Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Manfred Vasold, Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg (Geschichte erzählt, Bd. 21), Primus Verlag, Darmstadt 2009, 142 S., geb., 16,90 €.
Historische Literatur über die großen Seuchen, wie Pest, Pocken und Cholera, hat seit Jahren Konjunktur. Seuchengeschichte kann ein vortreffliches Instrument sein, gesellschaftliche Zustände zu analysieren. Im Zuge der verbreiteten Ängste über eine pandemische Ausweitung der Influenza-Viren vom Typ H5N1 (Vogelgrippe) oder H1N1 (Schweinegrippe) gilt dies nun auch für die Geschichte der Grippe. Lange Zeit von der historischen Zunft nicht wahrgenommen, sind die Publikationen mittlerweile Legion. Im Mittelpunkt stehen dabei die Russische Grippe 1977/78 und insbesondere die Spanische Grippe von 1918, die ausgehend von den USA in mehreren Wellen um die ganze Welt zog und mit 25 bis 50 Millionen Toten mehr Opfer als der Erste Weltkrieg forderte. Letztere wird häufig als Worst-Case-Szenario für aktuelle Bedrohungen gesehen, gleichzeitig aber deutlich in Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg gestellt.
Der Name Spanische Grippe rührt von der relativ liberalen Zensur, die Spanien als neutrales Land im Ersten Weltkrieg hatte, weshalb dort frühzeitig über die Erkrankungen berichtet wurde. Gleichwohl war Spanien weder Ausgangspunkt der Seuche noch wütete sie dort besonders heftig. Vielmehr ging die Seuche um den gesamten Erdball; es handelte sich um eine klassische Pandemie, die von 1918 bis 1920 herrschte und sogar abgelegene Regionen wie die Südsee erreichte. Der Krankheitsverlauf war kurz und heftig. Todesfälle konzentrierten sich auf die Altersgruppe der 15- bis 40-Jährigen und wurden auf eine sekundäre bakterielle Lungenentzündung als zusätzliche Komplikation zurückgeführt. Exhumierungen von Opfern aus dem Permafrostboden von Alaska ermöglichten die Rekonstruktion eines Influenza A Virus des Subtyps H1N1, das sich in Tierversuchen als sehr aggressiv erwies. Möglicherweise löste es eine Überreaktion des Immunsystems aus, die das Lungengewebe zerstörte.
Ein spannendes Thema also und es war sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis eine aktuelle einschlägige populärwissenschaftliche Darstellung auf dem deutschen Markt erscheint. Manfred Vasolds zusammenfassendes Bändchen aus der Reihe Geschichte erzählt beschreibt auf 138 Seiten die Seuche und ihre weltweite Ausbreitung. Es ist eine furchtbare Geschichte von ungeheuerem Leid und unzähligen tragischen Schicksalen. Vasold zeichnet die Wege nach, welche die Pandemie vom mittleren Westen der USA an die atlantische Ostküste nahm, wie sie von dort nach Europa gelangte und von den Armeen und dem Welthandel um den Globus verbreitet wurde. Im Deutschen Reich, dessen Bevölkerung durch den Hungerwinter 1917/18 stark geschwächt war, fielen etwa 300.000 Menschen der Grippe zum Opfer, in Europa 2,3 Millionen, in den USA 675.000 Menschen. Global sollen etwa 1,5 bis 2 Prozent der Weltbevölkerung an der Grippe gestorben sein. Niemals seit dem Schwarzen Tod ist eine solche Seuche über die Erde hinweggefegt, schrieb die London Times am 18. Dezember 1918.
Manfred Vasold erzählt diese globale Geschichte und geht dabei immer wieder auf die Wechselwirkungen von Krieg und Seuche ein. Sehr positiv hervorzuheben ist die gewählte internationale Perspektive, denn so wird deutlich, dass die Seuche nur im globalen Zusammenhang zu verstehen ist. Allerdings liest sich seine Seuchengeschichte über weite Strecken etwas mühsam. Dies liegt vor allem daran, dass der Autor, der bereits zahlreiche Publikationen zur Geschichte der Seuchen vorgelegt hat, hier weniger systematisch vorgeht, sondern vor allem deskriptiv die zeitliche und geografische Ausbreitung der Seuche verfolgt. Der Leser erfährt, dass eine Grippe keinesfalls mit einer Erkältung gleichzusetzen ist (S. 34). Absolute Opferzahlen werden repetitiv aneinandergereiht, was ohne Bezug auf Einwohnerzahlen grundsätzlich wenig aussagekräftig ist: So erfahren wir, dass in München 3.000 Zivilpersonen an der Grippe starben, um wenige Zeilen später zu lesen, dass dies lediglich eine Sterberate von unter 5 Promille bedeutete (S. 94). Es werden Ärzte- und Krankenhausdichte vor Ort geschildert, um dann mitzuteilen, dass die kurative Medizin der Seuche machtlos gegenüberstand (S. 41f. und S. 103).
Die Fülle von Zahlenmaterial wird unterbrochen von einer nicht näher begründeten Auswahl von kurzen Auszügen aus gedruckten Lebenserinnerungen meist prominenter Zeitgenossen. Detailinformationen werden eingestreut, ohne auch nur einen Interpretationsansatz zu versuchen: In den USA waren die indianischen Ureinwohner besonders betroffen, obwohl sie in dünn besiedelten Gebieten lebten. Hätte das etwas mit ihrer sozialen Lage oder mit ihrer immunologischen Disposition zu tun haben können - der Leser erfährt es nicht (S. 77). In Neuseeland erkrankten ganze Familien (S. 105), was bei einer ansteckenden Infektionskrankheit nicht weiter überrascht. Wir erfahren, dass die meisten Grippekranken bei sich zu Hause im Bett blieben (S. 94) oder dass in Indien wie überall auch unzählige berühmte Persönlichkeiten erkrankten. Die Liste von Gemeinplätzen und überflüssigen Detailinformationen ließe sich beliebig erweitern. Lediglich das letzte Kapitel versucht sich etwas in der Analyse und Interpretation. Diese werden aber weder in einen Forschungszusammenhang gestellt noch belegt. So bleibt sein Fazit: Deutschland hat den Krieg nicht infolge der Grippe verloren, die Grippe hat das Kriegsende lediglich schneller herbeigeführt (S. 133), unbegründet und ein wenig zusammenhanglos im Raum stehen. Die abschließende Einschätzung dieser Rezension kann daher nur lauten: Eine gute, elegant geschriebene populäre Darstellung der Spanischen Grippe, die die vielfältigen Bezüge der Seuchengeschichte zur Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der Zeit offenlegt, bleibt weiterhin überfällig.
Jörg Vögele, Düsseldorf