ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Johannes von Karczewski, „Weltwirtschaft ist unser Schicksal“. Helmut Schmidt und die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel (Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 79), Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2008, 465 S., geb., 42,00 €.

Diplomatiegeschichtliche Untersuchungen haben häufig die Neigung, einen Staat als einen einheitlich agierenden Akteur aus Fleisch und Blut zu betrachten. Die tatsächliche Rolle der für einen Staat handelnden Personen verschwimmt allerdings häufig aufgrund dieser Betrachtungs- beziehungsweise Darstellungsweise internationaler Beziehungen aus historischer Perspektive. In diesem Feld angesiedelte Untersuchungen, die zusätzlich um einen biografischen Forschungsansatz bemüht sind, können diesem Defizit der Diplomatiegeschichte Abhilfe leisten. Ein gutes Beispiel hierfür bietet Johannes von Karczewskis Dissertation über die Rolle des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt bei der Entstehung der Weltwirtschaftsgipfel in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Karczewski übernimmt dabei den Anspruch und das Prinzip der Renouvin-Schule, bei der Erforschung internationaler Beziehungen eine ausgewogene Verbindung der politischen Geschichte unter Beachtung der strukturellen Rahmenbedingungen zu erreichen und insofern auch das Handeln einzelner Akteure als Untersuchungsgegenstand einzubeziehen (S. 17).1 Zwar gibt der Autor einleitend an, nach der Einschätzung aller beteiligten Staats- und Regierungschefs über die Finanz- und Wirtschaftskrise dieser Dekade und der von ihnen diesbezüglich verfolgten Lösungsstrategien zu fragen (S. 13). Das Hauptaugenmerk von Karczewski ist dennoch vorrangig auf das Wirken von Schmidt gerichtet, da er in dem deutschen Bundeskanzler den maßgeblichen Initiator für die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel erkennt (S. 19). Um diese These zu belegen, beginnt Karczewski seine Analyse.

Angesichts dieses Arbeitsziels ist es sodann nicht verwunderlich, dass auf ein erstes Kapitel über die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie den Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods und der durch den vierten arabisch-israelischen Krieg ausgelöste Ölpreiskrise in den frühen 1970er Jahren eine Abhandlung über die biografischen Prägungen und die politischen Lehrjahre Schmidts folgt. Dieses Kapitel markiert die wichtigsten Lebensphasen von Schmidt bis zu seinem Amtsantritt als Bundeskanzler 1974, angefangen bei seiner Jugend in Hamburg im Zeichen der Weltwirtschaftskrise ab Ende der 1920er Jahre und des Zweiten Weltkriegs bis hin zu seinen Erfahrungen in der internationalen Finanzdiplomatie als Bundesfinanzminister in den Jahren 1972 bis 1974.

Gespiegelt an der Annahme, dass Schmidt sich der Interdependenz zwischen weltwirtschaftlicher Situation und politischer Stabilität insbesondere in den 1970er Jahren nur allzu bewusst gewesen sei, erfolgt im Weiteren in chronologischer Abfolge eine Darstellung der ersten vier Weltwirtschaftsgipfel in Rambouillet 1975, Puerto Rico 1976, London 1977 und Bonn 1978 in vier entsprechenden Kapiteln. Als einen ersten Beleg für Schmidts Verständnis von ökonomischen Krisen als Gefahrsituationen für die politische Stabilität in den westlichen Ländern nennt Karczewski die enge Zusammenarbeit des Bundeskanzlers in wirtschaftspolitischen Fragen mit seinem französischen Gegenüber Valéry Giscard d'Estaing. Um den infolge der Ölpreiskrise gestiegenen Inflationsraten in Deutschland und Frankreich zu begegnen, hätten bei einem ersten Treffen in ihren Funktionen als Regierungschefs Überlegungen zur Stabilisierung der jeweiligen Volkswirtschaften im Vordergrund gestanden. Ohnehin hätte Schmidt in Frankreich den wichtigsten Partner für die Realisierung einer internationalen Stabilitätspolitik gesehen. Außer einem Gleichklang in den Stabilitätspolitiken beider Länder seien Schmidt und Giscard auch bereits kurz nach ihren fast gleichzeitigen Amtsantritt gemeinsam darum bemüht gewesen, ihre wirtschafts- und währungspolitischen Vorstellungen auf der internationalen und europäischen Ebene durchzusetzen. Ein erstes wichtiges Ergebnis dieser Zusammenarbeit sei die Überzeugung der europäischen Partner gewesen, mit dem Europäischen Rat ein Führungsgremium der Europäischen Gemeinschaft zu institutionalisieren.

In dem Zusammenwirken von Schmidt und Giscard sieht Karczewski auch einen wichtigen Anstoß für die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel. Dabei habe Giscard die Aufgabe übernommen, die Idee öffentlich zu lancieren, während Schmidt die Rolle des eigentlichen Initiators besetzte. Den Beweis dafür erkennt Karczewski in den von Schmidt initiierten Gesprächen der persönlichen Vertrauten der damaligen Regierungschefs und in Schmidts Ausführungen über die Chancen eines solchen multilateralen Zusammentreffens am Rande eines Nato-Treffens in Brüssel (im Mai 1975) im Vorfeld der endgültigen Entscheidung für eine erste Gipfelkonferenz. Aufgrund dieses Befunds stellt Karczewski sodann die Vermutung an, Giscard habe die Idee eines Wirtschaftsgipfels in enger Abstimmung mit Schmidt an die Öffentlichkeit weitergegeben, wenn er nicht gar auf Anregung von Schmidt zu diesem Schritt bewogen wurde (S. 126).

Ein Verdienst der gut strukturierten vier Kapitel über die Verläufe der Weltwirtschaftsgipfel von 1975 bis 1978 ist es, dass die auf den Gipfeltreffen diskutierten Politikfelder in eigenen oder zusammengefassten Abschnitten dargestellt werden. Hier werden die Einschätzungen und Vorhaben der beteiligten Regierungschefs zur Energie-, Rohstoff-, Handels- und Entwicklungspolitik umfassend thematisiert. Ein weiterer Verdienst und der mitunter interessanteste Aspekt der Arbeit ist der stets im Blick gehaltene Zusammenhang der Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel zu den Entwicklungen der Europäischen Gemeinschaft. So habe beispielsweise die gemeinsame Initiative von Schmidt und Giscard zur Formulierung und Etablierung eines Europäischen Währungssystems bei dem Gipfeltreffen der EG-Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen im April 1978 die ohnehin schon zerrütteten transatlantischen Beziehungen noch zusätzlich beeinträchtigt und die Fortsetzung der noch jungen Weltwirtschaftsgipfel stark gefährdet. Dass es dennoch unter Beteiligung des US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter zu dem Gipfel in Bonn im Juli 1978 kam, erstaune deshalb rückblickend, so Karczewski.

An der Arbeit gibt es wenig zu kritisieren. Die Fokussierung auf Schmidt bei der Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel erscheint vor dem Hintergrund von dessen Initiatorrolle letztlich als richtig und die Quellenauswahl, vorwiegend bestehend aus dem Depositum Helmut Schmidt, dem Nachlass des engen Vertrauten des Bundeskanzlers, Horst Schulmann, und Akten des SPD-Parteivorstands, als gerechtfertigt. Dennoch bleibt zu fragen, weshalb Karczewski zusätzlich nicht zumindest einige Quellen aus dem Nachlass von Giscard untersucht hat. Insbesondere seine Vermutung, dass Giscard bei der öffentlichen Lancierung der Idee für einen ersten Weltwirtschaftsgipfel auf Anregung von Schmidt gehandelt habe, hätte auf diese Weise vermutlich noch weiter verifiziert werden können. Grundsätzlich leistet die Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der internationalen Wirtschaftspolitik der 1970er Jahre und ist auch hinsichtlich der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise eine lohnenswerte Lektüre.

Christian Salm, Portsmouth

Fußnoten:


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