ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, Karl Blessing Verlag, München 2010, 879 S., geb., 34,95 €.

Die Autoren des Bandes beginnen ihre Darstellung mit der Gegenüberstellung des NS- und späteren Karrierediplomaten der Bundesrepublik Deutschland Franz Krapf mit dem Widerstandskämpfer Fritz Kolbe. Letzterer, seit 1925 im diplomatischen Dienst, weigerte sich nach 1933, in die NSDAP einzutreten. Schockiert über die deutschen Verbrechen ging er in den Widerstand, versorgte mit großem persönlichen Risiko die amerikanische Seite mit Informationen und half bei der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse. Krapf, schon 1933 Mitglied der SS geworden, drei Jahre später in die NSDAP eingetreten und seit 1938 im diplomatischen Dienst, war während des Kriegs Mitarbeiter der Tokioter Botschaft und arbeitete als Untersturmführer für den Sicherheitsdienst der SS. Ihm gelang schon 1951 die Rückkehr in das wieder im Aufbau befindliche Auswärtige Amt. Er wurde nach einer langen Karriere Botschafter der Bundesrepublik Deutschland an seiner alten Wirkungsstätte in Tokio und schließlich 1976 als Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der NATO pensioniert. Dem Widerstandskämpfer Kolbe hingegen wurde die Wiederaufnahme in das Auswärtige Amt verweigert. Als nach dem Tod des hochbetagten Pensionärs Krapf diesem wegen seiner NS-Vergangenheit ein ehrender Nachruf seitens der Amtsführung verweigert wurde, brach sich eine Solidaritätswelle ehemaliger NS-Diplomaten Bahn, die der NS-resistente Fritz Kolbe bei seinen Bemühungen um Wiedereinstellung nie zu erhoffen gewagt hätte. Die Folge war 2005 die Einsetzung der Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Diplomaten im Nationalsozialismus und danach durch den damaligen Außenminister Joschka Fischer.

Das Erscheinen der Kommissionsstudie Ende Oktober 2010 wurde zum Medienereignis. Nicht nur, dass Kommissionssprecher Eckart Conze zwei Mal in der „Tagesschau“ auftrat, das Buch wurde auch fünf Wochen lang in der Bestsellerliste des „Spiegel“ präsentiert - für eine gut 800 Seiten starke wissenschaftliche Studie mehr als ungewöhnlich. Inzwischen sind bereits eine größere Zahl von Rezensionen erschienen und ein vielstimmiger, nicht selten dissonanter Chor an mehr oder weniger sachlichen Historikerstimmen zu dem Band erweckt den Eindruck, dass ein erstes, eher hektisches Kapitel der Rezeptionsgeschichte mit Debattencharakter bereits geschrieben ist. (1) Wie wenig sine ira et studio, aber emotional höchst aufgeladen debattiert wird, zeigt die Aussage des Mainzer Geschichtsprofessors Sönke Neitzel, die Kommission betreibe „Geschichtspornografie“, weil sie das Auswärtige Amt als „verbrecherische Organisation“ bezeichne. (2) Und sogar der Experte Gregor Schöllgen behauptet in der Süddeutschen Zeitung, die Kommission würde die Geschichte der Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP) in ihrem Bericht „vollständig ausblenden“, nicht nach diesen zitieren und damit den Eindruck erwecken, das Auswärtige Amt habe durch eine angebliche „Nichtaufnahme jener Dokumente in die ADAP“ die Öffentlichkeit „bewusst in die Irre geführt“. (3) Tatsächlich haben die ADAP in „Das Amt und die Vergangenheit“ eine breite Rezeption erfahren und mehrere Dutzend Male als Referenz für die Darstellung der Studie gedient. So wurden alleine in dem Kapitel „Besatzung - Ausplünderung - Holocaust“ (S. 221-294) die ADAP 18 Mal als Beleg angegeben.

Die Autoren machen kein Hehl daraus, dass ihre Studie auf bereits vorliegenden einschlägigen Untersuchungen aufbaut und deren Erkenntnisse umfassend verarbeitet, insbesondere jene von Paul Seabury 1954, Christopher R. Browning 1978 sowie Hans-Jürgen Döscher 1987 und 1995. (4) Sie kommen für alle Kenner der bislang vorliegenden wissenschaftlichen Literatur im ersten Teil ihres Berichts zu dem nicht sehr überraschenden Ergebnis, die Bedeutung des Auswärtigen Amts im ‚Dritten Reich‘ sei nicht als irgendwie gearteter Hort des Widerstands charakterisiert, sondern vielmehr als Wegbereiter des Holocaust und aktiver Unterstützer der Judendeportation und -vernichtung zu verstehen. Im zweiten Teil des Buchs zeigen die Autoren, dass sich weder das Auswärtige Amt noch die bundesdeutsche Gesellschaft der historischen Verantwortung und Schuld gestellt haben, sondern im Gegenteil gegenüber der Öffentlichkeit die Legende von den anständig gebliebenen Diplomaten und tendenziellen Widerstandskämpfern aus den Reihen des Auswärtigen Amts gepflegt wurde. Praktischerweise ermöglichte diese Sichtweise in großem Umfang die Wiedereinstellung NS-belasteter Diplomaten in den Auswärtigen Dienst der jungen Bundesrepublik. Den Forschungsergebnissen der Kommission zufolge gehörten schon 1950, als die Vorbereitungen für den Aufbau des neuen Auswärtigen Amts stattfanden, von 137 Mitarbeitern des höheren Dienstes 58 einstmals der NSDAP an; das waren 42,3 Prozent. Bis 1954 stieg die Anzahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder im höheren Dienst auf 325 Personen. Da der Personalbestand im höheren Dienst des Amts aber auf über 900 Mitarbeiter gewachsen war, sank der prozentuale Anteil. Dennoch, so die Forscher, ist „das Bonmot, nach dem Krieg habe es mehr Pgs im Amt gegeben als vorher, nicht ganz abwegig“ (S. 493f.).

Es ist ein Vorteil der Studie, dass sie ihre Untersuchungen über die „Epochengrenze“ 1945 hinweg durchführt und die Ergebnisse nicht als in viele Einzelbeiträge zersplitterten Sammelband, sondern als homogene und für ein breites Publikum gut lesbare Gesamtdarstellung präsentiert. Keine geringe Leistung für die Zusammenführung der Arbeitsergebnisse der vier Kommissionsmitglieder und von zwölf wissenschaftlichen Mitarbeitern.

Möglicherweise resultieren aber gerade aus diesem leserfreundlichen Vorgehen mehr oder weniger berechtigte Vorwürfe, die Darstellung der Kommission sei zu pauschal und zu wenig differenziert. Ein Beispiel: Der erste Judenreferent des Amts, Emil Schumburg, schrieb bereits am 25. Januar 1939 an alle diplomatischen und konsularischen Vertretungen im Ausland, „der Jude“ sei eine „Krankheit des Volkskörpers“ und die Aufgabe der deutschen Außenpolitik weise über „die Auswanderung aller im Reichsgebiet lebenden Juden“ hinaus. Schließlich stehe auf der Agenda, eine weltweite „antisemitische Welle zu fördern“. Zudem müsse man sich klar darüber sein, dass „für Deutschland die Judenfrage nicht ihre Erledigung gefunden haben [wird], wenn der letzte Jude deutschen Boden verlassen haben wird“ (S. 174). Dies bewertet die Historikerkommission als Indiz dafür, dass das Auswärtige Amt dazu aufgefordert habe, „eine ‚Gesamtlösung‘ in Form eines ‚Judenreservats‘ oder durch physische Vernichtung anzustreben“ (ebd.). Denn den Diplomaten sei nach Hitlers Reichstagsrede vom 30. Januar 1939, in der er „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ im Falle eines Weltkriegs ankündigte, klar gewesen, was die Zielperspektive des Begriffs „Gesamtlösung“ beinhalte. Dagegen kann man einwenden, Forschungsstand sei, dass die Willensbildung zur „Endlösung“ doch erst im Herbst 1941 klar gewesen wäre, im Übrigen Anfang 1939 noch kein Weltkrieg absehbar war. Doch setzt dieser formal korrekte Einwand die Evidenz dieses Dokuments pro Judenverfolgung mit Zielperspektive „Vernichtung“ wirklich außer Kraft?

Die Autoren zeigen am Beispiel des lange Zeit als Widerständler gehandelten Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker, wie sehr in den Eliten des ‚Dritten Reichs‘ Konsens darüber bestand, dass die angeblich viel zu große Zahl der Juden im Deutschen Reich Maßnahmen zu deren Reduzierung verständlich erscheinen lasse. Dieser hatte im Hinblick auf den Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 in einem privaten Brief notiert: „Die anti-jüdische Aktion zu begreifen, fällt dem Ausland besonders schwer, denn es hat diese Judenüberschwemmung eben nicht am eigenen Leibe verspürt“ (S. 30). Von Weizsäcker beförderte das Ausbürgerungsverfahren gegen den Regimegegner Thomas Mann ohne Not, indem er sich als Gesandter in der Schweiz in einem Brief vom Mai 1936 aus Bern für dessen Ausbürgerung aussprach, weil Mann neben „höhnischen Bemerkungen“ sogar „feindselige Propaganda gegen das Reich im Ausland“ betrieben habe (S. 85). Von Weizsäckers Verurteilung zu einer siebenjährigen Haftstrafe im sogenannten Wilhelmstraßenprozess 1949 wegen seiner Zustimmung zur Deportation von 6.000 Juden aus Frankreich wurde vom Mainstream der deutschen Medien, allen voran Gräfin Dönhoff von der „Zeit“, zu einem Fehlurteil gegen einen untadeligen Diplomaten, der Schlimmeres habe verhüten wollen, umgeschrieben.

Ein Problem der Studie besteht darin, dass die Kenntnis der Hauptverantwortung von SS und Reichssicherheitshauptamt (RSHA) nicht explizit betont, sondern quasi als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Dies auch vor dem Hintergrund, dass schon Browning 1979 und Döscher 1987 herausgearbeitet hatten, dass der im öffentlichen Bewusstsein wahrgenommene Gegensatz zwischen SS/RSHA und Auswärtigem Amt zum erheblichen Teil das faktenwidrige Konstrukt eines Scheingegensatzes darstellt. Erstere agierten direkt, letztere flankierten die Maßnahmen diplomatisch. Nichtsdestotrotz hätte ein zumindest skizzierter vergleichender Ansatz hier die Funktion der aktiven Komplizenschaft des Auswärtigen Amts differenzierter hervortreten lassen. Gleichwohl hat die Studie die Rolle des Auswärtigen Amts im Prozess zur Judenvernichtung im Rahmen ihrer Handlungsmöglichkeiten beurteilt und dessen äußerst destruktives Agieren überzeugend herausgearbeitet. Nach dem Krieg wurde aus der Arbeitsteilung mit SS, Reichssicherheitshauptamt, Wehrmacht und anderen ein Gegensatz konstruiert, aus dem Gerangel um Kompetenzen und den wechselseitigen Schuldzuweisungen angesichts der 1944 absehbaren Kriegsniederlage ein widerständiges Handeln des Auswärtigen Amts abgeleitet. Vielleicht ist der Rezensent zu optimistisch, wenn er wie Christopher Browning hofft, die Studie der Historikerkommission bedeute „das Ende aller Vertuschung“. (5)

Wigbert Benz, Karlsruhe

Fußnoten:


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