ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Roma und andere Europäer. Sammelrezension zu:

In Europa leben über zehn Millionen Roma, davon etwas 200.000 in der Bundesrepublik Deutschland. (1) Bei dieser größten „Minderheit“ handelt es sich um eine äußerst heterogene Bevölkerung, die durch historische Macht-Wissen-Diskurse (Michel Foucault) als „Zigeuner“ konstituiert wurde. Sklaverei, Zwangsarbeit und Vertreibung sind Bestandteil der vormodernen Geschichte dieser Menschen. Gesetze, Maßnahmen, Verordnungen markierten ihren staatlichen Ein- und Ausschluss. Stigmata und Stereotype prägten die wissenschaftlichen Beobachtungen ebenso wie die Alltagswahrnehmung der Mehrheitsbevölkerung. Das ‚negative‘ wie das ‚positive‘ Klischee verortet die Roma bis heute jenseits der ‚normalen‘ Bürgerwelt. Die Konstruktion einer ethnischen Zugehörigkeit wird herangezogen, um diese historisch gewachsene Ungleichheit zu erklären. Diese Rationalisierung von Ungleichbehandlung aufzuzeigen, festgezurrte Wissensordnungen zu dekonstruieren und neue Blickweisen und Narrative zu entwickeln, nicht nur über, sondern auch von Roma selbst kann als die aktuelle Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung begriffen werden. Im Folgenden werden seit 2008 erschienene Publikationen zum Thema „Roma“ vorgestellt. Neben historischen Arbeiten handelt es sich um literaturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und kunsthistorische Untersuchungen ebenso wie um Ausstellungskataloge und einen Bildband. Zwei nicht rezensierte Publikationen, die sehr zu empfehlen sind und einer eigene Besprechung lohnen, sind an passenden Stellen in Fußnoten angeführt.

Der Blick in die europäische Zeitgeschichte fällt zunächst auf Auschwitz als dem zentralen Ereignis des 20. Jahrhunderts. Zumindest für Deutschland kann gesagt werden, dass der nationalsozialistische Völkermord - in der Sprache der Roma „Parrajmos“ (deutsch „das Verschlingen“ oder auch „das Verschlungene“) genannt - den tiefsten Punkt der Nicht-Beziehung zwischen Gadje und Roma markiert. Bei den Verfolgten wirkt diese historische Erfahrung der angedrohten oder vollzogenen Vernichtung ihrer Angehörigen bis heute traumatisch nach. Einen differenzierten Überblick über Schritte, Phasen und Rechtfertigungen ebenso wie Aufgabenteilung, Verantwortung und Folgen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gibt der von Michael Zimmermann herausgegebene Sammelband „Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts“, der als dritter Band der Beiträge zur Geschichte der deutschen Forschungsgemeinschaft erschienen ist. Auschwitz markiert hier nicht den ‚Zivilisationsbruch`; vielmehr werden die Kontinuitätslinien von Verfolgungs- und Stigmatisierungsprozessen betont und für den Nationalsozialismus das enge Zusammenspiel von wissenschaftlicher „Rassen“-analyse und staatlichen Maßnahmen herausgearbeitet. Nach einem Problemaufriss mit Beiträgen über Politiken, Diskurse, literarische Kodierungen und die Eugenik als wissenschaftlich anerkannte Lehrmeinung (S. 13-123) folgen im zweiten Teil des Sammelbandes Länderstudien zu Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und Spanien (S. 125-298). Die Beiträge im dritten Teil widmen sich allesamt der Vertiefung bereits bekannter Aspekte der nationalsozialistischen Forschungs- und Verfolgungspolitik. Die spezifische Zusammenstellung der Aufsätze gewährt einen präzisen Einblick in das arbeitsteilige Vorgehen und die Praxisrelevanz der wissenschaftlichen Wissensproduktion. Die fundierten Quellenkenntnisse der Autorinnen und Autoren überzeugen und die Blickweisen der Verfasser vermitteln neue Einsichten in das Geschehen. Insbesondere der Beitrag von Eve Rosenhaft ist sehr spannend, denn er dokumentiert den enormen Vertrauensmissbrauch von Forscherinnen und Forscher gegenüber ihren „Studienobjekten“. Gerade die romantisch-ethnologisch arbeitenden Tsiganologen und Journalisten scheinen besonders vielversprechende Informationen über die stigmatisierte Gruppe geliefert zu haben. Viele dieser ‚Sachverständigen‘ oder auch ‚Experten‘ hegten eine „kleine Liebe zu Zigeunern“ (S. 333), wie der Schriftsteller Hanns Wetzel, selbst ‚Roma-Forscher`, es ausdrückte. Diese Rechercheure liebten es vor allem auch, ‚Zigeuner‘ zu fotografieren. (2) Die Informationssammlung erfolgte vielfach ganz ohne Zwang und oft unter Vortäuschung ‚echter‘ Emotionen, angefangen von dem geäußerten Interesse an Roma, einer Fürsorgegewährung bis hin zu sogenannten Liebesbeziehungen. Im vierten Teil des Bandes (S. 463-531) wird die Entwicklung nach 1945 aufgezeigt im Spannungsfeld von Kontinuitäten und Neuerungen in den Kriminalwissenschaften, in der sozialen und kulturellen Marginalisierung und Diskriminierung und den verschiedenen Phasen der kommunalpolitischen und sozialpädagogischen ‚Bekümmerung`.

Ein bislang in der Genozidforschung völlig unterbelichtetes Kapitel hat Martin Holler im Auftrag des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma untersucht. Die Ergebnisse der vom Auswärtigen Amt geförderten Studie sind publiziert in der Monografie „Der nationalsozialistische Völkermord an den Roma in der besetzten Sowjetunion (1941-1944)“. (3) Recherchiert hat der Verfasser vor allem in staatlichen Archiven der russischen Föderation und viele der dort gefundenen Aussagen von Zeugen, unter anderem gegenüber den sowjetischen Ermittlungskommissionen am Ende des Zweiten Weltkriegs, ins Deutsche übersetzt. (4) Entlang des Rasters der deutschen Kriegsführung - Heeresgruppe Nord, Mitte und Süd - werden insbesondere die Massenerschießungen von Roma durch die Einsatzgruppen rekonstruiert - und damit ein Kapitel des Völkermords, das im Rahmen der Holocaustforschung eher an den Rand gedrängt beziehungsweise auch völlig negiert wurde. Neben interessantem Detailwissen, beispielsweise über die im Rahmen der sowjetischen Siedlungspolitik entstandenen Roma-Kolchosen und die enormen geografischen Unterschiede in der NS-Verfolgungspolitik, sticht die unglaubliche Bestialität der Täter bei den Erschießungsaktionen besonders hervor. Den Vernichtungswillen der deutschen und mit ihnen kollaborierender Täter gegenüber den jüdischen und slawischen „Untermenschen“ haben Autoren wie Christopher Browning und Daniel Goldhagen bereits hervorgehoben; dieser in der autoritären Gesellschafts- und Charakterstruktur verankerte Hass nahm gegenüber den Roma besonders zynische Formen an. Ende Februar 1942 trieb eine Einsatzgruppe bei minus 30 Grad im Dorf Filippovščina die Roma halbbekleidet aus ihren Häusern und versammelte sie auf einer Brücke am Dorfeingang. Hier wurden sie gezwungen, vor den Augen aller Anwesenden zu tanzen, bevor sie mit Maschinengewehren erschossen wurden. Die russischen Dorfbewohner mussten die Leichen begraben, so auch einen zehnjährigen Jungen bei lebendigem Leibe (S. 34). Ähnliche Begebenheiten fanden in nahezu allen Regionen statt. Auf der Krim, im Wirkungsfeld der der Heeresgruppe Süd zugeordneten Einsatzgruppe D, gab es eine ungewöhnliche und unerwartete Solidarität mit den Verfolgten. Mit Hilfe eines Mullahs an ihrer Spitze, einer grünen Fahne und moslemischen Glaubenssymbolen versuchten die zur „Umsiedlung“ ins Talmud-Thora-Gebäude aufgerufenen Roma die deutschen Besatzer davon zu überzeugen, dass ihre Verfolgung auf einem Missverständnis beruhe (S. 92). Zu ihrer Unterstützung wandten sich moslemische Komitees und Bürgermeister auf der Krim mit Gesuchen an die deutschen Behörden, um die Verschonung ‚ihrer‘ Roma zu erbitten.

Diese „Wahrheitsspiele“ (Michel Foucault) zielten darauf ab, in der existenzbedrohenden Krise Überleben zu ermöglichen - wenn auch, wie auf der Krim, diese Bemühungen leider nicht erfolgreich waren. In anderen historischen Situationen hatten sich multiple Identitätsbildungen und Camouflagen jedoch durchaus als Hilfe beim Überleben erwiesen. Dieser strategische Umgang mit der Macht war und ist symptomatisch für die Situation der Roma in Europa. Ihr Handlungsmotiv war dabei ein humanitäres, nämlich das Existenzrecht ihrer verfolgten Gruppe einzufordern, ohne selbst Waffen oder andere gewaltsame Mittel einsetzen zu müssen. Erfindungsreichtum und List, situative Unterwürfigkeit oder Rebellion, Appelle an die Gerechtigkeit oder die Flucht und das Verstecken haben sich als Strategien bewährt und sind als Erfahrung in das kollektive Gedächtnis der Roma eingegangen.

Herbert Uerlings und Julia-Karin Patrut legen in dem Sammelband „,Zigeuner‘ und Nation. Repräsentation - Inklusion - Exklusion“ verschiedene Beiträge zu Praktiken und Repräsentationen des Ein- und Ausschlusses der Roma in Europa mit Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert vor. Aus Sicht der Literatur-, Geschichts- und Medienwissenschaften sowie der Kunstgeschichte werden kulturelle Lesarten des Zigeuner-Diskurses vorgestellt. In den Blick genommen werden darüber hinaus die politischen Verhältnisse in Mittel- und Osteuropa, wo seit 2005 die von der Weltbank, dem Open Society Institute und einigen Regierungen gestartete Initiative „Decade of Roma Inclusion“ die soziale Inklusion der Roma befördern soll. Der in sieben Kapitel plus Abbildungs- und Autorenverzeichnis gegliederte Sammelband (5) wird eingeleitet durch einen Überblicksbeitrag der Herausgeber zum Thema „,Zigeuner`, Europa und Nation“. Das erste Kapitel „Repräsentation, Nation und Totalexklusion“ beinhaltet den zentralen programmatischen Beitrag des Bandes. Anhand von zwei ausgewählten Fallstudien zeigt Herbert Uerlings, dass es nach 1945 zu keiner grundlegenden Revision der Repräsentationsmuster gekommen ist - auch wenn auf den ersten Blick die Unterschiede auffallen mögen. Während Leni Riefenstahl in ihrem Film „Tiefland“ (Dreharbeiten 1940 bis 1944, Uraufführung 1954) sich selbst als „weiße Zigeunerin“ (S. 85) imaginierte und Roma-Komparsen aus Konzentrationslagern im Film mitspielen ließ, vermeidet Elfriede Jelinek in ihrer Rekonstruktion des Mords an vier Roma im österreichischen Burgenland jegliche Darstellung der Opfer. In dem 1996 uraufgeführten Theaterstück „Stecken, Stab und Stangl“ wird nur pausenlos über ‚Zigeuner‘ geredet - und endlos gestrickt, ein Bild, dass für die harmlose ‚Handarbeit‘ des alltäglichen Antiziganismus steht. Jelinek will zeigen, dass nicht die Roma, sondern das „Heimisch-Heimelige [...] das Unheimliche“ ist (S. 133). Aber auch dieser mythenkritische Beitrag ermächtigt nicht die Roma selbst zum Sprechen, so die Kritik Herbert Uerlings an der „Gadje-Autorin“ (S. 134). Stattdessen wird der jüdische Dichter Paul Celan bemüht. Diese Parallelisierung von ‚Zigeunern‘ und Juden als Gegenbilder der Moderne blendet aus, dass beide Gruppen durchaus verschiedene Wunschvorstellungen über „fremde Völker in Europa“ (S. 169) repräsentieren. (6) In den drei Beträgen des zweiten Kapitels werden genau diese Diskursverschränkungen in der Wissensproduktion der bürgerlichen Gesellschaft näher untersucht (S. 137-199). Der kulturelle Antiziganismus steht im Fokus der beiden Beiträge des dritten Kapitels über den Boheme-Diskurs um 1900 (S. 203-246). Neben den Beweisführungen der Kriminalistik und der darwinistisch fundierten Rassenhygiene sind für diese Zeit durchaus auch wohlwollend interessierte und vergleichsweise vorurteilsfreie Bilder über ‚Zigeuner‘ bis hin zu antiziganistischen Stellungnahmen zu finden. Inwieweit die von den jeweiligen Autoren vorgenommenen Zuordnungen beziehungsweise Bewertungen geteilt werden können, möge der Lektüre und Urteilsbildung der Leserinnen und Leser selbst überlassen bleiben. Die vier Beiträge im vierten Kapitel behandeln die Themen „Erfassung, Verfolgung und Spurensuche“ (S. 249-377). Der Beitrag von Juliane Hanschkow über „Etikettierung, Kriminalisierung und Verfolgung von ‚Zigeunern‘ in der südlichen Rheinprovinz zur Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik 1906 bis 1933“ (S. 249-271) erzählt besonders anschaulich die Sozialgeschichte eines stigmatisierenden Zuschreibungsprozesses durch immer neuer bürokratische Hürden und Sackgassen. „Der Begriff ‚Zigeuner`“, so Hanschkow, „wurde vor allem dann genutzt, wenn Zweifel an der Identität und Rechtschaffenheit einer Person oder Gruppe bestand“ (S. 253). Im Unterschied zu dieser machtvollen Realitätsprägung erscheinen die „Geschichten vom Überleben“, die der Schriftsteller Colum MacCann in seinem 2007 in deutscher Sprache erschienenen Roman „Zoli“ erzählt, wie eine „,Musealisierung‘ der Roma-Kultur“, so die Kritik Klaus-Michael Bogdals (S. 365-377). Lediglich kurz erwähnt werden sollen an dieser Stelle die Beiträge im sechsten Kapitel, die Zigeuner-Mythen des Alltags - Wahrsagen, Hexerei, Kindesraub - dekonstruieren möchten, ebenso wie die Rekonstruktionen des Begriffs „Zigeuner“ im Grimmschen Wörterbuch sowie im Brockhaus im siebten Kapitel des Sammelbandes.

Besonders hervorgehoben werden soll hingegen das fünfte Kapitel mit sechs Beiträgen zu Osteuropa (S. 381-491). Neben literaturwissenschaftlichen Analysen geht es hier - ungewöhnlich politisch für diesen primär literaturwissenschaftlich ausgerichteten Band! - um die aktuelle Roma-Politik der EU, insbesondere in Rumänien und Bulgarien, wo heute nahezu 250.000 Roma leben, also ca. ein Viertel der gesamten europäischen Roma-Bevölkerung. Allein ein Blick auf die zehn bis zwölf Jahre geringere Lebenserwartung zeigt die mangelhafte Inklusion in das Gesundheits-, Bildungs- und Wirtschaftssystem. Wohin die EU-Gelder fließen, die unter besonderer Berücksichtigung der Minderheiten-Problematik zum zivilgesellschaftlichen Aufbau in diesen Ländern beitragen sollen, ist für außenstehende Beobachter schwer nachzuvollziehen. Das Jahrzehnt der Roma-Inklusion wird möglicherweise an der Lage der Roma-Bevölkerung nicht so viel ändern wie erhofft. Auch in einem erweiterten Europa scheinen nationalstaatliche Ordnungsvorstellungen und populäre Pogromstimmung vielfach die Oberhand zu behalten gegenüber einer notwendigen individuellen und kollektiven Schutzgewährung. Die Roma-Familien, die im Zuge des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, befinden sich ebenfalls in einer prekären Lage. Dies zeigt sich insbesondere in der Bildungssituation der Kinder und Jugendlichen. (7) Seit 2005 werden zwar einige Schulen, Schulvorbereitungs- und Schulbegleitungsinitiativen für Roma-Kinder unterstützt, zum Beispiel das Projekt „Schaworalle“ in Frankfurt am Main und „Amaro Kher“ in Köln, aber ein Schutz vor Abschiebung leitet sich für die Kinder und Jugendlichen aus diesem Vorschul- und Schulbesuch nicht ab.

Viele in Deutschland lebende Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien sind auch im Zuge der sogenannten Gastarbeitermigration seit den 1960er Jahren in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert. Die Sozialwissenschaftlerin Elizabeta Jonuz geht unter der Überschrift „Stigma Ethnizität“ in fünf Kapiteln der Frage nach, wie diese Roma-Familien der „Ethnisierungsfalle“ begegnen. Im ersten Kapitel wird in historischer Perspektive die mit der Migration verbundene Genese von Minderheiten in der deutschen Geschichte rekonstruiert (S. 17-51). Im zweiten Kapitel wird die Verwendung der Begriffe „Ethnizität“ und „Kultur“ in der soziologischen Diskussion kritisch beleuchtet (S. 54-81). Die stigmatisierenden Zuschreibungsprozesse kommen, so Jonuz, bei den Betroffenen in Form einer Selbst-Ethnisierung zum Ausdruck (S. 82-100), obwohl innergesellschaftlich diese Differenz von „endogener Belanglosigkeit“ (S. 78) sei. Im dritten Kapitel stellt die Autorin Forschungsdesign und Methode der Untersuchung vor (S. 100-126), und im vierten Kapitel werden dann die Ergebnisse der empirischen Studie präsentiert (S. 127-288). Auf fünf Seiten folgen im fünften Kapitel ein Resümee und Ausblick (S. 289-293). Elisabeta Jonuz orientiert ihre Analyse an der figurativen Soziologie von Norbert Elias und dessen Beobachtungen zum Verhältnis von Etablierten und Außenseitern. Demnach entsteht bei der ethnisierten beziehungsweise stigmatisierten Gruppe ein Gefühl der Minderwertigkeit, auf das mit individuellen Bewältigungsstrategien reagiert wird. Die präsentierten qualitativen Interviews eröffnen einen ressourcenorientierten Einblick in die (Selbst-)Wahrnehmungen von drei Roma-Generationen. Während in der ersten Generation das „Stigma“ verborgen blieb und soziale Integration durch Berufstätigkeit glückte, findet in der zweiten Generation seit den 1970er Jahren ein partielles Eingestehen und Öffentlichmachen der Roma-Identität statt. Aufstieg erfolgt in dieser Generation durch Bildung. In der dritten Generation bekennt man sich. Gleichzeitig wird das Stigma „Zigeuner“ zurückgewiesen, unter anderem durch die Berufung auf Gleichstellung, Gerechtigkeit und interkulturelle Kompetenz. Der andauernde soziale Ausschluss, so die Autorin, beruhe zwar auf einem „Mythos“ (S. 292). Inklusion bei gleichzeitiger Anerkennung von Differenz sei jedoch nur möglich auf der Grundlage eines neuen Gesellschaftsvertrags (S. 293) - der jedoch, wenn man in die Geschichte schaut, vor allem eine ‚Revolution‘ oder auch Transformation im Denken und Handeln der Mehrheitsgesellschaft voraussetzen würde.

Der Stellenwert der Bildung in der Entstehung und Verfestigung von Ungleichheit ist auch das Thema des Erziehungswissenschaftlers Olaf Beuchling. In seiner Studie „Zwischen Payos und Gitanos. Eine Studie zur ethnischen Bildungsungleichheit in Spanien“ möchte er erklären, warum Bildungsprogramme für die Gitano-Bevölkerung relativ erfolglos bleiben. Beuchling fügt die Ergebnisse empirischer Studien, die Bemühungen politischer Programme und wissenschaftliche Betrachtungsweisen zu einer Analysefolie zusammen, um auf dieser Grundlage zu erkenntniserweiternden Einsichten in die Möglichkeiten und Grenzen von Bildungsförderung zu gelangen. Die mit dem hohen Stellenwert von Bildung verbundene Ideologie der „individuellen Leistung, der wettbewerbsorientierten Chancengleichheit und der gesellschaftlichen Integration“ (S. 95) wird von der Roma-Minorität eher als Bedrohung der Integrität ihrer Gemeinschaft erlebt. Dem zugrunde liegt, wie der Verfasser ausführt, ein „originäres Gesellschaftsverständnis“, das sich insbesondere auf den Interaktionskontext im Alltag, die Regulierung von Bedürfnissen und spezifische kollektive Wissens- und Gedächtnisressourcen stützt. Disziplinierung im Sinne einer Anpassung an den Rhythmus von Institutionen, seien es nun Büros, Schulen, Fabriken oder Fitnessstudios, und das mit dieser ‚modernen‘ Gesellschaftsorganisation verbundene abstrakte Beziehungs- und Politikverständnis erscheinen den Roma-Familien nicht nur wenig erstrebenswert, sondern werden vielfach sogar als Verrat an der Gemeinschaft wahrgenommen. „Konkurrierende Güterkonzeptionen“ liegen nach Beuchling der „ethnischen Demarkationslinie“ zugrunde. Diese verschiedenen In-Wert-Setzungen stellen den hegemonialen Bildungsdiskurs infrage und verlangen von der Mehrheitsgesellschaft eine Anerkennung anderer Formen des Wissens, wie dies auch von postkolonialen, subalternen und gender-orientierten Bildungsansätzen gefordert wird.

Welch kreatives Potenzial die größte Minderheit in der europäischen Union besitzt, wurde einem internationalen Publikum vor Augen geführt, als die Biennale in Venedig des Jahres 2007 zum ersten Mal in einem Pavillon mit dem Titel „Paradise lost“ die Werke von zwölf europäischen Roma-Künstlerinnen und -Künstlern vorstellte. Dass die Ausstellung „Die vergessenen Europäer. Kunst der Roma - Roma in der Kunst“ vom 5. Dezember 2008 bis zum 1. März 2009 im Kölner Stadtmuseum gezeigt wurde, kann als Folge dieser zunehmenden gesellschaftlichen Bewusstwerdung gedeutet werden. (8) Der von Kurt Holl für den Rom e.V. herausgegebene gleichnamige Katalog präsentiert in zwei Teilen die Werkschau. Im Teil I werden zeitgenössische Kunst und Poesie (S. 14-88) von Roma aus verschiedenen europäischen Ländern vorgestellt, also Malerei, Fotografien, Objektinstallationen, Collagen und Gedichte, ergänzt durch Statements und Biografien der Künstlerinnen und Künstler. Daniel Baker dekorierte seine Kunst aus Glas und Spiegeln mit Figuren und Symbolen der Roma-Traditionen: Rosen, Pferde, Hähne und Wohnwagen. Auch Gabi Jiménez‘ zusammengesetzte Installationen stecken voll ‚verborgener Bedeutung`: Die Wohnwagen sind überall, auch wenn man sie kaum erkennen kann, und die Roma haben riesige Augen, aber keinen Mund, mit dem sie sprechen könnten. In Katarzyna Polloks ornamentalen Bildern fließen die Kenntnisse des indischen Roma-Erbes, östliche Philosophien und westliche Bildwelten ineinander. Politische Assoziationen ruft die Fotopräsentation von Kàlmàn Várady wach. Er fotografierte Menschen in polizeidienstlicher Erkennungsmanier einmal frontal, dann im Profil und schließlich die Hände - im Bruch mit der kriminalistischen Tradition des Fingerabdrucks. Zwischen den abgebildeten Menschen stellt er so Ähnlichkeiten her, und konstruiert auf diese Art und Weise ‚seine‘ Roma-Familie. Judith M. Horváth setzt die Tradition der engagierten Sozial-Fotografie fort. Die Roma werden nicht zu Objekten und Opfern stilisiert, sondern das Medium transportiert ihre Persönlichkeit. Lita Cabelluts Bilder zeigen die „Väter“ der Roma-Kultur als starke, charismatische Persönlichkeiten: „Limon die hohe Stimme der Seele [ist], Django das Lächeln des Lebens, und Tomillo die scharfe Spitze, die das Herz durchbohrt und den Tod mit Hoffnung infiziert“. Profaner geht es bei Nihad Nino Pu_ija zu. Die Fotoarbeiten mit dem schlichten Titel „Zigeuner Art 1-15“ konfrontieren die Betrachter mit Werbe-Klischees: Zigeunerhacksteak, -salat, -sauce oder -klößchen werden ‚angeboten‘ (S. 66ff.). Gedächtnisintensiv, ernsthaft, nahezu rituell wirken hingegen die Objektinstallationen von Eva Ohlow zur Wallfahrt der Roma am 15. August im Kölner Dom oder zur Erinnerung an das Kölner NS-Lager „Schwarz-Weiß“ vor und während der NS-Zeit (S. 58f.). Auch die in verschiedenen Workshops mit Künstlerinnen und Künstlern erstellten Werke der Kinder der Kölner Roma-Schule „Amaro Kher“ zeugen von Kreativität und einem emotionalen Bildschaffen, das Botschaften vermittelt, ohne dass erklärende Worte notwendig sind (S. 83ff.).

Im Teil II des Ausstellungskatalogs werden „Zigeunerbilder“ in historischen Kunstwerken und populären Darstellungen von Nicht-Roma seit dem 15. Jahrhundert gezeigt. Die meisten Gemälde aus Kölner Museen lassen bestimmte Stereotype erkennen: Zigeunerlager, Wahrsagerei, Diebstahl, Bettelei, Tanz und Kinderraub. Das Bild vom „fahrenden Volk“ dient als Projektionsfläche für Ängste, Sehnsüchte und andere zum Teil skurrile Phantasien. Es lässt sich nicht immer sagen, ob die Maler unreflektiert antiziganistische Stereotype reproduzieren oder dem Betrachter nur einen Spiegel vor Augen halten möchten. Hinzu kommen historische Verschiebungen in den Wahrnehmungsformen und Urteilskriterien. Auch Otto Müllers „Zigeunermappe“ ist schwer einzuordnen: Der Maler hat Roma bei einem Aufenthalt auf dem Balkan getroffen, mit ihnen gelebt und sie porträtiert. Ein zwangsweise vorgegebenes Blickregime ‚bedienen‘ musste die Malerin Dina Gottliebova, als sie als jüdische Inhaftierte in Auschwitz auf Befehl des KZ-Arztes Josef Mengeles sechs zur Vernichtung bestimmte ‚Zigeuner‘ porträtieren musste, um deren „Rassenmerkmale“ festzuhalten. Im Unterschied dazu konnte sich Pablo Picasso frei entscheiden. Seine Roma-Porträts, die Gaukler, Schausteller, Bärenführer und Künstler zeigen, basieren auf Gedichten seines Freundes Guillaume Apollinaire, die dieser zwischen 1901 und 1902 im Rheinland schrieb. Diese Gedichte und Bilder inszenierten Alterität (9) und stellten damit existenzielle Fragen an die Moderne. Rainer Maria Rilke, der sich von Picassos Bildern inspirieren ließ, drückte dies in seiner fünften Duineser Elegie folgendermaßen aus: „Wer sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig / Flüchtigeren noch als wir selbst die dringend von früh an / wringt ein wem, wem zur Liebe / niemals zufriedener Wille?“ (S. 133).

Nur wenige Künstler wie beispielsweise der Düsseldorfer Otto Pankok näherten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihren Werken dem Verfolgungsschicksal und dem realen Menschsein der Sinti und Roma. Die Tochter des Malers, Eva Pankok, und Romani Rose haben den Ausstellungskatalog „Otto Pankok. Sinti-Portraits 1931-1949“ herausgegeben. Pankoks Kohlezeichnungen zeigen namentlich genannte Sinti mit denen er in den 1930er Jahren in Düsseldorf zeitweise zusammenlebte und zu denen er sich trotz NS-Repressalien bekannte. Auf einem Gelände, auf dem die Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg ein Munitionslager besaßen und das nach ihrem Abzug als Brachland galt, hatten Erwerbslose eine Siedlung gebaut, wo sich auch Fahrende ansiedelten. Otto Pankok richtete sich hier ein Atelier ein und wurde zum „Molari“, zum Maler der Anwohnerinnen und Anwohner. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch lebte er zurückgezogen in einem kleinen Dorf in der Eifel und setzte sich nach Ende des Kriegs für Wiedergutmachung und Anerkennung des Unrechts an den Roma ein.

Der von Joakim Eskildsen und Cia Rinne herausgegebene Fotoband „Die Romareisen. Le romané phirimàta“ möchte der Mehrheitsgesellschaft über das Medium Fotografie die Lebenswelt der Roma in Europa nahebringen. Nach nur zwei Jahren ist der Band 2009 in zweiter Auflage erschienen, mit einem Vorwort von Günter Grass und einer beigelegten CD mit Tonkollagen. Unter dem Motto „Ce mundró o miró/Wie schön ist die Welt“ werden Szenen aus Roma-Stadtteilen meist kleinerer Städte in Ungarn, Rumänien, Griechenland, Frankreich, Russland und Indien vorgestellt. Jedes der sieben Porträts wird mit einer kurzen Milieuschilderung eingeleitet, es folgen die zum Teil doppelseitigen Fotografien ohne Titel oder Unterschrift. Am Ende des Bildbandes gibt es ein Verzeichnis der Abbildungen und ausgewählter Quellen. Der Band ist beeindruckend, die Reaktionen sind vielfältig. Ein Kollege meinte, die Bilder würden Armut ästhetisieren, eine Freundin sagte, die Bilder stimmten sie zu traurig, ein anderer Betrachter sah in den Gesichtern der abgebildeten Menschen die Lebensfreude. Ich selbst weiß nur, dass es ein wunderschönes Buch ist mit Essays und Fotografien von Menschen, die ebenfalls wunderschön sind. Aber Fotografien sind vielseitig nutzbar. Auch in diesem Fall möge das Urteil den Leserinnen und Lesern selbst überlassen bleiben, und sicher wäre eine kritisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Fotografien lohnenswert. (10)

Studien zur Situation und Repräsentation der Roma können zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf vielfältige Theorien und Methoden zurückgreifen. Die Cultural Studies, diskursanalytische und ethnologische Verfahren ebenso wie postmoderne, postkoloniale und subalterne Ansätze scheinen besonders geeignet zu sein, wenn der Lebensstil einer transnationalen, historisch kolonisierten, vor allem oral überlieferten und auf den Erhalt der eigenen Community ebenso wie auf gesellschaftliche und politische Teilhabe ausgerichteten Gesellschaft rekonstruiert werden soll. Ausgehend von einer seit 600 Jahren bestehenden Grundsituation, in der die Roma die Kehrseite des europäischen Staatenbildungsprozesses und seiner Homogenitätsvorstellungen erfuhren und zu „Objekten“ von gewaltsamen Exklusionsprozessen wurden bis hin zum Völkermord, muss es zu Beginn des 21. Jahrhunderts darum gehen, diese scheinbare ‚Normalität‘ nicht länger als gegeben hinzunehmen. Wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung thematisieren daher Machtasymmetrien sowie das verzerrte Blickregime und suchen nach neuen Formen der (Selbst-)Repräsentation, nach Anerkennungspraktiken und Gerechtigkeitsverfahren. Gleichheit in der Differenz ist im Sinn der Dekonstruktion zu verstehen als Mannigfaltigkeit von Unterschieden, die sich nicht in hierarchische Systeme einpassen lassen. Die aktuellen globalen Transformationsprozesse deuten allerdings auch auf eine Zunahme von eindimensionalen Zuschreibungen, Ausschlüssen und Unterschichtungen hin. Es ist also erstens zunächst wichtig, die Verletzungen und Traumata anzuerkennen, die alle Roma aufgrund ihrer kollektiven historischen Behandlung nur zu gut kennen. Darüber hinaus ist es unabdingbar, dass Roma selbst das Wort ergreifen und sich in den wissenschaftlichen und kulturpolitischen Diskurs einmischen mit Texten, Bildern, Fotos und Filmen. Und drittens muss auch über Ökonomien, Zugehörigkeits- und Wertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft gesprochen werden. Der Appell, Veränderungen einzuleiten und Menschen bedingungslos und grundsätzlich als Menschen wertzuschätzen, richtet sich nach Giorgio Agamben demzufolge auch vor allem an all die anderen Europäerinnen und Europäer: „Eine pólis und eine oikía zu suchen, die auf der Höhe dieser [...] voraussetzungslosen [Roma, d.V.] Gemeinschaft sind, ist die [...] Aufgabe der kommenden Humanität.“ (11)

Anne Klein, Köln

Fußnoten:


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