ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Recht und Demokratie in den Vereinigten Staaten. Sammelrezension zu:

Nicht nur Äußerungen aus der Politik und von anderer Seite des Sommers 2010 über die nachträgliche Sicherungsverwahrung von Straftätern angesichts des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, sondern auch jene um die niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan im Frühjahr 2010, dank der das schon etwas länger zurückliegende sogenannte Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts wieder auf die Tagesordnung kam, machen die Spannung zwischen Recht und Demokratie deutlich. Elementare demokratische Rechtsgrundsätze, wie etwa der der Gleichheit vor dem Gesetz, um den es unter anderem in beiden Fällen geht, erscheinen je nach politischer Einstellung mitunter schwer zu akzeptieren. Das ist in den Vereinigten Staaten im Grundsatz nicht anders. Aber bei dem Wirkungsgeflecht von Recht und Demokratie geht es um mehr als um Tagespolitik. Der Interpretation von Recht und Verfassung unter den Gegebenheiten der Demokratie gilt es, sich zumal in Deutschland wissenschaftlich wie politisch zu stellen. Die amerikanische Geschichte bietet dafür eine breite Palette von Antworten, so dass der Blick über den Atlantik erhellend und befruchtend sein kann.

Jack N. Rakoves „Annotated U.S. Constitution and Declaration of Independence“ ist ein handlicher Band, gedacht für den allgemein interessierten Leser von dem heute wohl ausgewiesensten Kenner der Ursprünge der amerikanischen Verfassung und ihrer Bedeutung. Hier kann man rasch und zuverlässig nachschlagen, was die einzelnen Abschnitte beziehungsweise Klauseln der Verfassung und Unabhängigkeitserklärung bedeuten und wie sie gegebenenfalls historisch zu erklären sind. Das ist übersichtlich angeordnet: rechts der amtliche Text, links die Kommentare von Rakove. Benötigen diese mehr Platz, füllen ergänzende sorgfältig ausgewählte Illustrationen die zu überbrückenden Seiten. Eine rund 70 Seiten umfassende Einleitung, 30 Seiten „Calendar of Events“ und eine Auswahlbibliografie runden den gelungenen Band ab. Einen kompetenteren einbändigen Kommentar zu Verfassung und Unabhängigkeitserklärung gibt es derzeit nicht, aber man sollte sich dabei stets bewusst sein, dass es das Werk eines Historikers und nicht der Kommentar eines Juristen ist, wenngleich Rakove die amerikanische Verfassungsentwicklung und einschlägige Rechtssprechung des Supreme Court bis zur unmittelbaren Gegenwart souverän überblickt.

Seth Lipskys Interpretation dessen, was er die „Citizen's Constitution“ nennt, ist dagegen eher in Anlehnung an „The Constitution of the United States Defined and Carefully Annotated“ von George W. Paschal (1868) aufgebaut, den er auch zitiert, und geht wie dieser die Verfassung Bestimmung für Bestimmung durch mit jeweils anschließenden Kommentaren. Hier sind es jedoch nicht die des Historikers, sondern die des Zeitungsmannes in seiner alltäglichen Auseinandersetzung mit der Verfassung. Mithin bietet er keine akademischen Analysen über Ursprung und Bedeutung, sondern, häufig kommentarlos, Aneinanderreihungen von Äußerungen, anfänglich oftmals von Anti-Federalists, dann zunehmend von Supreme-Court-Entscheidungen, wobei er bei kritischen aktuellen Fragen aus seiner Vorliebe für die dezidiert konservativen Positionen von Scalia und Thomas keinen Hehl macht. Der jeweils einleitende Satz, mit dem das 18. Amendment (Prohibition) kommentiert wird, mag den Unterschied zu Rakove deutlich machen. So heißt es bei Lipsky: „This is the only amendment to restrict liberty“(S. 268). Bei Rakove liest man dagegen: „Prohibition can be described as the only successful effort, however brief, to convert a social policy into a constitutional mandate“ (S. 278). Dennoch hat Lipskys Zugang zu seiner „Bürgerverfassung“, eine Bezeichnung, mit der er ja letztlich ihren demokratischen Gehalt zum Ausdruck bringen will, durchaus seine Verdienste. Ich habe hier manches mir neue Detail erfahren. Aber wer jenseits von Verästelungen und mitunter Marginalien wissen will, wo ein bestimmter Artikel herrührt und was er konkret bedeutet, sollte dennoch zunächst zu Rakove greifen. Was er jedoch in beiden Bänden vermissen wird, sind, wenn man das so formulieren will, die Lücken und Defizite der Verfassung, besonders eklatant an dem die amerikanische Geschichte durchziehenden Problem der Bedeutung des Föderalismus. Dazu sagt die Verfassung bekanntlich nur wenig Substanzielles. Entsprechend wenig wird man dazu in den beiden Kommentaren finden.

Für alle, die sich ernsthaft mit Verfassung, ihrer Entwicklung und Verfassungsgerichtsbarkeit beschäftigen, ob in Amerika oder Deutschland, ist dagegen Barry Friedmans „Will of the People“ unverzichtbar. Es geht um die Frage der Entwicklung und heutigen Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit, des „judicial review“, im demokratischen Staat, die Friedman als Verfassungsrechtler an der New York University thematisiert. Worin ist sie rechtlich legitimiert und mit ihr der amerikanische Supreme Court und seine Rechtssprechung, dessen auf Lebenszeit ernannte Richter nicht in einem demokratischen Sinne rechenschaftspflichtig sind? Um diese Frage zu beantworten, unternimmt der Autor einen eindrucksvollen Gang durch die amerikanische Verfassungsgeschichte vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis heute. Diese Geschichte zeige, so Friedman, „how the Supreme Court went from being an institution intended to check the popular will to one that frequently confirms it. And it explains that this occurred as the American people gradually came to understand and then to shape the role played by the justices, thus defining the terms of their own constitutional democracy“ (S. 4).

Auf ungeheuer breitem Quellenmaterial und einschlägiger Literatur basierend, geht es um die Rolle und Durchsetzbarkeit des Gerichts, um politische Auseinandersetzungen mit dem Gericht, um politische und öffentliche Widersetzlichkeit gegen seine Urteile und die Weigerung, sie umzusetzen - in Deutschland immer noch ein eher tabuisiertes und für eine traditionell orientierte Rechtswissenschaft methodisch kaum handhabbares Thema - und den daraus im Laufe der Zeit erwachsenen politischen, juristischen und öffentlichen Lernprozess im Umgang miteinander. Die vielleicht eindrucksvollsten Kapitel des Buchs sind daher die über Franklin D. Roosevelts „Court-packing plan“ von 1937, der hier in neuem Licht erscheint, und die weitere Entwicklung bis zur Gegenwart. Wie konnte das Gericht sich in all diesen Jahrzehnten und besonders seit 1937 durchsetzen und dabei seinen heute in der öffentlichen Meinung unbestrittenen Rang der angesehensten Gewalt im Land einnehmen und behaupten? Laut Friedman erreichte der Supreme Court dies nicht, weil er sich immer wieder durch seine Kassierung von Gesetzen gegen die Öffentlichkeit gestellt habe. Eher müsse nach seiner Überzeugung die Antwort lauten, „the Court ran in the range of popular opinion, sometimes ahead, sometimes behind, but never far from the mainstream. When the Court deviated substantially, it was quickly brought into line“ (S. 364).

Selbst wenn man da das eine oder andere noch einmal etwas genauer lesen möchte und das eine oder andere Urteil jüngerer oder weiter zurückliegender Jahre vermisst, weil es vielleicht doch etwas schwieriger in diese generelle These einzuordnen sein mag, ist Friedman in seinem Schlusskapitel, das zugleich der Versuch einer theoretischen Gewichtung ist, ehrlich genug, auf „Korematsu“ einzugehen (S. 372-374), jenes nicht nur aus heutiger Sicht erschreckende Urteil von 1944, mit dem die Internierung über 100.000 Amerikaner japanischer Abstammung während des Zweiten Weltkriegs für rechtens erklärt wurde. Heißt also jene Orientierung an der öffentlichen Meinung, die ja bewirkt - und hier ist Friedman sicherlich voll zuzustimmen -, dass sich selbst der derzeitige konservative Supreme Court trotz allen politischen Drucks bis heute weigert, Roe v. Wade pauschal zu widerrufen, weil die spätestens seit „Planned Parenthood“ (1992) abgeschwächte Form der legalisierten Abtreibung auf eine Mehrheit in der amerikanischen Bevölkerung stößt, heißt diese Beachtung der öffentlichen Meinung also letztlich auch die Bereitschaft, dem ‚Mob‘ zu folgen? Diese Problematik geht zweifellos über „Korematsu“ hinaus und Friedman stellt sich ihr (S. 382-384), aber er unterstreicht genauso, dass die amerikanische Geschichte keine Beispiele dafür liefert, dass sich das Gericht, allen Widerständen aus Politik und Öffentlichkeit zum Trotz, stets als unerschrockener und kompromissloser Kämpfer für die Einhaltung von Menschenrechten eingesetzt hätte. Das hätte die Institution überfordert und würde schlimmstenfalls ihr Ende bedeuten. „Americans have abolished courts, impeached one justice, regularly defied Court orders, packed the Court, and stripped its jurisdiction. If the preceding history shows anything, it is that when judicial decisions wander far from what the public will tolerate, bad things happen to the Court and the justices“ (S. 375). Hier hätte die Ära George W. Bush weitere, selbst durchaus positive Beispiele - man denke nur an Rasul und Boumediene - geboten, auf die Friedman allerdings nicht mehr eingeht.

Als Fazit bleibt mithin festzuhalten, dass es sich um ein ungemein anregendes und nachdenkenswertes Buch handelt, das auch ohne das Zutun des Autors dank seiner Fragestellung weit über die USA hinausreicht und seinen Eindruck auf die zukünftige Diskussionen der amerikanischen Verfassungsentwicklung und insbesondere des „judicial review“ und der Rolle des Supreme Court hinterlassen wird. Dennoch werden viele Intellektuelle den gegenwärtigen Roberts Court mit seiner in vielen Fragen entschlossenen konservativen Mehrheit nur schwer unter die Friedmansche These einordnen können und eher Ronald Dworkin zustimmen, der jüngst dazu feststellte: „True, the right-wing phalanx of the Court has used its power to overrule the will of the majority in what strikes many of us as an indefensible and dangerous way.“ (1) Dem steht jedoch entgegen, dass Gallup am 9. September 2009 fast ein Zehnjahreshoch mit einer Zustimmungsrate von 61% für die Arbeit des Supreme Court vermelden konnte. (2)

Eine vergleichbar breite und anhaltende öffentliche Auseinandersetzung über das höchste Gericht und seine Urteile unter der Perspektive ihrer demokratischen Legitimation fehlt in Deutschland ungeachtet ihrer demokratischen Notwendigkeit nach wie vor, wo selbst ein Buch wie Barbara A. Perrys „The Supremes“ immer noch nur schwer vorstellbar ist. Dabei könnte es sich an der einen oder anderen Stelle wie eine Bestätigung von Friedmans These lesen, doch läge dies keineswegs in den Intentionen der Autorin. Ihre Präsentation der Richter des obersten amerikanischen Gerichts erschien erstmals 1999 und ist nunmehr um die beiden Ernennungen George W. Bushs (John G. Roberts und Samuel A. Alito) aktualisiert und auf den Stand von 2008 gebracht worden. Bereits dies kann als Indiz für den Stellenwert des Gerichts innerhalb seines demokratischen Umfelds verstanden werden. Neben einer kurzen Einleitung teilt sich der dünne Band mithin in neun Kapitel, ein rund 20-seitiges über den neuen Chief Justice und acht, jeweils 14 Seiten lange Kapitel über die acht Associate Justices, nach Seniorität im Amt geordnet. Jeder Justice wird mit einer einleitenden Biografie und seinen Rechtspositionen vorgestellt, die er bei den sogenannten „landmark decisions“ seiner Amtszeit am Supreme Court - im Falle der beiden jüngst Berufenen teilweise ergänzt um ihre Urteile am jeweiligen Federal Circuit Court - bezogen hat. Dabei geht es zwangsläufig stets um die jeweiligen Entscheidungen zu „abortion“, „affirmative action“, „school prayer“ und „gun rights“ und damit um aktuelle Auslegungen der zentralen Artikel der Bill of Rights sowie des 14. Amendments.

Das Buch bietet auf diese Weise eine übersichtliche und durchweg zuverlässige Einführung in den Supreme Court in seiner personellen Zusammensetzung vor Amtsantritt der Regierung Obama. Mehr wollte die Autorin nicht, und mehr sollte der Leser daher auch nicht erwarten. Er wird hier keine kritische Auseinandersetzung mit der Rechtssprechung des Gerichts finden, keine wertende Abwägung unterschiedlicher Positionen und ihrer rechtsphilosophischen oder politischen Begründungen. Angesichts der Konzentration auf die genannten Problembereiche werden andere praktisch völlig ausgeblendet, so etwa der Föderalismus. Selbst die innen- und rechtspolitischen Dimensionen von Bushs Krieg gegen den Terror werden eher marginalisiert. Das mag mit einer konservativen Grundhaltung der Autorin zusammenhängen, viel stärker ist jedoch der Eindruck des rein hagiografischen Hofberichts, weitgehend gestützt auf Zeitungsberichte (Washington Post und New York Times), Gerichtsurteile und einem Minimum an wissenschaftlicher Literatur. Dieser Grundtenor ist bedauerlich, zumal die Autorin durchaus als Verfassungsrechtlerin ausgewiesen ist, da er den Wert des Bandes für jede weiterführende Auseinandersetzung mit dem Supreme Court und dessen Einordnung in die Problematik von Recht und Demokratie deutlich mindert.

Die öffentliche Meinung, die laut Friedman heute ein wesentlicher Orientierungspunkt für die Rechtssprechung des Supreme Court ist, ist das zentrale Thema in Colleen A. Sheehans „James Madison and the Spirit of Republican Self-Government“, einer tiefgründigen Untersuchung des politischen Denkens von James Madison, dem „Vater“ der amerikanischen Verfassung von 1787 und der Bill of Rights von 1791 und dem vierten Präsidenten der Vereinigten Staaten (1809-1817). Sheehan baut ihre Analyse des Madisonschen Denkens insbesondere auf seine sogenannten „Party Press Essays“ auf, jenen 17 Essays, die Madison 1791/92 anonym in der National Gazette veröffentlichte. Diese setzt sie in Beziehung zu seinen Beiträgen zum Federalist (1787/88) und zu zahllosen weiteren Äußerungen Madisons, darunter seinen „Notes on Government“ (1791/92). Der zeitliche Schwerpunkt ihrer Abhandlung fällt entsprechend in die frühen 1790er Jahre und die Auseinandersetzungen um die Finanz- und Wirtschaftspolitik von Alexander Hamilton, wenngleich die Politologin auch zeitlich darüber hinausblickt, zumal sie eingehend den Einfluss französischer Autoren (unter anderem von Condorcet) auf Madison behandelt und sein Denken von dem Hamiltons, John Adams, Jeffersons und weiteren abgrenzt.

Das Ergebnis ist ein durchaus neuartiger Zugang zu Madison und seinem Denken, ist er doch für sie „the first democratic theorist in America to make explicit the central importance of public opinion to free government and the conditions that are needed for its proper formation and articulation“ (S. 178) und der auf diese Weise Recht und Demokratie in Einklang zu bringen suchte. Madison ist für Sheehan nicht der elitäre Denker, der dem „Volk“ misstraute und es von den politischen Entscheidungen fernhalten oder es darin bevormunden wollte, sondern der, der in dem Bestreben, die Tyrannei der Mehrheit zu verhindern, nach Wegen suchte, die öffentliche Meinung in einer Demokratie zu einem wirksamen Gegengewicht gegen ein Abgleiten in die Tyrannei zu machen. In diesem Sinne versteht Sheehan die jahrzehntelange historiografische Kontroverse um Liberalismus und Republikanismus in der amerikanischen Revolution als ein Gefecht mit Worten und Symbolen des 20. Jahrhunderts, das an dem Denken und Selbstverständnis der Akteure des ausgehenden 18. Jahrhunderts vorbeigehe und - so könnte man ergänzen - zusätzlich auf der irrigen Annahme beruht, es sei in der amerikanischen Revolution um die, auch verfassungsrechtliche, Durchsetzung einer individualistischen Gesellschaftsordnung gegangen, wie sie heute in den Vereinigten Staaten besteht. Tatsächlich prägten das Land bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Vorstellungen des Wohlergehens der Allgemeinheit und der „well-regulated society“, der sich auch das Individuum in seinen Forderungen und Rechtsansprüchen unterzuordnen hatte, ohne dies als Abwehr von Demokratie und ein Eintreten für eine hierarchisch strukturierte Gesellschaftsordnung unter politisch-sozialer Dominanz einer Elite zu verstehen. Das alles wird von der Autorin überzeugend und umsichtig herausgearbeitet und macht das Buch zu einer ebenso herausfordernden wie gewinnbringenden Lektüre.

Zunächst scheint sich Beatrice Brunhöbers „Erfindung ‚demokratischer Repräsentation‘ in den Federalist Papers“ nahtlos an Sheehan, deren Buch sie allerdings nicht kannte, anzuschließen, indem sie eindeutig den demokratischen Charakter der Federalist Papers herausstreicht. So sehr ihr auch darin zuzustimmen ist, dass dies in der deutschen Staatsrechtslehre immer noch nicht angekommen ist (S. 255) - insofern ist die Aufnahme ihrer Arbeit in die angesehene Reihe der „Grundlagen der Rechtswissenschaft“ nur zu begrüßen -, hat sie sich damit bedauerlicherweise zugleich in ein Korsett gezwängt, das weder passt noch der Sache angemessen ist. Es macht wenig Sinn, mit dem theoretischen Instrumentarium des deutschen Staatsrechts, dem methodisch diese demokratische Perspektive fremd ist, an die Analyse des Federalist heranzugehen, selbst wenn das für eine Berliner juristische Dissertation unter der Betreuung von Hasso Hofmann zunächst nachvollziehbar erscheinen mag. Wenn man den Federalist verstehen will, muss man vielmehr über die Entwicklung der politischen Institutionen der amerikanischen Kolonialzeit, insbesondere der „assemblies“, informiert sein, über die Konflikte mit dem Mutterland der 1760er und 1770er Jahre, über die Art und Weise, wie in dieser Zeit in den Kolonien die britische Verfassung diskutiert wurde, was wiederum die Kenntnis der englischen Verfassung seit dem 17. Jahrhundert voraussetzt. Schließlich ist die detaillierte Kenntnis der amerikanischen Einzelstaatsverfassungen seit 1776 ebenso unverzichtbar wie die Entstehung der Bundesverfassung von 1787, deren Interpretation - nicht mehr und nicht weniger - der Federalist schließlich ist, und der unmittelbaren Kontroversen um sie während der Ratifizierungskampagne.

In allen diesen Bereichen ist Brunhöber leider längst nicht so sattelfest wie in der deutschen Staatstheorie. Das fängt schon damit an, dass das englische House of Commons eben keine Vertretung der Gemeinden, sondern der „counties“ und „boroughs“ nach durchaus unterschiedlichen Kriterien und Rechtssetzungen ist - von den Universitäten und der im House of Lords vertretenen Kirche einmal abgesehen. Um das amerikanische Repräsentationskonzept zu verstehen, dessen Diskussion und die sich darum rankenden Kontroversen bis heute nichts an politischer Brisanz verloren haben - die Neuverteilung der Sitze im Repräsentantenhaus aufgrund der noch ausstehenden Zensusergebnisse von 2010, die in vielen Fällen in den kommenden Jahren erst von den Gerichten entschieden werden müssen, werfen längst ihre politischen Schatten voraus -, muss man mithin ganz anders ansetzen, und die deutsche Staatstheorie ist da in den seltensten Fällen hilfreich. Die Verfassung, die der Federalist interpretiert, findet ihre Begründung - wie die Mehrzahl der amerikanischen Einzelstaatsverfassungen bis zu diesem Zeitpunkt - in dem verbalen Rekurs auf die Volkssouveränität. Hier liegt die ursächliche demokratische Legitimation, und die Frage, die die Verfassung zu beantworten hat, ist, wie diese in die politischen Institutionen und ihr Handeln umgesetzt wird. Repräsentative Regierung ist, in logischer Konsequenz, ein Kernprinzip dieses modernen Konstitutionalismus ebenso wie Gewaltentrennung, „limited government“ und anderes. (3) Dies hätte man gern in der Arbeit klarer herausgearbeitet gesehen - zumal es vor so manchem kleineren Fehler hätte bewahren können -, selbst wenn Brunhöber in der eigentlichen Analyse des Federalist im Großen und Ganzen zuzustimmen ist. Letzteres jedoch mit der Einschränkung, dass der Repräsentationsgedanke zugleich etwas überinterpretiert erscheint. Dass die amerikanische Bundesverfassung von 1787 keine Bill of Rights enthielt - was der Federalist begründet - hat nichts mit „blinden Flecken der federalistischen Repräsentationstheorie“ (so die Überschrift des fünften Kapitels, S. 238-254) zu tun. An seiner Stelle hätte stattdessen das weitestgehende Fehlen der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der völlig neuartigen bundesstaatlichen Ordnung, zu der die Verfassung kaum etwas sagt und die umso mehr seither die Gerichte beschäftigt, erwähnt werden können. Aber dieses gesamte Thema hat Brunhöber ohnehin auffällig marginalisiert.

In diesem letzteren Punkt hilft auch Gordon S. Wood nicht weiter, und dennoch ist sein „Empire of Liberty“ ein Meisterwerk, und wer nach 740 Seiten den Buchdeckel zuklappt, wird dies mit einem gewissen Bedauern tun, dass die ebenso souveränen wie subtilen Reflexionen über amerikanische Entwicklung vom Beginn der Vereinigten Staaten bis zum Ende des zweiten Kriegs gegen Großbritannien, des Kriegs von 1812 - abwertender auch „Mr. Madison's War“ genannt - damit zu Ende sind. In 19 Kapiteln hat Wood den Leser davon zu überzeugen versucht, dass die heutige politisch-kulturelle wie sozialgeschichtliche Ausprägung des Landes im Wesentlichen in diesem Vierteljahrhundert erfolgt ist. Wood schränkt dabei sogleich und immer wieder ein, im Norden der Vereinigten Staaten, nicht im Süden, der sich immer tiefer in das Abscheu erregende System der Sklaverei verstrickte, der politisch zwar noch die wichtigsten Ämter der Union weitgehend kontrollierte, aber dem sich - im Norden - entfaltenden demokratischen „middling“ Amerika, vorwärtsstrebend, nivellierend, egalitär, materialistisch und erwerbsorientiert, mit wachsendem Unverständnis gegenüberstand. Dennoch werden hier keine Klischees und Stereotypen ausgebreitet, sondern der Übergang von der dank der Persönlichkeiten von Jefferson, Madison, Adams, Rush und anderen deutlich länger als in Europa wirkenden Welt der Aufklärung mit ihren intellektuellen und sozialen Hierarchien in die Welt der Mittelschichten und ihrer egalitären Demokratie filigran nachgezeichnet, wobei durchaus auch die Tiefen des Vulgären und Brutalen ausgeleuchtet werden.

Den Schwerpunkt legt Wood dabei auf die politisch-ideellen Ziele und ihre sozialen Dimensionen, um die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der britischen Monarchie und dem revolutionär-republikanischen Frankreich, um republikanische Reformen und den Zerfall der klassischen Kirchen durch die Ausbreitung dessen, was er die „Republican Religion“ nennt. Der „Jeffersonian West“ wird ebenso behandelt wie die Sklaverei und das durch sie bedingte Fortbestehen einer hierarchischen Sozialordnung im Süden. Der grundlegende politische Widerspruch, dass dabei zugleich der hierarchisch strukturierte Süden zum Träger des jeffersonischen Republikanismus wurde, während der Norden, wo die Federalists doch die Anhänger einer hierarchisch gegliederten Sozialordnung waren, sich dem Ideal der egalitären Demokratie verschrieb, beschäftigt Wood immer wieder. Ausgeklammert bleiben bei alledem im Wesentlichen lediglich die Situation der einzelnen Staaten und die Entwicklung des neuartigen Bundesstaats sowie die Wirtschaftsgeschichte. Am einschlägigsten in unseren Zusammenhang sind dagegen die beiden zentralen Kapitel über „Law and an Independent Judiciary“ und „Chief Justice Marshall and the Origins of Judicial Review“ (S. 400-468). Was hier Wood zu sagen weiß, hat wie alles in seinem Buch Tiefe und dokumentiert bei allen Nuancierungen, insbesondere in den Auseinandersetzungen um das englische Common Law und in den Vorbehalten der demokratischen Massen gegen eine ihnen entrückte, unabhängige Justiz, die demokratische Verwurzelung von Recht und Rechtssprechung und damit die Anknüpfung an die Themen von Friedman und Sheehan, selbst wenn Wood den Begriff der öffentlichen Meinung nicht benutzt.

Bei aller Bewunderung für die an Blackstone erinnernde Art und Weise, in der Wood die Fülle des Stoffs überschaut und in eine rationale Ordnung zwingt, sei ein Wort der Kritik erlaubt. Auch Wood ist dem Mythos erlegen, dass in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Wahlrechtsbeschränkungen für die erwachsenen weißen Amerikaner gefallen sind und überall das „universal (white male) suffrage“ eingeführt wurde (S. 330, 542), eine Legende, die sich unisono durch die Literatur zieht. Ein Blick in die Einzelstaatsverfassungen wäre hier heilsam gewesen und könnte weiterführend zu der Überlegung Anlass geben, ob nicht doch, selbst im Nordosten, zumindest auf lokaler und Staatsebene politisch-soziale Eliten mitunter persistenter waren, als Wood dies uns auf so beeindruckende Weise suggeriert.

Die Notwendigkeit, Recht und Rechtssprechung mit Demokratie in Einklang zu bringen, ist eine Jahrtausende alte Herausforderung, die im antiken Athen nicht weniger aktuell war als im Deutschland unserer Tage. Soeben hat Oliver Lepsius gefordert: „Die deutsche Wissenschaft vom öffentlichen Recht hat das Verfassungsrecht lange entweder vom Staat her gedacht (,Staatsrechtslehre`) oder von der Verfassung her (,Bundesverfassungsgerichtspositivismus`). Beide Ansätze waren in ihrer Zeit berechtigt. Nach 60 Jahren Grundgesetz und über 120 Entscheidungsbänden des Bundesverfassungsgerichts kommen beide Ansätze an ihre Grenzen, denn sie erschweren die Verfassungspraxis einer gereiften Demokratie. Die deutsche Staatsrechtslehre sollte eine neue Perspektive, nämlich die eines demokratischen Denkansatzes einnehmen.“ (4) In den Vereinigten Staaten hat sich dieser Denkansatz, unterstützt von der Geschichts- wie der Politikwissenschaft längst etabliert, und die hier vorgestellten Werke amerikanischer Autoren machen dies auf jeweils ihre Weise deutlich. Dass dieser Demokratie-Diskurs dort inzwischen seit über 200 Jahren geführt wird, gibt ihm seine besondere Stellung, die sich durch den Reichtum und die Vielschichtigkeit ihrer Argumente auszeichnet. Nicht nur die deutsche Staatsrechtslehre, mindestens ebenso die Verfassungsgeschichte und die Geschichtswissenschaft sollten sich diesen Fundus für ihre eigenen Diskurse zu Nutze machen.

Horst Dippel, Kassel

Fußnoten:


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