ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Friederike Sattler/Christoph Boyer (Hrsg.), European Economic Elites. Between a New Spirit of Capitalism and the Erosion of State Socialism (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 84), Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2009, 594 S., brosch., 88,00 €.

Gerade angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise erscheinen ökonomische Prozesse und Entscheidungen oft anonym und gesichtslos. Die verantwortlichen Entscheidungsträger rücken meistens nur in der tagespolitischen Zuspitzung in die Öffentlichkeit. Umso wichtiger erscheint hier ein analytischer und transnationaler Blick auf unsere Wirtschaftseliten. Passend hierzu ist der vorliegende Sammelband erschienen. Er geht zurück auf eine international besetzte Tagung am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) im November 2007 und versammelt 19 Beiträge zu Wirtschaftseliten verschiedener Staaten West-, Mittel- und Osteuropas sowie einen programmatischen Eingangstext der beiden Herausgeber Friederike Sattler und Christoph Boyer.

Im Fokus liegen sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart der wechselseitigen Beziehungen von Wirtschaftseliten und Wirtschaftsordnung. Einige Analysen greifen zurück bis in die klassische Phase der Industrialisierung Anfang des 20. Jahrhunderts, also die Jahre vor den Weltkriegen und dem Kalten Krieg. Schwerpunkte der Beiträge sind aber die Umbrüche und Systemtransformationen ab den 1970er Jahren, also das Ende des „Goldenen Zeitalters“ (Eric Hobsbawm), sowie die Veränderungen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989/90. Der Band macht klar, dass es 20 Jahre nach Ende der europäischen Teilung höchste Zeit ist für gesamteuropäische und blockübergreifende Perspektiven. Den roten Faden des Bandes bildet die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen Mikro- und Makroebene, also zwischen allgemeiner Wirtschaftsordnung (Europäisches Modell) und Zusammensetzung, Rekrutierung und Verhalten der nationalen wie transnationalen Wirtschaftseliten. Jenseits der Unterschiede von liberalen Markt- und sozialistischen Planwirtschaften standen die Länder beider Blöcke ab den 1970er Jahren vor großen, funktionsäquivalenten Herausforderungen. Sattler und Boyer betonen, dass in beiden ökonomischen Ordnungen das fordistische Produktionsregime dominierte. Gemeinsam war beiden Systemen der Anspruch, eine Antwort auf die erste große Krise des liberalen Modells (Weltwirtschaftskrise 1929) zu verkörpern. In Ost wie in West traten - in unterschiedlicher Stärke - an die Stelle des freien Markts Formen eines staatlichen Interventionismus sowie sozialer und politischer Regulierung. Beide Gesellschaften waren arbeitszentriert und beide integrierten die Bevölkerung über sozialpolitische Maßnahmen und über die Förderung des Massenkonsums, so die Herausgeber.

West- wie Osteuropa waren fast zeitgleich von der Krise des fordistischen Systems betroffen, insofern sprechen Sattler und Boyer von einer gemeinsamen Krise der europäischen Industriegesellschaften. Im Westen liefen damit die goldenen Jahrzehnte des keynesianischen Wohlfahrtsstaats aus und im Osten geriet das noch stark nationalstaatlich ausgerichtete System der Planwirtschaften zunehmend unter Legitimierungs- und Leistungsdruck. Die neue Herausforderung war die vom Westen ausgehende Globalisierung.

Das westeuropäische Modell reagierte relativ flexibel durch eine liberalisierte Politik, das Auftreten internationalisierter Konzerne und beschleunigte technische Innovationsprozesse. Die kommunistischen Staaten zeigten weit weniger Anpassungsfähigkeit und scheiterten. Die schnelle Implosion des kommunistischen Staatensystems sowie die Transformation in Richtung liberale Marktwirtschaft waren die Konsequenz. Insofern durchliefen Mittel- und Osteuropa eine rasante, nachholende Entwicklung. Trotz Ostausdehnung der EU bestimmte nach 1989 wieder der alte Ost-West-Gegensatz die europäische Tagesordnung, das heißt große Teile Mittel- und Osteuropas rutschten abermals in eine periphere Position gegenüber den westlichen Zentren.

Hinsichtlich der Elitenentwicklung beschreibt der Band zunächst die sehr stabilen Strukturen des alten westlichen Wohlfahrtmodells. Zentral waren hierfür nationale Kulturen und Traditionen, eine enge Verbindung zwischen Staat und Wirtschaft und informelle Verbindungen innerhalb der Eliten (Vertrauensnetzwerke, Kapital- und Personennetzwerke im Westen, Partei- und Plannetzwerke im Osten). Der Band enthält faktenreiche Fallstudien zu Deutschland, Frankreich, Ungarn, Italien und Portugal. Das Beispiel Portugals (Manuel Loff) zeigt auch, dass tiefe politische Zäsuren, wie das Ende der Diktatur, keine Brüche für die Wirtschaftseliten bedeuteten mussten. Die im alten System groß gewordenen technokratischen Modernisierer nahmen auch unter demokratischen Vorzeichen Schlüsselpositionen in der Wirtschaft ein.

Mit der Erosion der westlichen Wirtschaftsordnung verändern sich auch die Eliten: Die Vertreter der traditionellen Branchen und Unternehmen verlieren an Einfluss, die alten korporatistischen Netzwerke von Industrie- und Bankenvertretern werden schwächer und ein neuer Managertypus tritt auf. Er zeichnet sich durch eine starke Orientierung auf Interessen der Kapitalmärkte (Shareholder-Value) und damit auf eine kurzzeitige Gewinnorientierung aus. Besonders interessant ist hier die Studie einer Schweizer Forschergruppe zur Entwicklung in der Eidgenossenschaft. Dies schließt aber weiterhin durchaus personelle Kontinuitäten mit ein, wie Christian Dirninger am Beispiel des früheren österreichischen Finanzministers Hannes Androsch aufzeigt. Zur voranschreitenden Europäisierung und Internationalisierung der Wirtschaftseliten trägt Matthieu Leimgruber seine Fallstudie zur „Geneva Association“, einer internationalen Vereinigung der Versicherungswirtschaft, vor und zeigt damit, wie eine solche Organisation seit den 1970er Jahren als Thinktank, Plattform und Lobbyverband für transnationale Wirtschaftsnetzwerke diente. In den postsozialistischen Staaten gab es unterschiedliche Entwicklungen. Für viele Länder können Kontinuitätslinien zwischen alten und neuen Wirtschaftseliten festgestellt werden (besonders DDR und CSSR). In manchen Ländern wie Ungarn und Polen kann aber auch der Aufstieg neuer Gruppen beobachtet werden. Umstritten ist, welchen Effekt derartige Elitenkontinuitäten von der Plan- hin zur Marktwirtschaft auf die volkswirtschaftliche Entwicklung haben.

Die Diskussion um eine Internationalisierung der Eliten benötigt nicht nur empirische Daten, sondern auch analytische Konzepte und Modelle. Das zeigt beispielhaft der Beitrag von Leslie Sklair, der das Konzept einer „transnationalen Kapitalistenklasse“ vorstellt und mit erstem empirischem Material unterfüttert. Er knüpft damit an die bestehenden, nationalstaatlich orientierten Klassentheorien an. Sklair geht aber davon aus, dass die Globalisierung die bisherigen Strukturen verändert hat. Es entwickle sich erstens eine neue transnationale Klasse, die schon damit begonnen habe, im globalen Maßstab Herrschaft auszuüben, und die sich vor allem in den Bereich der transnationalen Konzerne, in der Politik und in der Kultur- und Mediensphäre organisiere. Zweitens verbreite diese Klasse eine profitorientierte Kultur des Konsumdenkens als wesentliche Triebfeder der Globalisierung und drittens arbeite diese Gruppe an der Verschleierung der Folgekosten des globalisierten Kapitalismus. Letztlich knüpft Sklair damit an die (post-)marxistische Diskussion innerhalb der cultural studies und an dort entwickelten Modellen der kulturellen Hegemonie an.

Es sind zwei Diskussionen, die mit dem Band weiter befördert werden: Zum einen der Blick auf die historische Tiefendimension, die Frage nach dem Verhältnis von politisch-wirtschaftlichen Systemen und Eliten im 20. Jahrhundert, nach übergreifenden Mustern und Parallelen. Offenbar kommt die Forschung hier wieder verstärkt zu vergleichenden Perspektiven, was schon vor Jahrzehnten im Rahmen der Konvergenztheorien en vogue war und im vorliegenden Band mit dem Modell des fordistischen Zeitalters versucht wird. Zum anderen ist es die Frage nach den gegenwärtigen Trends in den europäischen Wirtschaftseliten. Hier findet sich im Band sowohl Material für die These weiterhin bestehender nationaler Managerkulturen als auch für die Annahme starker Internationalisierungsprozesse.

Armin Müller, Ravensburg


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