ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Daniel T. Rodgers, Atlantiküberquerungen. Die Politik der Sozialreform, 1870-1945 (Transatlantische Historische Studien, Bd. 40), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010, 645 S., geb., 49,00 €.

Daniel T. Rodgers, Professor an der Princeton University, begreift die Phase zwischen den 1870er Jahren und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als eine „Ära transatlantischer Sozialpolitik“, als eine „größtenteils vergessene Welt transatlantischer Anleihen und Nachahmungen, Adaptionen und Transformationen“, die er in seiner, 1998 im Original erschienenen, jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Studie auf breiter Spur durchmisst (S. 17f.). Im Fokus seines Interesses stehen die sozialpolitischen Anregungen, die, durch ein internationales Expertennetzwerk vermittelt, die Staaten des nordatlantischen Wirtschaftsraums, bei aller Rivalität und allem gegenseitigen Misstrauen, miteinander verbanden. Deutsche Stadtplanungskonzepte, englische Gartenstädte, dänische Volkshochschulen, schwedische Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, irische Dorfgemeinschaften und - das sollte nicht vergessen werden - belgische Armenlager wurden von einer intellektuellen Minderheit in den Vereinigten Staaten, den sogenannten Progressivisten, als nachahmenswerte Beispiele gefeiert. Zumal in Krisenzeiten ist es ihnen gelungen, europäische Sozialprogramme, in häufig sehr zurechtgestutzter Form, in amerikanischen Gesetzestext zu gießen. Die patriotische Verbrämung sozialpolitischer Maßnahmen in den Vereinigten Staaten - das Gütesiegel des „Amerikanischen“ durfte hier niemals fehlen - täuschte über deren europäische Patenschaft nur allzu leicht hinweg, und auch heute noch scheint es ein Wagnis darzustellen, auf eine Phase transatlantischer Beziehungen zu verweisen, in der Amerika eher als Lernender und Nachzügler erschien denn als Erzieher und Leitbild.

„Die Verbindung zur deutschen Universität“, so Rodgers' Befund, „stand am Anfang des transatlantischen Moments in der amerikanischen Sozialpolitik“ (S. 131). Amerikanische Studenten, die den Kern der ‚progressiven‘ Bewegung in den Vereinigten Staaten ausmachen sollten, strömten Ende des 19. Jahrhunderts in die deutschen Hörsäle und begeisterten sich für die von Adolph Wagner, Gustav Schmoller, Lujo Brentano und anderen „Staatssozialisten“ formulierten Grundsätze einer neuen, dem Laisser-faire-Prinzip der klassischen (und das hieß: angelsächsischen) Nationalökonomie entgegengesetzten Wirtschaftsauffassung. Staats- und Gemeinschaftsgedanke traten in den Gesichtskreis jener, die den Kapitalismus - auch in der Heimat - zu zügeln sich anschickten, und William Edward Burghardt DuBois, der schwarze Bürgerrechtler, nahm aus seinen Studien in Berlin und Heidelberg die „Vorstellung vom Staat als Hüter und Leiter der sozialen und gewerblichen Interessen“ als Leitstern mit nach Hause (S. 106). Deutschland wurde einer ganzer Generation amerikanischer Akademiker „ein intellektuelles Mekka“ (S. 103), dessen Strahlkraft sich auch organisatorisch niederschlug: So war die „American Economic Association“ 1885 nach dem expliziten Vorbild des „Vereins für Socialpolitik“ gegründet worden. Diese sozialpolitische Liaison mit dem deutschen Kaiserreich endete erst im Propagandanebel des Ersten Weltkriegs, als man etwa das seit Langem verfolgte Projekt einer Krankenversicherung nach deutschem Muster nicht mehr erwähnen konnte, „ohne dass ihre Gegner das Bild einer Pickelhaube heraufbeschworen“ (S. 290).

In den USA war das Bewusstsein der sozialen Aufgaben des Staats noch jung und nicht unangefochten. Der sozial aktive, fürsorgende und ausgleichende Staat, wie Europa ihn kannte, wurde als freiheitsfeindliches Monstrum empfunden, und fast jede Art staatlicher Investition wurde als Subvention und damit als „unamerikanisch“ gegeißelt. Die Progressivisten, die zu regelrechten Wallfahrten über den Ozean aufbrachen und, von dort zurückgekehrt, die europäische ‚Heilsbotschaft‘ verbreiteten, glichen daher oft Predigern in der Wüste und hatten es schwer, die öffentliche Meinung für ihre Reformvorschläge zu sensibilisieren: Kommunaler Wohnungsbau, wie von den britischen „Munizipalsozialisten“ vorexerziert, galt als Verschwendung öffentlicher Mittel und Einmischung des Staats in Bereiche, in denen er nichts zu suchen hatte; der Versicherungsgedanke, der sich von Deutschland aus auf die Reise machte, wurde als Angriff auf die Selbstverantwortung des mündigen Bürgers desavouiert; europäische Stadtplanungskonzepte, die den architektonischen Wildwuchs der amerikanischen Städte beschneiden wollten, bissen sich an den kapitalistischen Interessen der Grundstückseigner regelmäßig die Zähne aus. Überall errichteten Individualismus und Eigennutz - so die Interpretation der Progressivisten - Dämme gegen jegliche Form gemeinschaftlicher Organisation, und so nimmt es nicht wunder, dass europäische Amerikareisende, wie H. G. Wells 1906, zu dem ernüchternden Urteil kamen, die USA besäßen „die schwächste, unzulänglichste und ineffizienteste Zentralregierung aller zivilisierten Nationen westlich von Russland“ (S. 235).

Der Erste Weltkrieg sollte dies, zumindest kurzzeitig, ändern und wirkte in den Vereinigten Staaten als Schrittmacher und Katalysator europäischer Reformkonzepte. „Kollektivismus“ hieß das neue Zauberwort; die Progressivisten hatten das Ohr der Wilson-Administration und wurden mit der Leitung staatlicher und quasi-staatlicher Institutionen betraut, die, vor allem das britische Beispiel vor Augen, staatliche Kontrolle und gemeinwirtschaftliche Organisation in fast allen Wirtschaftszweigen durchsetzten. Doch so unvermittelt diese Woge dirigistischer Maßnahmen über das staatsskeptische Amerika hereingebrochen war, so bereitwillig zog sie sich nach Kriegsende auch wieder zurück. Nach 1918/19 wurden die Geister des gesellschaftlichen Aufbruchs ebenso schnell wieder in der Flasche verkorkt, wie sie herausgelassen worden waren, und kaum ein Reformer konnte seine Meinung nun noch öffentlich vertreten, ohne, wie Walter Lippmann 1919 klagte, umgehend als „Pazifist“, „Deutschenfreund“ oder „Bolschewist“ verunglimpft zu werden (S. 347). Die öffentlichen Siedlungsbauprojekte für Kriegsveteranen kamen bald wieder zum Stillstand, und nur wenige Kriegsmaßnahmen, vor allem das Programm für Arbeitervertretungen auf Betriebsebene, überlebten die Kriegszeit und blieben bestehen. Im Zeichen eines neu erwachten „superpatriotism“ schwand die Attraktivität europäischer Modelle rasch, und eine „neue Arroganz gegenüber sozialpolitischen Errungenschaften anderer Länder“ griff Raum (S. 432).

Der Progressivismus war indes ernüchtert; tot war er nicht. Der Wahlerfolg der „Progressive Party“ von 1924, das bis heute stärkste Ergebnis, das eine „dritte Kraft“ in den USA jemals hatte erreichen können, zeigte die Virulenz ‚progressiver‘ Projekte auch in den 1920er Jahren. Aber erst mit dem New Deal der Roosevelt-Administration erreichte der „transatlantische Austausch seinen Höhepunkt“ (S. 490). Die Weltwirtschaftskrise hatte den Glauben an die Selbstheilungskräfte des Markts entkräftet; ein hungerndes und zerlumptes Amerika blickte hilfesuchend auf den Staat; und eine handlungswillige, aber programmatisch konfuse Regierung machte sich die Konzepte der Progressivisten zu eigen. Nach „sechzig Jahren sozialpolitische[r] Flickschusterei“ brachen sich deren Gedanken mit einer Durchschlagskraft Bahn, die keiner erwartet hätte, und entwickelte sich in den Vereinigten Staaten tatsächlich „so etwas wie ein Sozialstaat“ (S. 557ff.). Der Social Security Act von 1935, der auf den britischen National Insurance Act von 1911 zurückgriff, der wiederum das deutsche Beispiel imitierte und zu übertrumpfen suchte, ist ein schönes Exempel der hier untersuchten sozialpolitischen Interdependenz, die teilweise erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zum Tragen kam. Solche und ähnliche Beispiele, die Rodgers anführt, verweisen auf jenen transatlantischen Diskussions- und Debattenzusammenhang, jenen Im- und Export von Ideen, der uns die Geschichte der Sozialreform nicht als eine national abgeschirmte, sondern als eine international vernetzte zu begreifen lehrt.

Rodgers führt den Leser souverän durch das „Wirrwarr von transnationalen Einflüssen und Aneignungen“ (S. 74) und unternimmt mit ihm eine Art sozialgeschichtlicher tour d'horizon. In seiner blendend geschriebenen Monografie hat er nicht nur die Sozialpolitiken verschiedener Staaten des nordatlantischen Wirtschaftsraums miteinander verglichen. Er hat auch das Netzwerk amerikanischer Progressivisten, ihre Niederlagen und ihre, oft flüchtigen Erfolge, mit klarem Blick durchdrungen. Mit dem New Deal als dem Höhepunkt ihres Einflusses und ihrer Wirkensmacht endet Rodgers' Buch. Die wirtschaftlichen Maßnahmen der Kriegszeit streift er nur am Rande. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als neue weltpolitische Herausforderungen an die Vereinigten Staaten herantraten und ein neuer „Exzeptionalismus“ erwachte, hatte Europa seine Rolle als sozialpolitischer Vorreiter endgültig verloren und ist nurmehr als „Kampfplatz, Mündel, Pufferzone“, eben als die Alte Welt, von der die Neue nichts mehr lernen könne, wahrgenommen worden (S. 578). Dass dies nicht immer so gewesen ist, ersehen wir aus Rodgers' Buch.

Max Bloch, Bonn


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