ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert (FRIAS, Rote Reihe, Bd. 1), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, 128 S., kart., 14,90 €.

Imperiale Strukturen haben seit einigen Jahren Konjunktur in der Geschichtswissenschaft (1) - als vermeintliches Vorbild für eine neue Weltordnung mit einer klar ausgeprägten Führungsspitze, als rehabilitierungswürdige historische Formation, die dem Zusammenleben multireligiöser und multiethnischer Bevölkerungen differenziertere Spielräume beließ und zu mehr Toleranz als das harte Gehäuse des Nationalstaats fähig war, und eben auch als erstaunlich überlebens- und anpassungsfähige Herrschaftsstruktur beinahe überall auf der Erde. So geriet ein traditioneller Topos der europäischen Geschichtswissenschaft, das Zeitalter des Nationalstaats, schon seit Längerem unter Kritik, weil eben weder die Heraufkunft des Nationalstaats das Ende aller Empires bedeutete noch generell von einer solchen telosförmigen Sequenz „from empire to nation“ (2) auszugehen sei. Wie sollte sonst auch auf das Zeitalter des Nationalstaats das Zeitalter des Imperialismus folgen, das wiederum heute zu neuem Gebrauch des Empire-Begriffs (etwa bei Michael Hardt und Antonio Negri) anregt? (3) Und wie sollte man die Katastrophen des 20. Jahrhunderts interpretieren, ohne die gewaltigen (und gewaltförmig scheiternden) Versuche einzubeziehen, imperiale Herrschaft zu errichten beziehungsweise zu bewahren?

Die vor Kurzem aus Mitteln der deutschen Exzellenzinitiative gegründete School of History des Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) kommt mit ihrem Forschungsprogramm einer vergleichenden europäischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert um das Thema also nicht herum, und Ko-Direktor Jörn Leonhard geht mit gutem Beispiel für eine ebenfalls neu eingerichtete Essay-Reihe voran, indem er zusammen mit der Hamburger Osteuropahistorikerin Ulrike von Hirschhausen die Skizze eines größeren Projekts zu „Chancen und Krisen multiethnischer Großreiche: Großbritannien, Habsburg, Russland und Osmanisches Reich im 19. und 20. Jahrhundert“ als ersten Band vorlegt. In je ca. 25 bis 30 Seiten langen Teilen werden die imperialen Inszenierungen und Repräsentationen, imperiale Herrschaft durch Zensuserfassung der Reichsbevölkerung sowie die Schwierigkeiten mit dem Aufbau einer Wehrpflicht abgehandelt. Jedes Mal werden die vier Beispielfälle in unterschiedlicher Reihenfolge dargestellt - wohl um jedem Gedanken an eine Typologie ab- oder aufsteigender Effizienz und Bedeutsamkeit von vornherein die Spitze abzubrechen.

Die Vergleichskonstellation ist keine gewöhnliche und verbindet Stärken der deutschen Geschichtswissenschaft im Bereich der West- und der Osteuropaforschung, in denen die Verfasser jeweils ausgewiesene Spezialisten sind. Entsprechend findet man auf knappem Raum zuverlässige Information und eine große Zahl interessanter Beobachtungen, die klug aus der vorliegenden Forschungsliteratur zusammengestellt sind beziehungsweise partiell auf eigenen Quellenstudien beruhen.

Zeitlich begrenzen die Autoren ihre Darstellung auf ein längeres 19. Jahrhundert. Was dabei unterbelichtet bleibt, sind aus meiner Sicht drei Dinge: Erstens bleibt die Differenz zu Imperien vor der Französischen Revolution im Dunklen, so dass man die Geschichte der vier Empires im 19. Jahrhundert weniger als Überleben einer tradierten Staats- und Herrschaftsform, sondern eben als Herstellung einer Symbiose aus nationalstaatlichen und imperialen Herrschaftstechniken lesen kann und damit zu einem Schluss kommt, den Leonhard und von Hirschhausen so nicht ziehen, auch wenn er sich in ihrer Analyse andeutet: Es handelt sich zumindest am Ende des 19. Jahrhundert und für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eher um das Erfolgsmodell von Nationalstaaten mit imperialem Ergänzungsraum, für das eine starke Prägekraft behauptet werden könnte, als um die einfache Fortexistenz von Imperien. Die Verfasser kommen auf diese Ambivalenz vielfach zu sprechen, wenn sie die Modernisierung der Repräsentation ins Auge fassen, die neuartige Integration (oder Exklusion) von Untertanen beziehungsweise Bürgern beschreiben und am Ende von „nationalisierenden Empires oder imperialisierenden Nationalstaaten“ mit einem deutlichen Fragezeichen schreiben. Damit wird aber gerade die Funktionalität des imperialen Ergänzungsraums für die Nationalisierung der Metropolen und für die Reaktion des Gesamtkomplexes auf globale Herausforderungen ausgeblendet, die es besonders verdiente, vergleichend untersucht zu werden, denn hier waren die vier Empires offenkundig unterschiedlich erfolgreich.

Zum Zweiten bleibt dies bei allen Ausgriffen nach Indien, Sibirien, Nordafrika und Galizien ein im Wesentlichen innereuropäischer Vergleich, der die neue Einbettung der Empires seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine „global condition“ außer Acht lässt. Hier wäre eine breitere Rezeption der Empire-Debatte innerhalb der Globalgeschichte wohl von Gewinn gewesen, denn die Transformation der Imperien lediglich aus internen Faktoren oder allein aus einer europäischen Mächtekonkurrenz zu erklären, dürfte nicht völlig befriedigen.

Drittens schließlich ist mit der Fixierung auf die Epoche bis zum Ersten Weltkrieg das Thema der Auflösung der Empire-Strukturen nur partiell erfassbar. Das liegt durchaus in der Intention der Verfasser, denen es um deren Persistenz gegen eine voreilige These vom Obsoletsein des Imperialen geht. Die Heraufkunft von Mächten, die dezidiert den alten Imperien eine Absage erteilten (etwa verbunden mit dem amerikanischen Ausgriff auf die Reste spanischer Herrschaft in der Karibik) und sich (entgegen aller eigenen Ambition und Praxis) als postimperial inszenierten und damit für das eingangs beobachtete Negativimage der Empires verantwortlich zeichneten, bleibt damit unerörtert.

Zugleich zahlt der Leser einen gewissen Preis für die vorzügliche Informiertheit zweier Spezialisten unterschiedlicher europäischer Regionen - die stilistische und argumentative Kohärenz, die man gemeinhin mit dem Genre des Essays verbindet, tritt zuweilen hinter die Aufzählung von Details zurück. Dafür entschädigt eine knappe Zusammenfassung - gewissermaßen ein Essay im Essay -, die Hervorhebung verdient. Das Argument, dass die Geschichte der Empires „zum Kern einer europäischen Geschichte in vergleichender Absicht“ (S. 110) gehört, ist nach Lektüre dieses Bändchens erst recht nicht mehr von der Hand zu weisen.

Matthias Middell, Leipzig

Fußnoten:


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