ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ann-Katrin Thomm, Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik Deutschland, Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2010, 416 S., brosch., 42,80 €.

Über die innere Begründung und Stabilisierung der westdeutschen Demokratie ist in den letzten rund 15 Jahren vielfach neu nachgedacht worden. Während ältere Darstellungen vor allem die politische Autorität Konrad Adenauers und die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung hervorgehoben, teils aber auch die These einer Restauration und einer „verpassten Chance“ vertreten haben, fragt die jüngere Forschung eher nach den Schattierungen zwischen den sichtbaren Erfolgen und den verschwiegenen Belastungen. Allgemein geht es darum, die verblüffend stabile Einwurzelung demokratischer und freiheitlicher Wertsetzungen in der Bundesrepublik mit den kaum zu ignorierenden Nachwirkungen von Krieg und Diktatur sowie den manifesten Kontinuitätsüberhängen einer ausgeprägten Demokratieskepsis in ein stimmiges Bild zu bringen.

Vor diesem Problemhorizont ist auch die Hamburger Dissertation von Ann-Katrin Thomm angesiedelt. Mit klugem Griff hat sie sich den Übergang der bündischen Jugend in die Bundesrepublik herausgesucht, um daran das Problem der inneren Demokratiebegründung neu und instruktiv auszuleuchten. Denn dass diese einflussreiche Strömung der Jugendbewegung schon in der Weimarer Republik keineswegs demokratisch-liberale Wertsetzungen vertrat, ist bekannt und wird von der Autorin einleitend auch nochmals konzise umrissen. Vielmehr ergaben sich aus den zivilisationsskeptischen, teils romantisierenden, teils kulturkonservativen Vorstellungen der bündischen Jugend schleichende Übergänge zum Nationalsozialismus, auch wenn diese Affinitäten je nach Einzelfall fraglos zu differenzieren sind.

Das nachfolgende Kapitel bietet eine erste Übersicht zum „Freideutschen Kreis Hamburg“, der den empirischen Kern der Untersuchung bildet. Dabei handelte es sich um einen von den beiden Initiatoren Werner Kindt und Erich Lüth Anfang 1947 gegründeten Verband, dem durch seine frühe Entstehung und sein reges Vereinsleben lange Zeit eine Vorreiterfunktion im überregionalen, eher locker organisierten Zusammenschluss der „Freideutschen Kreise“ zukam. Ziel war es, Männer und Frauen aus der Jugendbewegung der Jahre vor 1933 zu versammeln, um unter Anknüpfung an bündische Traditionen zur Bewältigung der „Aufgaben der Gegenwart“ (S. 83) beizutragen, wohl aber auch, um die Erinnerung an die eigene Jugendzeit aufrechtzuerhalten.

Während Thomm zunächst Selbstverständnis, Arbeitsweise und formale Grundlagen des Freideutschen Kreises Hamburg rekonstruiert, bietet sie, aufbauend auf einem Sample von 370 Personen, in einem weiteren Schritt auch ein detailliertes Mitgliederprofil. Demnach war die soziale, politische und berufliche Zusammensetzung, verallgemeinernd gesprochen, eher bürgerlich und konservativ. Lehrer, Kaufleute, Ingenieure und höhere Verwaltungsbeamte waren leicht überproportional vertreten, vergleichsweise deutlich dominierten die Geburtsjahrgänge um die Jahrhundertwende. Zwar ließen sich nicht überall hinreichende Detailangaben zusammentragen, doch anhand der vorliegenden und von Thomm ausgewerteten Datensätze lässt sich gleichwohl der eindeutige Schluss ziehen, dass der Kreis einen überdurchschnittlich hohen Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder aufzuweisen hatte. Dieser Befund überrascht mit Blick auf das Generationen- und Sozialprofil indes ebenso wenig wie die Tatsache, dass dieser Personenkreis nach 1945 kaum mit ernsthaften Schwierigkeiten bei der Fortsetzung der beruflichen und gesellschaftlichen Karrieren rechnen musste (S. 153).

Thomm tut freilich gut daran, es nicht bei dieser empirischen Erhebung bewenden zu lassen, sondern ihre Ergebnisse zugleich mit der inhaltlichen Arbeit des Freideutschen Kreises Hamburg von den frühen 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre in Beziehung zu setzen. Hier zeigt sich rasch, dass es vor allem zwei Motive waren, welche in den internen Kommunikations- und Vergemeinschaftungsbeziehungen eine wichtige Rolle spielten. Einerseits ging es um einen spezifisch jugendbewegten, konservativ grundierten Blick auf die westdeutsche Demokratie, die schon früh als „unvermeidliches Schicksal“ (S. 114f.) akzeptiert wurde. Anhand vor allem der bildungs- und deutschlandpolitischen Ideen kann Thomm zeigen, mit welchen Vorbehalten und mit welcher inneren Distanz sich die Freideutschen in der Bundesrepublik einrichteten.

Auf der anderen Seite gewann die geschichtspolitische Deutung der bündischen Vergangenheit ein immer größeres Gewicht. Nicht nur kreisten zahlreiche Vortragsabende, Initiativen oder interne Publikationen um die Geschichte der Jugendbewegung vor 1933. Ein aktives Vergangenheitsmanagement wurde seit den späten 1950er Jahren vor allem deshalb als immer dringlicher empfunden, weil sich in der westdeutschen Öffentlichkeit erste kritische Stimmen zur bündischen Anpassungsbereitschaft an den Nationalsozialismus vernehmen ließen. Wohl war damit nur in den seltensten Fällen eine umfassende Kritik an den bündischen Sozialformen und Weltsichten verbunden, aber schon vereinzelte Wortmeldungen sorgten innerhalb der überschaubaren Szenerie der Freideutschen Kreise für großes Aufsehen und Unruhe.

Mit der Kritik von Harry Pross, Karl Otto Paetel und Helmut Gollwitzer stellt Thomm drei Kontroversen vor, die zwar in unterschiedlichen politisch-inhaltlichen und auch generationellen Zusammenhängen eingebunden waren, jeweils aber die verschwommene Vergangenheitswahrnehmung der Freideutschen auf schmerzhafte Weise irritierten. Es ist darum nur folgerichtig, wenn Werner Kindt als dominanter Führungsfigur - sein Nachlass im Archiv der deutschen Jugendbewegung bildet eine Hauptstütze der Studie - mit dem Publikationsprojekt „Dokumentation der deutschen Jugendbewegung“ seit den 1960er Jahren die eigene bündische Lesart festzuschreiben beabsichtigte. Vorgeschichte und Zielsetzungen der mehrbändigen Veröffentlichung werden von Thomm in ihrem letzten Kapitel umfassend dargestellt, und es wird dabei eindrucksvoll deutlich, wie sich Kindt zwischen seiner harmonisierenden Intention und seinem wissenschaftlichen Anspruch immer mehr verhedderte. Entsprechend gemischt fiel die Rezeption in den 1970er Jahren aus. Wenngleich der Wert der Veröffentlichung als Zusammenstellung verschiedener Quellen durchaus gewürdigt wurde, sahen nicht wenige Betrachter zuerst und zu Recht den Impuls einer apologetischen Selbstdarstellung.

Dafür, dass die Geschichtsschreibung zur deutschen Jugendbewegung inzwischen nicht mehr von einstigen Angehörigen und Sympathisanten bestimmt wird, stellt die Studie von Ann-Katrin Thomm ein gelungenes Zeugnis dar. Bedeutsamer ist aber noch, dass die Untersuchung einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der vielfältigen Wege von der NS-Diktatur in die Bundesrepublik leistet und insbesondere das ausgedehnte Feld zwischen konservativ-bürgerlichen, jugendbewegt-avantgardistischen und rechtsintellektuellen Positionen weiter aufhellt. Gerade weil hier kaum je gerade Pfade in die Demokratie beschritten, sondern eher verschlungene Umwege eingeschlagen wurden, lassen sich in diesem Bereich weiterführende Einsichten in die komplexen Prozesse der westdeutschen Demokratisierung und Liberalisierung gewinnen. Es ist dieser wichtigen Studie ein Publikum über den engeren Spezialistenkreis hinaus zu wünschen.

Marcus M. Payk, Berlin


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 22. Dezember 2010