ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Gehler, Deutschland. Von der Teilung zur Einigung. 1945 bis heute, Böhlau Verlag, Wien/Köln etc. 2010, 509 S., geb., 39,00 €.

Michael Gehler schwebt eine deutsche Nachkriegsgeschichte neuen Typs vor: keine Einzelbetrachtung von Bundesrepublik und/oder DDR, auch keine Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen, sondern eine integrierte Gesamtgeschichte „von der Teilung zur Einigung“ (so der Untertitel).

Die Ansätze hierfür sind vielversprechend. Gehler interessiert sich für die Auswirkung deutschlandpolitischer Zäsuren auf die wechselseitige Wahrnehmung in Ost und West. Er stellt somit die Frage, wie sich die Deutschen nach ihrer staatlichen ‚Teilung‘ auch innerlich ‚teilten‘ und wie sie sich nach ihrer ‚Einheit‘ mühsam wieder ‚einigten`. Einem „populärwissenschaftlichen Ansatz“ (S. 20) verpflichtet, ist die Studie schnörkellos und engagiert geschrieben. Sie enthält informative und rundweg gelungene Passagen - vor allem im Kapitel über die Wendejahre 1989/90, als das verkrustete SED-Regime unter dem revolutionären Druck des eigenen Volks zusammenbrach und sich die Deutschen einem Vereinigungsrausch hingaben, aus dem sie freilich - wie das Kapitel über den „Preis der Einheit“ zeigt - ebenso rasch wie ernüchtert wieder erwachen sollten.

Knapp die Hälfte des Buchs ist den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten gewidmet (ca. 200 S.), hiernach geht es im Eilmarsch durch die 1960er bis in die 1980er Jahre (ca. 90 S.), das Zustandekommen der deutschen Einheit wird in einem gesonderten Kapitel ausführlich beschrieben (ca. 70 S.), der restliche Text (ca. 80 S.) erstreckt sich bis zur Bildung der schwarz-gelben Koalition im Jahr 2009. Es dominieren Kapitel über die Außenpolitik, gefolgt von solchen zur Wirtschafts- und Sozialentwicklung. Eine deutsch-deutsche Ideengeschichte hatte der Autor offenbar nicht im Sinn; vereinzelte Passagen zur Kultur und geistigen Landschaft werden in Exkurse gefasst, welche die Chronologie der jeweiligen Kapitel aufbrechen und damit etwas in der Luft hängen bleiben.

Ein besonderes Merkmal - und auch ein wesentliches Problem - des Buchs liegt darin, dass Gehler immer wieder einem Hang zur Provokation gegen die seiner Ansicht nach herrschende Lehrmeinung nachgibt. Für den österreichischen Historiker ist die deutsche Historiografie einseitig auf das Paradigma einer bundesrepublikanischen „Erfolgsgeschichte“ fixiert und von einer „Tendenz der Verklärung“ (S. 450) durchzogen. Sein revisionistisches Aufbegehren hiergegen erschöpft sich jedoch in einer überzogen wirkenden Kritik an der „geglückten Demokratie“ (Edgar Wolfrum). Schon bei der Gründung der Bundesrepublik habe das Ziel, „einen starken und souveränen Staat aufzubauen“, „Priorität vor Demokratie, Freiheit, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit“ besessen (S. 50). Mit „Bonn“ verbindet Gehler eine nur „anscheinend gelungene deutsche Demokratie“ und den „Ort eines Parteienstaates“ (S. 373). Glücklicherweise gerät ihm hierüber der Qualitätsunterschied zwischen Demokratie und Diktatur nicht aus dem Blick. Für den Unrechtscharakter des SED-Regimes - ein „die eigenen Bürger ausbeutendes, bankrottes und korruptes System von Parteibonzen“ (S. 240) - findet er deutliche Worte. So steht am Ende zwar die Dekonstruktion des (vermeintlichen) Erfolgsnarrativs; die Bilanz der DDR deckt sich hingegen recht vollständig mit jener Kategorie einer „,Misserfolgs-‘ und ‚Verlierergeschichte`“ (S. 20), aus der sich das Buch eigentlich hatte lösen wollen.

Besonders hart geht Gehler mit der Außen- und Deutschlandpolitik Konrad Adenauers ins Gericht. Sein Adenauer-Bild erinnert stark an die historiografischen Debatten der 1980er Jahre und ist nicht frei von Klischees: „Gesamtdeutsche Sehnsüchte lagen dem alten Mann fern. Er hatte es sich in einem großen Haus mit schönem Garten [...] in Rhöndorf bei Bonn sehr gut eingerichtet“ (S. 354f.). Primäres Anliegen sei ihm die Erlangung der staatlichen Souveränität für die Bundesrepublik gewesen: „Die damit verbundene Teilung Deutschlands nahm Adenauer bewusst in Kauf. [...] Es kam durch seine Politik zu einer Vertiefung der Spaltung nicht nur Deutschlands, sondern letztlich auch zur Verfestigung der Teilung Europas“ (S. 113).

Adenauer, das ist nun wahrlich bekannt, wollte die Einheit tatsächlich nicht um jeden Preis, er hatte sogar eine klare Priorität von Freiheit vor Einheit. Ein neutrales Gesamtdeutschland, wie es in den frühen 1950er Jahren zeitweise realisierbar schien, hielt er für geeignet, den Sowjets Tür und Tor zur Durchdringung Mittel- und Westeuropas zu öffnen. Ob eine Neutralitätslösung unter demokratisch-pluralistischen Vorzeichen nicht doch möglich gewesen wäre, wie Gehler suggeriert, ist bis heute strittig; die Mehrzahl der Historiker bezweifelt es allerdings.

Unabhängig davon fehlt dem Buch das Gespür für die langfristigen Kausalzusammenhänge zwischen Westbindung und Wiedervereinigung. Zweifellos hatte sich Adenauers „Politik der Stärke“ spätestens mit dem Mauerbau festgefahren, und die schrittweise Liquidation der Hallstein-Doktrin in den folgenden Jahren war nur die logische Schlussfolgerung hieraus. Aber auch die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition beruhte auf dem Fundament der westlichen Bündniszugehörigkeit, die sie nie in Frage stellte, genauso wie schon Adenauer wusste, dass der Schlüssel zur deutschen Einheit letztlich in Moskau lag. In diesem Sinne griffen West- und Ostpolitik dialektisch ineinander. Während des Wendejahrs 1989 vollzog Helmut Kohl dann einen deutschlandpolitischen Paradigmenwechsel und kehrte zu den Prämissen der „Politik der Stärke“ zurück, indem er finanzielle Hilfen für die kollabierende DDR mit der Forderung nach innenpolitischen Reformen verknüpfte und ihren Verfall damit praktisch noch beschleunigte. Und nicht zuletzt ging der innere wie der äußere Rahmen der Einheit auf die Weichenstellungen der frühen Nachkriegszeit zurück, wie Gehler auch zugesteht, wenn er schreibt, die „friedliche und rasche Eingliederung der Ex-DDR in das demokratisch-westliche Wirtschafts- und Politiksystem“ sei nicht zufällig erfolgt, „sondern bereits durch das Grundgesetz (1949) und die Römischen Verträge (1957) angelegt worden“ (S. 469).

Zeitgeschichte ist bekanntlich Streitgeschichte, und nur weil man viele Thesen Gehlers bezweifeln kann, heißt das nicht, es sei dem Buch keine breite Leserschaft zu wünschen. Ein Jahr nach dem 60. Jubiläum der „doppelten Staatsgründung“ (Christoph Kleßmann) und 20 Jahre nach dem Vollzug der staatlichen Einheit hat Gehler eine provokante Arbeit vorgelegt, an der man sich vortrefflich reiben kann.

Holger Löttel, Bad Honnef/Rhöndorf


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