ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Katharine Bradley, Poverty, Philanthropy and the State. Charities and the Working Classes in London, 1918-79, Manchester University Press, Manchester/New York 2009, XIII + 221 S., geb., 55,00 £.

In dem hier zu besprechenden Buch legt die Autorin mit ihrer überarbeiteten Dissertation eine Untersuchung der University Settlement-Bewegung in London vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ausgang der 1970er Jahre vor. Auf zwei einleitende Kapitel, die dem historischen Kontext der Organisation der University Settlements sowie den Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Settlements gewidmet sind, folgen vier thematische Kapitel, in denen die Autorin verschiedene Arbeitsfelder sowie deren Veränderungen unter dem Einfluss staatlicher Intervention bei der Bereitstellung sozialer Leistungen verfolgt. In dieser Diskussion stellt Bradley die engen Beziehungen zwischen staatlicher und privater Sozialpolitik sowie die gegenseitige Beeinflussung beider Konzepte und Praktiken heraus. So verweist sie auf die personale Verbindung zwischen freiwilliger Sozialarbeit und Arbeit im Staatsdienst. Sozialpolitiker wie William Beveridge, der 1942 mit seinem „Report into Social Insurance and Allied Services“ den Entwurf für den englischen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit vorlegte, aber auch Clement Attlee, der im Jahre 1945 für die Labour Party zum Premierminister Englands gewählt wurde, erwarben sich ihre ersten Eindrücke und Erfahrungen in den University Settlements, bevor sie in den Staatsdienst gingen, um hier sozialpolitische Vorstellungen zu entwerfen und zu verwirklichen. Insgesamt boten die University Settlements allen an sozialen Problemen und Verbesserungen interessierten Personen die Möglichkeit, Londons Slums zu besuchen und durch ein Verbleiben in den Settlements die sozialen Probleme auch hautnah zu erleben. „Slumming“ entwickelte sich unter Sozialreformern des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu einer eingeübten und ritualisierten Praxis, die oftmals am Beginn der Karriere als Sozialreformer stand und den Betreffenden als notwendige Grundlage für ihr Expertentum auf dem Felde der sozialen und politischen Reformen galt.

Der Wechsel von Sozialreformern aus den University Settlements in den Staatsdienst mündete in den Auf- und Ausbau staatlicher Verantwortung für die Bereitstellung von Sozialleistungen. Die Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats wirkte natürlich auf die University Settlements zurück, da diese nun Aufgaben wie zum Beispiel in der Gesundheitsversorgung, insbesondere für Frauen und Kinder, an den Staat verloren. Auch im Bereich der Reintegration von aus der Gefängnishaft Entlassenen in die Gesellschaft zeigte sich eine Verschiebung von der Arbeit mit jugendlichen Straftätern hin zur Betreuung von erwachsenen Delinquenten. Die staatliche Intervention im Bereich der Rehabilitation von Straftätern führte also nicht zu einer Zerstörung privater Initiativen der Sozialarbeit, sondern zu deren Neuorientierung und der erfolgreichen Suche nach neuen Tätigkeitsfeldern, die vom Staat vernachlässigt wurden. Insgesamt, so die These von Bradley, erwiesen sich die University Settlements sehr flexibel und suchten sich neue Aufgabenfelder, nachdem der Staat bestimmte Tätigkeitsbereiche von ihnen übernommen hatte.

Auch wenn derartige Befunde den Leser manchmal dazu verleiten könnten, hier eine teleologische Sichtweise zu vermuten, in der private philanthropische Einrichtungen soziale Felder abstecken und Lösungsvorschläge anbieten, die dann später ‚zwangsläufig‘ vom Staat übernommen werden ‚mussten`, verortet die Autorin ihr Buch schlüssig in der umfangreicher werdenden Literatur, die das Konzept der „mixed economy of welfare“ als Ausgangspunkt nimmt und den Staat nur als einen von vielen Akteuren in der Bereitstellung von Sozialleistungen betrachtet. Dieses Konzept erlaubt es Forschern, die alte Dichotomie zwischen staatlicher und privater Aktivität zu überwinden und durch ein integriertes Konzept, in dem sich staatliche und private Anteile über einen historischen Zeitraum hinweg verändern und ergänzen, zu ersetzen. Diese Konzeption lehnt die alte sozialdemokratische Interpretation, nach der der Wohlfahrtsstaat zunehmend ausgebaut werden muss - was sozusagen als historische Gesetzmäßigkeit galt - und private Aktivitäten folglich zugunsten der staatlichen Bereitstellung von Sozialleistungen allmählich verdrängt würden, ab.

Es ist nur schade, dass die Autorin diese theoretische Verortung nicht in ihrem Buchtitel aufgenommen hat. Dort geht es um die älteren Konzepte der „Philanthropy“ und der „Charity“. Beide Begriffe klingen gut in Buchtiteln, verschleiern jedoch in diesem Fall, was sich wirklich in diesem Werk findet. Dies verwundert umso mehr, als die Autorin in ihrer Einleitung die traditionellen, aber in der wissenschaftlichen Diskussion umstrittenen Termini „charities“, „volunary sector“ und „nonprofit sector“ aus guten Gründen ablehnt. Insbesondere die beiden letzten Begriffe erweisen sich für den Historiker problematisch, da sie von einer Untergliederung der Gesellschaft in zwei oder drei Sektoren, die mehr oder weniger unabhängig voneinander koexistieren und sich nicht gegenseitig beeinflussen, ausgehen. Die Entscheidung der Autorin, diesen Entwurf zugunsten des Konzepts der „mixed economy of welfare“ zurückzulassen ist nur zu begrüßen, nur wäre es eben auch konsequent gewesen, diesen Ansatz im Buchtitel sichtbar zu machen.

Insgesamt ist dieses gut lesbar geschriebene Buch all jenen zu empfehlen, die sich für die Entwicklung der University Settlement-Bewegung in London sowie deren Konkurrenz als Anbieter von Sozialleistungen zum Staat im Laufe des 20. Jahrhunderts interessieren.

Thomas Adam, University of Texas at Arlington


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