ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Constantin Goschler/Rüdiger Graf, Europäische Zeitgeschichte seit 1945 (Akademie Studienbücher - Geschichte), Akademie Verlag, Berlin 2010, 256 S., brosch., 19,95 €.

Schon äußerlich sticht die neue Reihe des Akademie Verlags und somit auch dieses Buch hervor: Abgerundete Ecken gehören sonst eher zur populären Ratgeberkultur, haben nun aber offenbar auch die seriöse Studienbuchliteratur erreicht. Sehr viele einschlägige Werke gibt es allerdings hierzulande nicht zu diesem Thema1, was besonders ins Auge fällt, wenn man sich die mittlerweile mit rund einem halben Dutzend Arbeiten sehr gut ausgestattete Szene zur (west)europäischen Integration ansieht.

Insgesamt ist ein gut lesbares und hochinformatives Bändchen entstanden, das kenntnisreich bis in die jüngsten Entwicklungen des Jahres 2010 hineinführt. Das ist bemerkenswert, dürfte doch auf kaum einem Gebiet der Erkenntniszuwachs so stark gewesen sein, wie auf diesem Sektor. Bis zum Ende des alten Ost-West-Konflikts war es für viele Fragen äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich, Informationen über den Ostblock zu gewinnen. Daher bezogen sich viele historische wie sozialwissenschaftliche Forschungen einfach auf das, worüber man hinreichende oder qualitätvolle Daten hatte, eben auf Westeuropa. Und dieser Blickwinkel auf die glorreichen Staaten der Westintegration, durchaus angereichert durch die später hinzukommenden oder neutralen Länder, prägte auch das Geschichtsbild.

Die Verfasser beginnen ihre 16 jeweils untergliederten Kapitel mit einer Besinnung auf die beiden Begriffe: Europa und Zeitgeschichte. „Europa“ sei keine feste Größe, sondern stets konstruiert worden. Somit ist die Beschäftigung mit diesen unterschiedlichen Vorstellungen der Inklusion und Exklusion ebenso wie die gängigen Binnengliederungen nach Himmelsrichtungen selbst ein Teil des Themas und keine Voraberklärung; Partikularismen und Regionalismen waren jeweils wichtig. Ähnliches gilt für „Zeitgeschichte“. Hier werden von Hans Rothfels bekannter Definition von 1953 als Zeit der Mitlebenden und ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung bis in die jüngste Zeit einige Ansätze vorgeführt, um in einer Art Conclusio für das eigene Thema zu bemerken, dass es keine einzige große Erzählung geben könne, sondern dass je nach Standortgebundenheit und Perspektivität unterschiedliche Herangehensweisen und Themensetzungen erforderlich seien. Grundsätzlich gilt: Die Autoren wollen nicht recht haben, entwickeln keine steilen Thesen, sondern ermöglichen behutsam Orientierung über Fakten, aber auch über Deutungsperspektiven. Das ist die Voraussetzung für eigenes vertieftes Weiterarbeiten.

Dieses behutsame Vorgehen setzt sich in den weiteren Kapiteln durch. Immer sind es sektorale Blickrichtungen, die sich in verständlicher Sprache um thematische Zugriffe bemühen. Stets sind darin kurz und bündig Forschungskontroversen und Richtungen eingeschlossen, die benannt, aber nicht immer mit eigenen Meinungen der beiden Bochumer Historiker versehen werden. Schon das nachfolgende Kapitel „Neuordnungen nach dem Krieg“ bündelt Bevölkerungsbewegungen, „Säuberungen“, „Teilung Europas“ und Ende der Kolonialreiche, somit ganz heterogene Merkmale, welche zum Teil ohne jeden Zusammenhang gesehen werden müssen. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs sind damit aber nicht erschöpft: Die mentale und erinnerungspolitische Komponente, die bis in die Gegenwart hineinreicht, hätte hier und insgesamt wohl deutlicher herausgestellt werden können.

Aber es geht zunächst nicht um Kritik, sondern um die Bewunderung über die doch insgesamt erreichte Breite an Perspektiven. Der „Kalte Krieg in Europa“ - das zentrale Thema des Lehrbuchs des Rezensenten, erhält ein Kapitel mit 15 Seiten. Es folgen die beiden Integrationsgeschichten in Ost und West, wirtschaftliche Konjunkturen und Zäsuren, Migrationen aller Art inklusive Asylpolitiken - sie wurden für die Zeit nach dem Krieg bereits benannt. Wirtschaft wird weitgehend aus der Perspektive des Konsums abgehandelt; „veränderte Lebenswelten“ schließt Wertewandel, Jugend und Geschlechterverhältnisse ein - der Gender-Aspekt kommt wohl insgesamt ein wenig zu kurz -, auch Kirche und Religion werden in diesem Zusammenhang behandelt. Es folgt der Wohlfahrtsstaat mit seinen „sozialen Ordnungen“. Das Kapitel „Gewalt, Recht, Sicherheit“ bündelt sehr heterogene Faktoren wie Terror, Menschenrechte, Repression, aber auch „Europas Kriege“, die hier ein wenig fehlplatziert erscheinen. Zivilgesellschaft bildet im Verein mit sozialen Bewegungen eine recht innovative und informative Kategorie, inklusive „1968“. „Energie und Umwelt“ folgt, auch hier ein Abschnitt nicht nur über Entwicklungen, sondern auch über jeweilige nationale Politiken. Spannend ist auch die Transformation von Raum und Zeit, die unter anderem Transport und Mobilität umfasst.

Aus dem Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass sehr viele neue Kategorien benannt und abgehandelt werden, die noch vor einem Jahrzehnt auf europäischer Ebene kaum möglich erschienen. Das ist zum einen einer starken Heranziehung sozialwissenschaftlicher Literatur zu verdanken, die oft wenig historisch ist. Kein Werk scheint mehr benutzt zu sein als das im Jahr 2000 hierzulande übersetzte des schwedischen Soziologen Göran Therborn zu den Gesellschaften Europas, wurde in ihm doch historische Tiefenschärfe erreicht. Es kommt hinzu, dass die Verfasser mit guten Gründen die Auffassung vertreten, sie kämen aus Deutschland, zögen daher auch überwiegend deutsche Literatur heran und nähmen das deutsche Beispiel mit Vorrang in den Blick. Das trifft für etliche Kapitel zu. Im zusammenfassenden, die Eingangsbeobachtungen wiederaufnehmenden letzten inhaltlichen Kapitel konstatieren Goschler und Graf allerdings, dass doch recht viele gemeinsame Entwicklungen in Europa stattgefunden hätten, wenn auch mit einem gewissen Zeitverzug. Es ist vor allem erstaunlich, wie viel vergleichende Informationen über den früheren Ostblock einbezogen werden. So wird der lange vorherrschende, scheinbare Königsweg verlassen, die vier großen westeuropäischen Gesellschaften weitgehend zur Richt- und Berichtsschnur zu machen.

Leichte Kritik lässt sich - wie üblich - an fehlenden Themen benennen. Die Ausführungen über Geschlechterverhältnisse und Sexualität berücksichtigen Gender-Fragen nur selten. Bei dem Aspekt der Religionen kommt der Islam nicht so recht vor. Politische Geschichte ist ganz an den Rand gedrängt, wird aber in einigen Kapiteln gleichsam angehängt. Regierungsformen wie Demokratie oder Diktatur (oder äquivalente Begriffe) scheinen doch größere Bedeutung gehabt zu haben. Der Konflikt um Herrschaft in Europa, etwa verdichtet um Stalins Politik und Absichten oder analog die der westlichen Mächte, wird kaum berücksichtigt - die sich wandelnden Interpretationsmuster des „Kalten Kriegs“ reichen da nicht aus. Die einzelnen Kapitel bündeln oft recht Heterogenes, das sich so kaum unter der allgemeinen Überschrift vermuten lässt.

Jedes Kapitel wird erhellend mit einer Abbildung oder Ähnlichem eingeführt, die dann zum eigentlichen Thema hinführend interpretiert wird. Das gefällt ebenso wie ein Serviceteilund ein Anhang, die gerade Anfängern gute erste, wenn auch sehr knappe Orientierung zu geben vermögen.

Fazit: ein sehr empfehlenswertes Einführungsbuch, dem weite Verbreitung zumal im universitären Unterreicht zu wünschen ist. Ein Buch kann kaum alle Wünsche erfüllen - aber es gibt ja auch Konkurrenz auf dem Markt.

Jost Dülffer, Köln

Fußnoten:


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