Publizistik“ eröffnet Dominik Gepperts konziser Überblick zur inneren Staffelung der „Gruppe 47“. Auch er kommt zu dem Schluss, dass sich deren Konflikte kaum nach Geburtskohorten der Mitglieder ergaben, sondern die „entscheidende Scheidelinie“ (S. 187) in der Gruppe 47 „zwischen Vertretern verschiedener Auffassungen vom Wesen der Politik und von der Rolle des Intellektuellen in der Politik“ (ebd.) verlief. Mit Ludwig Harig wird im anschließenden Beitrag einer der unaufgeregten Intellektuellen der Gruppe 47 untersucht. Anne Fuchs Beitrag erweist sich als literaturwissenschaftlicher Parforceritt durch Harigs Autobiografie und analysiert, immer mit Blick auf den zeitgenössischen Kontext, die Verbindung von persönlicher Erfahrung und künstlerischer Formensprache. Alexander Gallus untersucht das „Erbe“ der Weltbühne am Beispiel Kurt Hillers, dessen Perspektive auf die Bundesrepublik durch seine Erfahrungen in der ersten deutschen Republik als Mitgestalter einer vehement demokratischen, nichtsdestotrotz auch elitären Publizistik geprägt war. Gallus macht „das hohe Maß an Kontinuität zwischen Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik“ (S. 220) deutlich, umreißt Hillers kritische Haltung und schließlich seine „gewisse Aussöhnung“ (ebd.) mit dem politischen System der Bundesrepublik.

In der vierten Sektion „Kunst, Journalismus, Kabarett“ entwirft Christian Spiess einen ikonografischen Blick auf die 1950er Jahre und zeichnet die Auseinandersetzung im Zuge der „Kanonisierung der Abstraktion“ nach. In der Malerei zeigte sich wie in der gesamten Bildenden Kunst die nachhaltige Wirkung der erzwungenen Emigration, so dass anders als in den USA erst die jungen Künstler der 1960er Jahre innovative Positionen zur abstrakten Kunst entwickelten. Maria Dalrups Beitrag über den 1949 gegründeten Journalistenverband untersucht dessen Mitteilungsblatt „Der Journalist“, mit einem Phasenmodell, das bis in die 1980er Jahre reicht, da zu dieser Zeit erst von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit die Rede sein kann. Dalrups diachrone Analyse resistenter gesinnungsjournalistischer Überzeugungen, die trotz aller Bekenntnisse zur freiheitlichen Demokratie im Berufsverband den Bruch mit offenkundigen Teilhabern am NS-Regime verhinderten, ergänzt die Fallanalysen Payks und Hoeres'. Wie schon erwähnt sollte Detlef Briesens Beitrag in einem mediengeschichtlichen Kontext gelesen werden, denn seine biografisch-inhaltliche Skizze des Kabaretts der 1950er Jahre unterstreicht, „wie fragwürdig die These von der ‚bleiernen‘ Zeit der 1950er Jahre wahrscheinlich ist“ (S. 276).

Bekanntlich ist die Geschichte gesellschaftspolitischer Wandlungsprozesse der Bundesrepublik nur rudimentär mit dem Umschlagspunkt „1968“ erzählt. Die unterschiedlichen Beiträge bieten zeitlich umfassende und vielschichtige Perspektiven für eine intellectual history, die den Wandel nicht nur thematisiert, sondern auch problematisiert.

Claudia Kemper, Hamburg


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