ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Tim B. Müller, Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburger Edition, Hamburg 2010, 736 S., geb., 35,00 €.

Müllers Dissertation macht den interessanten Versuch, ehemalige intellektuelle Emigranten aus NS-Deutschland nicht mehr als Repräsentanten von Kulturtransfer und Akkulturation zu betrachten, sondern als bereits vollständig Integrierte in der Ideengeschichte der USA, deren bestimmender Einfluss in der Frühphase des Kalten Kriegs sein Thema ist. Grundlage ihres Erfolgs war die liberale Kultur des New Deal, die nicht nur den für die USA neuen Typus des gelehrten politischen Experten hervorbrachte, sondern auch die geräuschlose Integration der vielen geflohenen deutschen Wissenschaftler und Intellektuellen ermöglichte, von deren mitgebrachten staatsinterventionistischen Kenntnissen und Erfahrungen man sich wichtige Impulse für das Programm Franklin D. Roosevelts versprach. Müllers Referenzgruppe setzt sich aus emigrierten und amerikanischen jungen Wissenschaftlern zusammen, die nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 in der Forschungsabteilung des neu konstituierten Geheimdienstes Office of Strategic Services (OSS) tätig wurden. Nach dessen Auflösung Ende 1945 beziehungsweise Integration in die zu der Zeit gegründete CIA wirkten sie zunächst als Forschungsteam im State Department weiter, ehe sie ab Anfang der 1950er Jahre ein profiliertes informelles linksliberales Netzwerk bildeten, nachdem die meisten Universitätskarrieren begonnen hatten und, von der Rockefeller Foundation gefördert, mit ihren Forschungen aktiv an die Systemauseinandersetzungen des Kalten Kriegs eingriffen.

Ehe der Autor dazu kommt, breitet er auf den ersten 300 Seiten die eigentlich recht gut erforschte institutionelle Geschichte des OSS und der Rockefeller-Aktivitäten aus. Unter dem Stichwort „Rockefeller-Revolution“ folgen dann die originelleren und aufregenden Teile, die die intellektuellen Beiträge des Netzwerks im Allgemeinen (unter anderen Franz Neumann, Felix Gilbert, Otto Kirchheimer, Stuart Hughes, Carl Schorske, Leonard Krieger) und von Herbert Marcuse im Detail entfalten. Dieser neue epistemisch-philanthropische Rahmen vermittelte zwischen den weiterhin vorhandenen politisch-administrativen Forderungen und der autonomen wissenschaftlichen Forschung. Hierbei gewährte er auch den intellektuellen Schutzraum in den Jahren des McCarthyismus und im weiteren Klima des Kalten Kriegs, als die Prinzipien des linksliberalen Internationalismus ständig bedroht waren. Die daraus folgenden Spannungen und Notwendigkeiten immer neuen Aushandelns zwangen die Netzwerkangehörigen so zu dauernden Selbstprüfungen und -reflexionen ihrer eigenen Rolle als „political scholars“ (Franz Neumann), woraus ihr bis heute faszinierendes Bild resultiert.

Dargestellt wird, wie die linksliberalen Intellektuellen ihre im Kampf gegen den Nationalsozialismus entwickelten analytischen Zugriffe und theoretischen Instrumente neu justierten. Unter dem Dach der von der Rockefeller Foundation seit 1952 angestoßenen Forschungen zur „Legal and Political Philosophy“ und zum „Marxismus-Leninismus“ wandten sie diese Erfahrungen nicht nur auf das neue Objekt der Gegnerforschung, den Kommunismus, an, sondern ebenso auf die westliche Zivilisation mit ihren konformistischen Verkrustungen und Entfremdungen. Zu einer Zeit, als Amerikaner bereits vom „Ende der Ideologien“ sprachen - worunter man lange vor Daniel Bells gleichnamiger Studie 1960 die Abkehr von messianischen Hoffnungen zugunsten eines technisch-rationalen Pragmatismus verstand -, wurde hier Ideen- und Philosophiegeschichte zur Ideologiekritik, die zugleich das Ziel hatte, die Leistungen des Marxschen Ansatzes aus den leninistischen und stalinistischen Verkümmerungen und Verfälschungen zu retten; das heißt „Marx galt als Korrektur, nicht als Schuldiger der monströsen historischen Entgleisung“ in der Sowjetunion (S. 496). Ziel war, den Gegner durchschaubar zu machen, indem man ihn auf seinem ideologischen Feld mit seinen eigenen theoretischen Instrumenten attackierte.

Die Lektüre wird leider häufiger vom selbstgefälligen Duktus des Textes belastet, erkennbar etwa an zahlreichen Maximalismen, die zudem nicht immer den Tatsachen standhalten. Schon der erste Satz des Buches beginnt spektakulär: „Der Kalte Krieg ist beendet. Über vier Jahrzehnte lang hielt dieser globale Konflikt die Menschheit in Atem.“ Diverse Einzelheiten werfen dann hier und da genauere Fragen auf. Müllers Behauptung, dass der Marshallplan und seine Handhabung ein „Vorbild für die psychologische Kriegführung“ gewesen seien (S. 104), ist schief, denn bereits während des Kriegs hat es hoch entwickelte Konzepte und Operationalisierungen auf diesem Gebiet gegeben, die der Verfasser jedoch nicht erwähnt. Ebenso fragwürdig ist, die 1950er Jahre als „das Jahrzehnt der großen Stiftungen“ in der Wissenschaftsgeschichte zu bezeichnen (S. 185), die jenen Neustart akademischer Karrieren ermöglichten. Sicher, die Ford Foundation mit einem mehrfach höheren Förderungsvolumen als das der Rockefeller Foundation war hinzugekommen - aus dem unter anderem der Aufbau der Freien Universität in Berlin finanziert wurde -, sie ist aber nicht Gegenstand der Untersuchung. Und auch die Bedeutung der Rockefeller-Forschungsförderung selbst war in den 1920er Jahren und insbesondere beim Transfer der in Deutschland nach 1933 und später in anderen europäischen Ländern ausgegrenzten Wissenschaftselite nicht weniger signifikant.

Hier zeigen sich gewisse Defizite der Analyse. Die auffallende Trennung von institutioneller und intellektueller Ebene macht die Darstellung zudem recht additiv und erratisch mit überflüssigen Wiederholungen. Außerdem bleibt dabei die genealogische Entwicklung der erkenntnistheoretischen Positionen von den Akteuren auf der Strecke. Ausgeblendet bleiben Fragehorizonte, die nicht unmittelbar zum Referenzrahmen der Untersuchung gehören, aber für ihn wichtig waren, so etwa die aggressiv geführte innenpolitische Debatte um Rückzug in den Isolationismus der 1930er Jahre oder die Übernahme der neuen weltpolitischen Rolle nach 1945, ohne die auch die von Müller ausführlich behandelte „Hexenjagd“ Joseph McCarthys nicht zu erklären ist. Das Literaturverzeichnis ist erkennbar selektiv und auf jüngste Studien begrenzt.

Die Fokussierung auf Herbert Marcuse als Repräsentanten der europäisch-amerikanischen linksliberalen Kultur mag vertretbar sein. Der Autor verfolgt nämlich die weitere Absicht, die „unbekannten“ Seiten dieser globalen intellektuellen Leitfigur der studentischen Protestbewegung Ende der 1960er Jahre als Geheimdienst-Mitarbeiter und „Kalter Kriegs-Forscher“ öffentlich zu machen. So unbekannt waren diese Aktivitäten allerdings nicht. Sie werden bereits in Marcuses bekannter Studie „Soviet Marxism“ von 1958 erwähnt, die seine zahlreichen Expertisen zur kommunistischen Gegnerforschung im Auftrag der Administration und der Rockefeller Foundation aus den Vorjahren zusammengefasst hat. Alle diese Arbeiten waren zwar analytisch brillant und politisch wichtig, ihn deshalb aber gleich als schulebildenden „spiritus rector“ zu bezeichnen (S. 155), dürfte übertrieben sein. In diversen anderen staatlichen und semi-öffentlichen Organisationen wurde - nicht überraschend - über die gleichen Fragen nachgedacht, wobei dort ebenfalls ehemalige deutsche Experten aufgrund ihrer mitgebrachten Kenntnisse tätig waren, ohne dass dies in der Arbeit erwähnt wird, darunter nicht wenige ehemalige Russen, die während des Bürgerkriegs seit 1918 zunächst nach Deutschland geflohen waren. Dafür werden andererseits die zeitgleichen Osteuropa- und Marxismus-Forschungen eines Joseph Maria Bochinski in Bern, Werner Philipp in Berlin, Siegfried Landshut in Hamburg und anderer viel zu breit und überflüssig ausgebreitet.

Ein durchdachter komponierter Text mit konziseren kausalen Bezügen hätte die Stringenz von Müllers Absichten verstärkt, ebenso der Verzicht auf zahlreiche Redundanzen und Wiedergaben bekannter Tatsachen. Die Disziplin einer kürzeren Darstellung wäre lesefreundlicher gewesen, fast 700 Druckseiten zu einem Kerngebiet der amerikanischen und transatlantischen Historiografie sind eine starke Herausforderung. Diese Einwände sollen jedoch die Leistungen der Untersuchung mit ihrer Fülle neuer Informationen und den spannend geschilderten Zusammenhängen nicht schmälern.

Claus-Dieter Krohn, Hamburg


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